Im Internet geschieht – wieder einmal – ein Quantensprung: Aus einem eher statischen Netz mit großen Anlaufstellen wie Google oder Yahoo entwickelt sich jetzt das Echtzeitinternet, gekennzeichnet von einem stetigen Informationsfluss, der Nachrichten oder Statusmeldungen der Nutzer dezentral im Internet verteilt. Angetrieben wird das Echtzeitinternet vorwiegend von den mehr als 200 Millionen Internetnutzern auf Seiten wie Facebook, Twitter oder Friendfeed, die Informationen in Sekundenschnelle verbreiten. So schnell, dass sogar Google nicht mehr mitkommt. Denn dessen Algorithmus ist bisher nicht aktuell genug, um die Informationen im Echtzeitinternet auch in Echtzeit zu finden.
Deutlich wird der aktuelle Sprung in der „Timeline” auf Twitter, in der die Statusmeldungen der Twitterer chronologisch sortiert durchlaufen. Neue Techniken wie Adobe Air lassen die Informationen heute automatisch über den Bildschirm der Nutzer fließen – manuelle Aktualisierungen der Internetseiten sind nicht mehr nötig, was das Tempo der Informationsverbreitung stark erhöht. Erste Nutznießer dieser Art der Informationsverteilung sind Blogs, deren Inhalte schon bevorzugt auf diese Art verteilt werden oder auf die sich die Internetnutzer gegenseitig aufmerksam machen. Inzwischen verbreiten auch viele traditionelle Medien oder Journalisten ihre Geschichten mit Hilfe dieser Nachrichtenströme. Das Marktforschungsunternehmen Hitwise hat in einer ersten Untersuchung dieser Art für Großbritannien gemessen, dass rund 10 Prozent der Links, die per Twitter verbreitet werden, auf Nachrichtenseiten weisen. Der Twitter-Anteil ist allerdings in Europa noch gering; das soziale Netzwerk Facebook spielt als Verteilzentrum für Nachrichten schon eine weit größere Rolle.
Zeitgleich zur wachsenden Bedeutung von Facebook oder Twitter haben große Aggregatoren wie Google News und Digg.com in Großbritannien als Verteiler der Nutzerströme zu den Nachrichtenseiten an Gewicht verloren. Das ist kein Zufall. Die Zeit der großen Nachrichtenseiten im Netz geht zu Ende, glaubt der amerikanische Journalismusprofessor Jeff Jarvis. „Medienmarken sind weniger eine Destination oder ein Magnet, um Menschen anzuziehen, denn eine Marke, die überall zu finden ist. Je mehr Stellen, an denen eine Marke und ihre Inhalte präsent sind, desto besser”, urteilt Jarvis in seinem Blog „Buzzmachine“.
Jüngstes Beispiel, wie auch die traditionellen Medien ihre Informationsverbreitung anpassen, ist der „Times Wire” der „New York Times”. Dort werden die Links aller Nachrichten der Internetseite und der Blogs der „New York Times” in chronologischer Reihenfolge angezeigt. In der rechten Spalte werden die passenden Fotos gezeigt. „Nun können Leser die jüngsten Nachrichten sofort sehen und sich eine persönliche Sicht auf die Nachrichten einrichten”, sagt Denise Warren, Vizepräsidentin der NYTimes.com. Allerdings sagen Kritiker, dass die „Times” allein zu wenige Nachrichten produziert, um wirklich für Bewegung auf der Seite zu sorgen. Richtig Sinn macht der „Times Wire” wohl erst, wenn die Nutzer die Nachrichten der „New York Times” mit anderen Quellen zusammenmischen können, um sich ihre persönliche Nachrichtenseite zusammenstellen zu können.
Die von Menschen verteilten Nachrichten sind aber nur ein Teil des Informationsstromes im Internet. Der andere Part besteht aus automatisch generierten Nachrichtenströmen, die dank moderner Technik auf jede Internetseite verteilt werden können. Vorreiter sind die „New York Times” und der britische „Guardian“, die ihre Inhalte der Internetseite und des Archivs mit Hilfe einer Programmierschnittstelle (API) anderen Internetseiten automatisiert zur Verfügung stellen. Die Seiten können sich mit den Zeitungsseiten verbinden und vorab definierte Inhalte von der Internetseite oder aus dem Archiv direkt auf ihren Seiten anzeigen. Auf diese Weise bekommen die Inhalte die größtmögliche Reichweite im Netz. „APIs sind die neue Art der Distribution im Netz”, sagt Jarvis.
„Guardian”-Partner müssen als Bedingung dem „Guardian”-Werbenetzwerk beitreten, damit auch die Online-Werbung von dem Reichweitenzuwachs der Inhalte profitiert. Die „New York Times” verhandelt offenbar mit Google über ein anderes Geschäftsmodell: Auf allen Seiten, auf denen Inhalte der „New York Times” eingebunden sind und Google über sein Werbeprogramm Adsense vertreten ist, könnte eine Erlösteilung Vorteile für beide Unternehmen bringen. Diskutiert wird auch das Modell, die Inhalte, die per API verteilt werden, direkt mit Google-Werbung anzureichern, schreibt das amerikanische Tech-Blog Silicon Alley Insider.
Der technische Fortschritt eröffnet vielen Inhalteanbietern zudem die Möglichkeit, Inhalte dynamisch zu verteilen und damit aktuell zu halten. Vorreiter ist wieder die „New York Times”, deren „Times Reader 2.0″ nach Ansicht vieler Beobachter das Zeug hat, den Standard für das Zeitunglesen am Bildschirm zu stellen. Der „Times Reader” ist eine eigene Desktop-Anwendung, die ebenfalls auf Adobe Air aufsetzt. Auf den ersten Blick wirkt der „Times Reader” wie eine elektronische Zeitungsdarstellung, in der Nutzer sehr bequem lesen und blättern können. Erst auf den zweiten Blick wird der Quantensprung gegenüber einem herkömmlichen statischen „E-Paper” einer Zeitung deutlich: Die Inhalte werden dynamisch verteilt und können damit stets aktualisiert werden. Aktuelle Nachrichten werden nachgeladen; auch Bilder oder Videos können im „Times Reader” angeschaut werden. „Schon nach wenigen Minuten des Herumspielens wird klar, dass Nutzer künftig einen großen Teil der Zeit, in der sie Nachrichten am Bildschirm lesen, in Anwendungen dieser Art verbringen werden”, urteilt Ryan Singel vom amerikanischen Branchendienst „Wired“. „Offensichtlich liegt die Zukunft des Lesens der Online-Nachrichten nicht im Browser. Kein Browser kann mit Adobe Air in puncto Schönheit der Textdarstellung, Anpassung der Darstellungsgröße und dem Umgang mit Multimediaelementen mithalten”, schreibt Singel. Auch Bezahlmodelle für Inhalte sind möglich.Vorteil für die Zeitungen: Sie können das Aussehen der Anwendungen nach ihren Wünschen gestalten, pflegen damit ihre Marke in der digitalen Welt und bleiben – anders als in einem Browser – immer auf dem Bildschirm des Nutzers präsent. „Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass sich die Nutzer diese Anwendungen für jede Zeitung auf ihren Rechner laden. Aber die Anwendung der Lokalzeitung und der nationalen Flaggschiffe wie ,New York Times‘, ,Washington Post‘ oder ,Wall Street Journal‘ ist durchaus vorstellbar”, schreibt Singel. Der Weg von einer solchen Anwendung für stationäre Internetrechner auf Mobiltelefone ist dann nicht mehr weit.
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