Im Moskauer Kulturzentrum „Garage“ ist noch bis zum 23. Mai eine Ausstellung russischer Gegenwartskunst zu sehen, die die Zukunftsvisionen der Avantgarde im aktuellen Multimediaidiom neu formuliert. Die Heroen der physischen Arbeit, die die entwickelte Gesellschaft auf ihren Schultern tragen, treten als Kolossalporträts sibirischer Kumpel von Ilja Gaponow und Kyrill Koteschow auf. Allerdings ist das Fries, das diese Atlas-Figuren als „Nullmenschen“ vorstellt, symbolischerweise mit schmierigen Erdölprodukten gemalt. Soziale Siegesgewissheit verkörpern dafür die Schönheitsköniginnen auf Dina Matschulinas Gemäldeserie „Schönheit und Kraft“, deren Raubtierlächeln freilich nichts Gutes verheißt. Wie gefährlich unwiderstehlich sie sind, veranschaulichen ihre Goldschärpen, auf denen schon etliche Fliegen kleben, mit denen der Betrachter sich unwillkürlich identifiziert. Doch die beherrschende Vision, die umspielt und ausgeschmückt wird wie ein kanonisches Ikonensujet, ist der sozialistische Turmbau. In der Eingangshalle hat der Landart-Meister Nikolai Polisski als erdnahe Hommage an Tatlins Turm der Dritten Internationale einen Heuhaufen aufgeschichtet, der sich in vielen flachen Serpentinen empor windet.
Den Kontrapunkt dazu setzt Andrej Molodkins neu-suprematistisches „Architekton“, das mit dunklen und leuchtenden Röhren Russlands Energiewirtschaft verherrlicht. Die geometrischen Bauformen sind, wie Pfeifen einer Orgel, gebändigt zur Pfeilerwand, auf welche die Silhouette eines Stalinhochhauses, das Logo des Obrigkeitsstaates, ihren Schatten wirft.
Der Besucher der Schau gerät in den Traum einer Kultur von ihrer eigenen Kindheit. Kindliche Grausamkeiten sind ein Teil davon. Die Videokünstlerin Olga Tschernyschowa, die melancholische Schwarzweißfotos mit nachdenklichen Texten unterlegt, berichtet von einer Brieftaube, die, nachdem böse Knaben ihr die Flügel festklebten, siebzig Meilen „zu Fuß“ nach Hause wanderte. Die Geschichte des Vogels klingt auch wie die von der Kunst, die nicht mehr fliegen kann. Sie kämpft dafür mit der Welt wie die einander prügelnden Sportfans auf Sergej Bratkows sechs Meter breitem Panoramadruck „Slogan“. Die darüber gelegte Neoninschrift: „Es lebe das heutige Schlechte, damit morgen das Gute eintritt!“ tut so, als könne die Zukunft dann nur besser werden. Die für ihre elektronischen Leuchtskulpturen geschätzten Medienkünstler Aristarch Tschernyschow und Alexej Tschulgin steuerten die Attrappe eines gewaltig vergrößerten und gelängten iPhone bei, das sich, wie Tatlins Turm, dem Himmel mit seinen unendlichen Botschaften entgegenschraubt. Das sauber verarbeitete Objekt namens „Elektroboutique“, das mit seinen funktionslos dekorativen Icons jeden Salon verschönert, empfiehlt sich als volkstümliches Kunsthandwerk des postindustriellen Zeitalters.