
Es fängt mit einem schwarzen Bildschirm an. Aus dem Off meldet sich eine sonore und freundliche Stimme und verkündet, worum es in der Videolektion geht. Das Spektrum reicht von Algebra über Astronomie bis zu Makroökonomie. Der Bildschirm füllt sich mit in Farbe gekritzelten Formeln, Zeichnungen und Erklärungen. Ob Quadratwurzeln, Hypotenusen oder Exponentialfunktionen: Begriffe, die manchen mit Schaudern an langweilige Schulstunden denken lassen, werden mit Leidenschaft in der Stimme vorgetragen. Wem das trotzdem zu theoretisch ist, der kann Lehrvideos über die Schuldenkrise in Griechenland ansehen oder sich die komplexen Hypothekenanleihen erklären lassen, die im Zentrum der Finanzkrise vor wenigen Jahren standen. Oder aber eine Diskussion darüber verfolgen, worin der künstlerische Wert der berühmten Campbell-Suppendosen von Andy Warhol liegt.
Der unsichtbare Star, dem die Stimme in den meisten Videos gehört, ist der 36 Jahre alte Salman Khan. Für Microsoft-Mitgründer Bill Gates verkörpert er ein Zukunftsmodell des Lernens. Khan hat eine Online-Bibliothek mit mehreren tausend Videos aufgebaut, die auf Youtube oder seiner Internetseite kostenlos abgerufen werden können, inklusive damit verbundener Tests. Er nennt sein Projekt die „Khan Academy“, und um die sechs Millionen Nutzer im Monat sehen sich die Videos an. Die Grundidee, einen Wissensfundus gratis online verfügbar zu machen, hat Züge von Wikipedia. Aber die Khan Academy will mehr sein als ein Nachschlagewerk. Sie will ein Baustein in der Aus- und Weiterbildung von Menschen auf der ganzen Welt werden und bestehende Schulsysteme aufmischen. Pilotprojekte in amerikanischen Schulen gibt es schon.
Skurril dabei ist: In seine Karriere als Youtube-Professor ist Khan ohne pädagogische Ausbildung oder Erfahrung hineingestolpert. Das macht ihn angreifbar für Kritiker, zumal er gar nicht verheimlicht, wie improvisiert seine Produktionen sind. Der Zeitschrift „Time“ hat er erzählt: „Die Hälfte der Zeit weiß ich vorher selbst nicht, was ich sagen werde.“ Ein paar amerikanische Professoren machten sich einmal einen Spaß daraus, selbst ein Video zu drehen und dabei auf Fehler in einer Khan-Lektion hinzuweisen.
Das lässt Khans Anhänger und seinen erlesenen Kreis von Förderern kalt. Bill Gates sagte einmal, es sei ein guter Tag für die Welt gewesen, als Khan von seiner Frau die Erlaubnis bekam, seinen vormaligen Job bei einem Hedge-Fonds hinzuwerfen. An jenem Tag habe das Bildungswesen 160 IQ-Punkte hinzugewonnen. Die Stiftung von Gates und seiner Frau Melinda hat einen Millionenbetrag in die Khan Academy gesteckt, ebenso wie der Internetkonzern Google, dessen Verwaltungsratschef Eric Schmidt sagt, er frische mit den Videos gerne seine Mathematik-Kenntnisse auf. Zu den neuesten Gönnern gehört der Mexikaner Carlos Slim Helú, laut „Forbes“-Liste reichster Mensch der Welt.
Khan hat nicht nur einflussreiche Geldgeber angelockt, sondern auch Nachahmer. Er gilt als Wegbereiter für einen der großen Ausbildungstrends von heute, den „Massive open online courses“ oder MOOCs, also Kursen und Vorlesungen, die für einen riesigen Teilnehmerkreis gratis im Netz zugänglich sind. Im vergangenen Jahr entstand in Amerika eine ganze Reihe solcher MOOC-Spezialisten mit Namen wie Udacity, Coursera oder EdX. Die Organisationen sind teils gemeinnützig und teils gewinnorientiert. Manche sind Initiativen von Universitäten und bieten existierende Vorlesungen in aufbereiteter Form an, andere setzen auf eigenes Material. Der aus Deutschland kommende Udacity-Mitgründer Sebastian Thrun hat gesagt, Khan sei Inspiration für sein Unternehmen gewesen. Schwerpunkt und Udacity und anderen MOOC-Anbietern sind Vorlesungen auf Universitätsniveau, während Khan vor allem auf Schulinhalte abzielt.
Seinen Weg zum virtuellen Dozenten schlug Khan zwar ohne Pädagogik-Hintergrund ein, aber mit einer beeindruckenden Hochschulausbildung. Der in New Orleans geborene Sohn einer indischen Mutter und eines Vaters aus Bangladesch hat es zu vier Universitätsabschlüssen gebracht, von Mathematik über Elektrotechnik und Computerwissenschaften bis zu Wirtschaft. Alle Titel sind von renommierten Adressen wie Harvard und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT). Nach dem Studium nahm er einen gut bezahlten Job als Analyst bei einem Hedge-Fonds in Boston an.
Die Initialzündung für seinen Karrierewechsel kam aus der eigenen Familie. Es war 2004, als sich Khans Familie zu seiner Hochzeit versammelte. Khan bekam mit, dass seine 12 Jahre alte Cousine Nadia Schwierigkeiten in Mathe hatte. Er bot Nachhilfe an, musste dies aber per Telefon und Internet tun, weil er zu der Zeit in Boston lebte und sie in New Orleans. Nadia bestand die nächste Prüfung mit links, und nun wollten auch andere Familienmitglieder Unterstützung. Es wurde schwierig, den Unterricht für mehrere Personen zu koordinieren, also kam die Idee, Lektionen aufzuzeichnen und auf Youtube zu stellen. Das erlaubte den Nachhilfeschülern, sich die Videos anzusehen, wann immer und so oft es ihnen passte. Khan stellte bald erstaunt fest, dass sich nicht nur seine jungen Verwandten für die Videos interessierten. Die Lektionen fanden ein immer größeres Publikum, Nutzer hinterließen Kommentare wie „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich bei einer Ableitung gelächelt.“ Das spornte Khan an, immer neue Videos zu drehen. Ein Mini-Zimmer in seinem Haus diente als Produktionsstudio.
2008 machte Khan aus seinem Projekt eine aus Spenden finanzierte gemeinnützige Organisation, im Jahr danach wagte er den Sprung ins kalte Wasser und gab seinen Hedge-Fonds-Job auf. Der Zeitpunkt war nicht gerade günstig: Khan und seine Frau hatten gerade ihren ersten Sohn bekommen, und ohne das geregelte Einkommen musste die Jungfamilie ans Ersparte heran. Spenden an die Khan Academy flossen erst nur in kleinen Beträgen. Die Wende kam 2010, als Khan eine prominente Gönnerin fand: Ann Doerr, die Frau des im Silicon Valley legendären Wagniskapitalgebers John Doerr, stellte Khan einen Scheck über 100000 Dollar aus. Danach kam der Stein ins Rollen, und es folgten Millionenbeträge von der Gates-Stiftung und Google. Khan konnte sich nun ein Gehalt zahlen, Büros anmieten und die Organisation ausbauen. Heute hat die Khan Academy knapp 40 Mitarbeiter.
Khan meint, das Bildungswesen sei reif für eine Revolution durch das Internet, ebenso wie sie die Medienindustrie und andere Branchen erlebt haben. Er will Technologie nutzen, um den Unterricht persönlicher zu machen, auch wenn das widersprüchlich klingen mag. Das heutige System ist ihm zu standardisiert und passiv. Khan will weg vom traditionellen Modell, bei dem Lehrer ihren Schülern per Monolog Inhalte eintrichtern, die dann in Hausaufgaben geübt werden. Er propagiert, den Spieß umzudrehen: Schüler sollen sich in ihrem eigenen Tempo Wissen zuhause aneignen, etwa indem sie Khan-Videos ansehen. Die Zeit mit dem Lehrer ist für Diskussionen und persönliche Betreuung da. Die Khan Academy liefert dazu neben den Lehrvideos und Tests auch Instrumente für die Lehrer, mit denen die Fortschritte jedes Schülers online verfolgt werden können. Khan versichert, sein Material sei keine Bedrohung für Lehrer und solle sie nicht ersetzen, vielmehr mache es ihre Aufgabe anspruchsvoller.
In einem kürzlich auch in Deutschland erschienenen Buch hat Khan seine Idealvorstellung von der Schule der Zukunft noch mit anderen und teils radikalen Ideen beschrieben. Wenn es nach ihm ginge, würden traditionelle Benotungen mit Zahlen oder Buchstaben abgeschafft und mit qualitativen Bewertungen ersetzt. Klassen würden künftig aus Schülern verschiedener Altersgruppen bestehen, wobei die Älteren den Jüngeren helfen. In Khans Wunschschule gäbe es außerdem keine Sommerferien, vielmehr nähmen die Schüler je nach Bedarf Urlaub. Wenn jeder Schüler sein eigenes Lerntempo bestimmt, bräuchte es schließlich keinen starren Lehrplan.
Die Khan Academy sagt, der Einsatz ihrer Methoden in den Pilotschulen habe erste ermutigende Ergebnisse geliefert, etwa in Form eines besseren Leistungsniveaus in Mathematik. Eine gerade laufende Studie des Forschungsinstituts SRI an den Testschulen soll mehr Aufschluss über den Khan-Effekt bringen. Die Khan Academy arbeitet derzeit mit gut zwei Dutzend Schulen vor allem in Kalifornien zusammen. Neben diesen offiziellen Partnern wird das Khan-Material aber nach Angaben der Organisation noch von Tausenden Klassen auf der ganzen Welt genutzt.
Khan hat den Ehrgeiz, einen festen Platz im Bildungssystem zu erobern, aber er weiß, dass es für ihn ebenso wie für die neuen MOOC-Anbieter viele ungelöste Fragen gibt. Ein Knackpunkt sind Leistungsnachweise, die auch anerkannt werden. Bislang bringen die Khan-Tests virtuelle Trophäen, die aber eher als spielerisches Element fungieren und nicht als Zeugnisse. Khan will zudem Wege finden, seine rasant wachsende Organisation auch jenseits von Spenden zu finanzieren. Er denkt an die Lizenzierung seiner Inhalte. Von seinem wissbegierigen Publikum selbst will er jedenfalls weiterhin kein Geld verlangen. Schließlich heißt es die Khan Academy zu ihrer offiziellen Mission erklärt, „eine kostenlose Weltklasse-Ausbildung für jeden und überall zu bieten.“
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als selbstverständlicher, kostenloser, möglicher Weg für jeden. Das Beste, was ich bis jetzt vom “Internetnutzen”, erfahre. Besser geht’s nicht, meine Empfehlung.
Ja oder Nein?
Für wen ist der Artikel geschrieben? Und warum?
Leute, die sich für Mathematik interessieren, wenden sich ab, weil schon in der Einleitung die Mathematik in der üblichen Art runtergemacht wird mit Begriffen wie “gekritzelte Formeln” und Erinnerungen an “langweilige Schulstunden”.
Leute, die sich nicht für Mathematik interessieren, wenden sich ab, weil sie die gleiche Einstellung haben wie Herr Lindner, dass nämlich mathematischen Dinge langweilig sind – und nicht ins Netz gehören?
Was möchte der Journalist? Nur nicht-mathematische online-Vorlesungen?
Schade.