Bei den 45. Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, die die kleine hessische Stadt mit der großen stilprägenden Kraft für zwei Wochen in ein Campus für arrivierte und angehende Klanginnovatoren verwandelte, setzten diesmal die Moskauer Komponisten Wladimir Tarnopolski, Nikolai Khrust (auf dem Foto links und rechts), etliche ihrer Kollegen sowie das von Tarnopolski geleitete „Studio for New Music“ als Ensemble-in-residence einen russischen Akzent. Das russische Ensemble beging seinen ersten Besuch in Darmstadt mit einem Konzert sowie mehreren Elektronik-Abenden und öffentlichen Proben. Die Werke, die von den zwei genannten aufgeführt wurden, Tarnopolskis Stück „Tschewengur“ (2001) für Ensemble, Stimme und Elektronik, das die Prosadichtung von Andrej Platonow musikalisch umsetzt, und Khrusts „Eugenica“ für Ensemble und Elektronik (2009), bekannten sich bei aller technischen Raffinesse zu einem klangsinnlichen Weltbezug, der hier eher als Ausnahme erscheint, aber vielleicht deswegen auch belebend wirkt. Jedenfalls hatte die österreichische Flötistin Eva Furrer (zwischen beiden) schon im Frühjahr die zwei Russen gebeten, je ein Melodieübungsstück für ihre Studenten zu verfassen, das diese jetzt in Darmstadt in einem Interpretationsworkshop im Rahmen des vom neuen Festivalleiter Thomas Schäfer eingerichteten freien Forums „Open Space“ vortrugen. Der Einfall zu dem Experiment sei ihr gekommen, bekannte die nachdenkliche Virtuosin Furrer, als sie bei einem Seminar in Graz erklärt hatte, sie fahnde außer nach neuen technischen Verfahren auch nach musikalischen Ideen und Fantasien. Damals hätten nur die ebenfalls dort anwesenden Russen, die jetzt auch nach Darmstadt kamen, dieses Interesse mit ihr geteilt.
Die vier Studenten, die die Stücke vortrugen, hatten mit den Komponisten vorher nicht in Kontakt treten dürfen. Khrusts Etüde, die er „Unanswered Flashes“ nannte, beschreibt eine die gesamte Tonhöhen- und Artikulationspalette des Instruments mitsamt Überblasungen und Obertönen ausmessende, weit schwingende Linie. Eine deutsche Musikerin intonierte sie herb fakturiert, eine Taiwanerin leicht und flüssig, ein Italiener anmutig spannungsvoll. Eva Furrer hatte damit gerechnet, dass sich die Nationalität der Interpreten, ihre Kultur, ihr Sprachgefühl in ihrem Spiel niederschlagen würden. Doch dass sich die Vortragsweisen der drei, seit ihrem ersten Vorspiel, wo gleichsam Welten zwischen ihnen lagen, merkwürdig angeglichen hatten, wie unter dem Druck einer Konvention, erstaunte sie. Noch deutlicher schlug das bei der Darbietung von Tarnopolskis Arbeit „Für Isolde“ durch, bei der zart an- und abschwellende Koloraturen sich in Flageoletttönen verlieren oder geräuschhaft ausfransen – als „superdekadente“ Hommage an Wagner, der, so der Russe, zum letzten Mal dem Leben habe Melodien abringen können. Auf die Frage, was denn die Komponisten gewollt hätten, sagte Tarnopolski, für ihn sei die Atembewegung zentral, die der Musik ihre organische Form verleihe. Khrust möchte, dass sein Interpret jede Klangnuance auskoste und sich dann zur nächsten tragen lasse. Eva Furrer will ihr Experiment fortsetzen, und die Moskauer planen schon neue Kompositionen für die internationale Musikerausbildung.
Mark Andre, der evangelische Mystiker aus Straßburg, bei dem sich die Geräuschdelikatesse seines Lehrers Lachenmann mit französischem Raumsinn überkreuzt, erklärte unterdessen seinen Darmstädter Studenten, wie auch musikalische Phänomene von der Perspektive bestimmt werden. Als Beispiel für eine „mikroskopische“ Sichtweise diente Andre Wagners „Ring“, bei dem die Elemente zu riesigen Chro mosomenschleifen vergrößert scheinen. Das Gegenteil, den Blick von weit oben, diagnostiziert Andre dem Meister der komprimierten Form, Anton Webern, den „my dear teacher“, wie er Lachenmann stets apostrophiert, einen Mahler aus der Vogelperspektive genannt habe – als habe eine Art ontologische Weitsichtigkeit diesem Komponisten Detailfülle versagt und ihn zur Reduktion auf das unbedingt Notwendige gezwungen. Mark Andre sprach auch über ein Lieblingsthema, das Eröffnen neuer Räume. Das habe Beethoven wie kein zweiter gekonnt, beispielsweise mit seinem Eingangsmotiv der fünften Symphonie, das eine metrisch und harmonisch offene Situation erzeuge. Ein Webern hätte nach den vier Noten eventuell das Stück abgeschlossen, sagte der Wahlberliner. Doch glücklicherweise betrachtete Beethoven die Welt nicht von oben, so Andre. Er sei ein echter Erdenbewohner gewesen, der in die Höhle, die er entdeckte, natürlich auch hineinging.