Netzwirtschaft

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Die Digitalisierung erfasst immer mehr Lebensbereiche. Wie sie sich auf Menschen und Märkte auswirkt, beleuchtet das Netzwirtschaft-Blog auf FAZ.NET.

Tinder: Online-Dating im Turbogang

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Es ist noch gar nicht so lange her, dass Brian Bittner kaum die Finger von seinem Smartphone lassen konnte. Fast jede freie Minute ging dafür drauf, das schier endlose Angebot an Frauen zu durchforsten, das dem 31 Jahre alten New Yorker Banker von der Dating-Anwendung Tinder serviert wurde. Keine Mittagspause verging mehr ohne Suche, Toilettenbesuche dauerten auf einmal doppelt so lange. Und wenn es in den New Yorker U-Bahnen durchgängigen Handy-Empfang gäbe, dann hätte er auch das tägliche Pendeln mit „Tindern“ verbracht. Denn man weiß nie, der nächste Blick auf die App könnte eine Traumpartnerin liefern. Ob nun für eine Nacht oder auch fürs Leben. Auch Frauen sind in den Bann gezogen. Die 26 Jahre alte Diana Tracy ertappte sich immer wieder dabei wie sie das Programm aufrief, wenn sie auf der Straße unterwegs war. Oder nachts im Bett. „Das ist wie Unterhaltungsprogramm im Fernsehen.“

Willkommen im Zeitalter von Tinder, der App zum Anbandeln, die das milliardenschwere Geschäft mit der Partnersuche aufmischt. Tinder ist Online-Dating im Turbogang. Herkömmliche Partnerbörsen mit ihren ausführlichen Profilen sehen daneben geradezu spießig aus. Es reduziert die Informationen auf die Äußerlichkeiten und pfeift auf langatmige Personenbeschreibungen. Die App ist so schlicht gestrickt, dass sie ihre Nutzer ermutigt, in Sekundenbruchteilen Urteile zu fällen. Schnell sollen sie aussortieren, welcher Kandidat nicht in Frage kommt.

Das passt perfekt in eine hektische Stadt wie New York. Aber die App, die es inzwischen seit mehr als zwei Jahren gibt, hat sich von Amerika aus mittlerweile auf der ganzen Welt verbreitet. Deutschland ist einer der wichtigsten Märkte, und hierzulande gibt es auch einheimische Konkurrenzdienste wie Lovoo, die nach einem ähnlichen Muster funktionieren.

Dieser neuen Generation von Dating-Apps eilt der Ruf voraus, dass es bei ihnen vor allem um Sex geht, was nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Aber auf Tinder kommen auch ernsthafte Beziehungen zustande, so wie im Fall von Brian und Diana aus New York. Die beiden sind seit fast einem Jahr ein Paar.

Smartphone-Apps wie Tinder bringen Partnersuche noch einen Schritt weiter in die digitale Welt. Das Internet hat schon viele Bereiche des Lebens dramatisch verändert, und die Liebe ist keine Ausnahme. Für viele Menschen ist es heute selbstverständlich, sich nicht mehr nur auf traditionelle Wege zu verlassen und darauf zu hoffen, jemanden in der Kneipe oder auf einer Party zu treffen. Ebenso wie sie auf Amazon einkaufen, nutzen sie das Internet auch, um einen Partner zu finden. Das unterstreicht eine Studie, die vor zwei Jahren in einem amerikanischen Wissenschaftsmagazin veröffentlicht wurde. Von den dafür befragten verheirateten Paaren haben sich fast 35 Prozent online kennengelernt.

Die steigende Bereitschaft, das Internet zur Partnersuche zu nutzen, hat eine ganze Industrie von Dating-Portalen entstehen lassen. Das Marktforschungsinstitut IBIS World schätzt den jährlichen Umsatz von Partnervermittlungsdiensten allein in den Vereinigten Staaten auf 2,2 Milliarden Dollar (1,9 Milliarden Euro). Die Online-Portale versprechen ihren Mitgliedern üblicherweise, mittels Algorithmen kompatible Partner zu finden. Das geschieht auf Basis all der Informationen, mit denen die Nutzer ihre Profile füllen: Körpermaße, Hobbys oder Weltanschauungen. Viele dieser Dienste richten sich an ein breites Publikum, daneben gibt es etliche Nischenportale, die auf einen sehr spezifischen Nutzerkreis abzielen, von Singles mit Lebensmittelallergien über Fans von Vampiren bis hin zu Clowns.

Tinder tickt völlig anders. Allzu viele Informationen würden hier nur stören. Das Profil der Mitglieder besteht im Wesentlichen aus Vornamen, Alter und Fotos. Sie wählen aus, in welcher Altersgruppe sich ein etwaiger Partner bewegen soll, und die App setzt ihnen eine Flut von Kandidaten vor. Wer nicht gefällt, wird durch einen Wisch nach links auf dem Handy-Bildschirm ins digitale Nirvana befördert, ein Wisch nach rechts signalisiert Interesse. Allerdings: Nur wenn der Auserwählte ebenfalls nach rechts wischt, kommt eine Verbindung zustande, die es dann erlaubt, miteinander zu kommunizieren und ein persönliches Treffen zu vereinbaren.

Der besondere Pfiff liegt darin, dass die App mit der Standortfunktion auf dem Handy verbunden ist. Damit können sich die Nutzer auf Personen in der näheren Umgebung beschränken. Wer also auf ein spontanes Date aus ist, kann den logistischen Aufwand minimieren. Mit dem Ortungsdienst spielt Tinder den Vorteil von Smartphones gegenüber Computern aus. Nicht zuletzt das hat Tinder den Ruf einer Sex-App eingebracht.

Diese schnörkellose Vorgehensweise gefällt nicht nur den Nutzern, sondern findet auch unter Forschern Anhänger. Harry Reis, ein Professor an der University of Rochester, war an wissenschaftlichen Studien über Online-Dating beteiligt, und er hält das Versprechen vieler traditioneller Portale, mittels eines wundersamen Algorithmus einen passenden Partner zu liefern, schlicht für „Nonsens“. Reis will zwar nicht sagen, dass er Tinder eher als anderen Diensten zutraut, „Mr. Right“ oder „Mrs. Right“ zu finden. Aber er schätzt, wie „simpel und unprätentiös“ die App daherkommt. „Der Wert von Tinder liegt gerade darin, weniger Informationen zu liefern.“

Der New Yorker Banker Brian hat schon eine ganze Reihe von Dating-Diensten ausprobiert. Er verfasste lange Profile für „Match.com“ und „OK Cupid“. Aber er fand Tinder so „berauschend“, dass er die anderen Portale völlig links liegen ließ. „Tinder ist sexy“, sagt er. „Es dreht sich alles um die einfache Frage: Macht die Frau mich an oder nicht?“ Dass innere Werte hinten anstehen, hat ihn nicht gestört. Er kam gerade aus einer langjährigen Beziehung, als er bei bei dem Dienst einstieg, und war nicht unbedingt auf eine feste Beziehung aus – bis ihm dann nach drei Monaten doch seine heutige Freundin Diana über den Weg lief.

Die wiederum schätzt sich glücklich, dass sie eine ernsthafte Beziehung gefunden hat. Doch das gelingt nicht vielen. „Ich habe so viele Freundinnen, die Tinder frustriert gelöscht haben,“ sagt sie. Das „geistlose und endlose Wischen“ habe zwar seinen Reiz, sei aber irgendwie auch deprimierend. Gina Stewart, die ein Beratungsunternehmen für die virtuelle Partnersuche mit dem Namen „Expert Online Dating“ betreibt, sieht in dem Überfluss an Optionen einen der großen Nachteile. „Es lockt immer die Aussicht auf etwas Besseres beim nächsten Wisch. Warum also sollte man sich auf jemanden einlassen?“ Die App habe etwas von einem einarmigen Banditen im Kasino. Dessen Reiz liege schließlich auch in der Hoffnung, dass der nächste Versuch einen Volltreffer bringt.

Diana hat auf Tinder eine Mentalität der Austauschbarkeit erlebt, die dazu animiert, möglichst viele Eisen im Feuer zu halten. „Wenn ich mich mit jemandem auf Tinder verabrede, kann ich davon ausgehen, dass ich nicht die einzige bin, die er trifft.“

Ihre eigene Geschichte sieht sie als Sonderfall. Denn ohne es vorher zu wissen, hatten die beiden eine gemeinsame Facebook-Freundin. Und darauf wurden sie aufmerksam gemacht, als sie einander auf Tinder begegneten, weil die App mit Facebook verknüpft ist. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, nicht gleich zur nächsten Person weiterzuspringen. Vielleicht ist es die Hoffnung auf einen ähnlichen Glücksfall, die einige von Dianas Freundinnen dazu bewogen hat, die aus Enttäuschung gelöschte App wieder neu zu installieren. Manche halten an ihren romantischen Vorstellungen fast schon verzweifelt fest: „Eine Freundin von mir hat fast jeden Abend ein Tinder-Date und sie hofft jedes Mal, dass das ihr nächster Freund wird.“

Die 27 Jahre alte New Yorkerin Kirra Cheers ist gerade dabei, ein ganzes Buch über ihre Erfahrungen bei Tinder zu schreiben. Cheers sagt, sie habe Freunde gefunden ebenso wie One-Night-Stands, und im Moment stecke sie sogar in den Anfängen einer über die App zustande gekommenen Beziehung. Trotzdem ist ihr Fazit nach mehreren Dutzend Dates gespalten: Es sei oft anstrengend, unromantisch und wie Fast Food. Dabei verfolgt Cheers eine „feministische Dating-Philosophie“, wie sie es formuliert. Das bedeutet: Optimal sei es, wenn eine feste Beziehung entstünde, sonst aber gerne auch nur Sex. Sie spielt mit traditionellen Rollenverständnissen. Für ein Kunstprojekt mit dem Namen „Tinderella“ habe sie die getroffenen Männer zu Objekten reduziert und am Ende eines Dates fotografiert, erzählt Cheers. Auch allzu plumpe Anmachversuche in Tinder-Chats hat sie dokumentiert: Einer bescheinigte ihr „hübsche Titten“, ein anderer sagte ganz unverblümt: „Du bist scharf! Lass‘ uns Sex haben“

Partnersuche über den Aufenthaltsort ist keine Erfindung von Tinder. Homosexuelle Männer können schon seit 2009 die Dating-App „Grindr“ nutzen, neben der selbst Tinder noch harmlos daherkommt. Denn Grindr dreht sich noch viel mehr um schnellen Sex mit jemandem in der unmittelbaren Umgebung. „Grindr ist sehr seicht, und das mit voller Absicht,“ sagt Jaime Woo, der die App selbst benutzt und ein Buch über sie geschrieben hat. Grindr habe Schwulen ein simples Instrument gegeben, einen Partner zu finden, ohne dafür in spezielle Clubs oder Kneipen zu müssen. Tatsächlich beklagen viele Schwulenkneipen in Amerika, dass ihnen wegen Grindr die Kundschaft ausbleibt. Woo sagt, Tinder habe bei der Grundidee von Grindr angesetzt, aber dann einige Mechanismen für die heterosexuelle Welt eingebaut, gerade um dem weiblichen Publikum ein gewisses Gefühl der Sicherheit zu geben. Die Verknüpfung mit Facebook zum Beispiel macht die App weniger anonym.

Tinder ist ohne Zweifel ein Produkt der Smartphone-Ära, aber gleichzeitig ist die App auch ein Sprung in die Vergangenheit, in die Zeit vor dem Internet, als man sich in der realen Welt kennenlernen musste. Denn ein Flirt auf einer Party oder in einer Bar kommt in der Regel vor allem deshalb zustande, weil sich zwei Menschen äußerlich attraktiv finden und nicht, weil sie viel voneinander wissen. Erst die Dating-Portale mit ihren ausführlichen Profilen liefern den Nutzern schon beim virtuellen Erstkontakt einen großen Informationsschatz. Der entfällt nun wieder auf Tinder.

„Menschen waren schon immer oberflächlich und sprangen auf äußere Reize an,“ sagt Michael Norton, Professor an der Universität Harvard, der sich in Studien mit Online-Dating beschäftigt hat. Ebenso wenig habe Tinder etwas daran geändert, dass die meisten Menschen letztlich doch eine langfristige Partnerschaft anstreben, auch wenn sie Dating-Apps zwischenzeitlich nutzen, um sich auszutoben.

Tinder verfolgt ein anderes Geschäftsmodell als viele traditionelle Dating-Portale, die von ihren Nutzern Mitgliedsgebühren verlangen. Die App ist zumindest in seiner Basisversion gratis. Der New Yorker Internetkonzern IAC Interactive Corp., dem die App mehrheitlich gehört, fängt jetzt erst an, für bestimmte Zusatzfunktionen Geld zu verlangen. Tinder setzt also auf ein sogenanntes Freemium-Modell, das viele andere Internetdienste ebenfalls nutzen. Auch Werbung soll künftig eine Einnahmequelle sein.

Derzeit ist Tinder aus Sicht von IAC ein zweischneidiges Schwert. Zwar wächst die App „wie Unkraut“, wie der für das Dating-Geschäft von IAC zuständige Greg Blatt vor einigen Monaten sagte. Andererseits kannibalisiert Tinder das Geschäft von IAC mit gebührenpflichtigen Partnervermittlungsdiensten, ohne bislang selbst nennenswerte Umsätze zu bringen. IAC hat mehrere Dutzend Portale unter seinem Dach, darunter Match.com. Im jüngsten Quartalsbericht wurde der Tinder-Effekt deutlich, denn erstmals seit mehreren Jahren meldete das Unternehmen einen Rückgang bei den zahlenden Abonnenten für seine Dating-Dienste. Für IAC steht viel auf dem Spiel: Das Dating-Geschäft brachte dem Konzern im vergangenen Jahr einen Umsatz von fast 900 Millionen Dollar ein.

Auch der Wettbewerb wird härter: Eine neue Generation von Dating-Apps positioniert sich als Anti-Tinder, zum Beispiel indem sie eine gezieltere Auswahl von möglichen Partnern versprechen. „Hinge“ zum Beispiel schlägt nur Kandidaten mit gemeinsamen Facebook-Freunden vor. Dating-Expertin Stewart sagt: „Tinder sollte auf der Hut sein. Viele Nutzer sind frustriert. Der Reiz des Neuen ist vorbei.“

Harvard-Professor Norton sieht derweil einen Zukunftsmarkt in Diensten, in denen es nicht um die Anbahnung, sondern um die Pflege von Beziehungen geht. Er denkt an Apps mit ähnlich spielerischen Elementen, die Paaren dabei helfen, an ihrer Beziehung zu arbeiten. Wer es schafft, mit einem solchen Dienst erfolgreich zu sein, könnte auch darauf hoffen, dass seine Nutzer ihm längerfristig erhalten bleiben. Denn das Paradoxe am Geschäft der gewöhnlichen Partnervermittlungen: Nichts wirkt sich so miserabel auf das Geschäft aus, wie der Erfolg: Mit jeder gelungenen Kuppelei gehen Kunden verloren. So war es jedenfalls im Fall des New Yorker Tinder-Paares Brian und Diana. Die beiden haben sich längst abgemeldet.

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