Die Filiale des Moskauer Museums für zeitgenössische Kunst an der Jermolajew-Gasse zeigt noch bis zum 14. März eine Retrospektive von Leonid Tischkow, eines der interessantesten russischen Gegenwartskünstler. Tischkow, ein diplomierter Arzt, der sich in allen Medien zu Hause fühlt, versetzt mit seinen Zeichnungen, Textilobjekten, Skulpturen und Videos der letzten zwanzig Jahre in eine Zauberwelt des Organischen, die von der Armutspoesie und dem unheimlichen Humor lebt, die er aus seinem Heimatort im Uralgebiet mitgebracht hat. Der ländliche Brauch, alte Kleidung in Streifen zu reißen und daraus runde Vorleger zu häkeln, vergegenwärtigt für Tischkow die Kontinuität des Lebens und mütterliche Fürsorge und inspirierte ihn zu seinem wollenen „Baby“, das an einer Polsternabelschnur aus einem traditionellen Streifendeckchen wächst wie aus einer Plazenta. Der Inbegriff von Geborgenheit in liebevoll weiterverarbeitetem Gewebe ist das Ganzkörperfutteral „Strickling“ (Wjasanik), das Tischkows Mutter für ihn anfertigte. In einer fotografisch dokumentierten Aktion erhebt sich der völlig verhüllte Künstler wie ein gesichtsloses Riesenchromosom über Moskaus urbane Tristesse.
Um den Menschen als seine Umwelt verarbeitendes Röhrensystem zu veranschaulichen, erfand Tischkow „Stomach“-Figuren: Bilder des Verdauungstrakts mit gerolltem Gedärm und Leber und Galle als blütenblattgleichem Anhang, die aufrecht, aber ohne Schutz und Stütze, pflanzenhaft durchs Leben schwanken. Für Tischkow, der einen „betrübten“ Magen porträtierte, hat jedes Organ Persönlichkeit. Beim Blick in Herz, Milz oder Lunge offenbaren sich dem Zeichner dort vollwertige Innenwelten mit Sternenfirmament oder romantischer Seelandschaft. Tischkows Genesis zufolge, die er als Trickfilm und in Comics erzählt, leitet sich alles menschliche Leben vom „Dablus“ her, einem androgynen Gurkenwesen, dessen phallische Gestalt in zwei Brustwarzen ausläuft. Unseren Vorfahren, so Tischkow, kam dieser Erzeuger zu gemüseartig vor, weshalb sie sich gegen ihn empörten. Dem Dablus blieb nichts übrig als lauter „Dabloide“ auszustreuen, vom Künstler als ständig ihre Gestalt ändernde Kopffüßler dargestellt, die jedem Einzelnen einen eigenen Lebensweg, Überzeugungen und Vorurteile schenken, ihn aber auch fanatisch und manipulierbar machen. Ein Glück, dass Doktor Tischkows Künstlerauge die Dabloide in seinen Schwarzweiß-Bildergeschichten signalrot markiert und ihre dämonischen Streiche sichtbar und somit ungefährlich macht.
Schwieriger ist es mit dem von einem technologischen Futteral eingehüllten modernen Menschen, der bei Tischkow als vierjähriges Kind im Tiefseetaucheranzug auftritt. Die bronzenen „Taucher“ (Wodolasy) leuchten mit leeren Scheinwerfergesichtern die Welt aus, mit der ihre unentwickelten Gestalten gar nicht in Kontakt kommen. Ein Videofilm, der in einer Nische läuft, verrät, dass auch die Taucher einst mit ihren Kugelköpfen wie Gurken auf der Erde lagen, bevor ihnen das Sehfenster herausgeschnitten wurde und sie aufrecht gehen lernten. Welche Heldentaten sie seither vollbrachten, zeigen die Zeichnungen an der Wand. Sie verbreiten Anarchie, suchen Leithammel und graben, sollten sie im Boden das Herz der Erde finden, es aus, um es wie eine Beute wegzuschleppen.