Netzwirtschaft

Lust auf Medien im Silicon Valley

Einmal am Tag trifft sich Daniel Roth mit seinen Kollegen vom Karrierenetzwerk Linkedin zur Redaktionskonferenz. Das zwölfköpfige Team kommt zusammen, um Themen zu entwickeln, ganz ähnlich wie Roth das von der Zeitschrift „Fortune“ kennt, seinem früheren Arbeitgeber. Aber die Umsetzung bei Linkedin ist eine ganz andere. Hier werden keine Redakteure darauf angesetzt, Geschichten zu recherchieren und aufzuschreiben. Stattdessen werden die Redaktionsmitglieder beauftragt, im riesigen Linkedin-Netzwerk nach Mitgliedern zu suchen, die vielleicht etwas Interessantes zu einem bestimmten Thema zu sagen haben. Geht es zum Beispiel um Bildung, könnten Professoren identifiziert und gebeten werden, einen Beitrag auf Linkedin zu verfassen, erzählt Roth. Bei der Suche nach Autoren nehmen die Redaktionsmitglieder einen Algorithmus zu Hilfe.

Manchmal muss das Linkedin-Personal gar nicht eingreifen. Zum Beispiel als kürzlich in der „New York Times“ eine Geschichte über die schlechten Arbeitsbedingungen beim Online-Händler Amazon erschien. Ein Amazon-Mitarbeiter sah sich genötigt, sein Unternehmen in einem langen Linkedin-Aufsatz zu verteidigen. Nicht nur wurde er damit hinterher in vielen traditionellen Medien zitiert, ihm folgten auch Dutzende andere und teils für Amazon deutlich weniger schmeichelhafte Beiträge von gegenwärtigen und ehemaligen Mitarbeitern. Das Sahnehäubchen auf Linkedin sind aber die „Influencer“ („Beeinflusser“). Das ist eine elitäre Gruppe von 500 Zeitgenossen, die Linkedin für besonders wichtig hält, darunter der Unternehmer Richard Branson oder Angela Ahrendts aus der Führungsriege des Elektronikkonzerns Apple. Diese „Influencer“ schreiben auf Linkedin über Karriere und andere Themen, die meisten Inhalte hat das Netzwerk exklusiv. Es sind oft Stoffe, die auch als Gastbeiträge in gewöhnlichen Zeitungen oder Zeitschriften stehen könnten.

Insgesamt haben schon mehr als eine Million Linkedin-Mitglieder Einträge verfasst, und das ohne jede Bezahlung. Das Kalkül hinter all diesen redaktionellen Initiativen ist es, die Mitglieder länger auf der Plattform zu halten. „Wir wollen einen Mehrwert schaffen,“ sagt Alexandra Kolleth aus der Geschäftsleitung der deutschen Linkedin-Tochtergesellschaft. Internes Ziel von Linkedin ist es, dass Nutzer mindestens 15 Minuten am Tag auf der Seite verbringen.

Die Strategie, sich mit eigenen Inhalten für sein Publikum interessanter zu machen, verfolgt nicht nur Linkedin. Auch der deutsche Wettbewerber Xing will angeblich eine eigene Wirtschaftsredaktion aufbauen. Aber es ist ein Phänomen, das weit über Karrierenetzwerke hinausgeht. Vielen Technologieunternehmen reicht es nicht mehr, eine reine Plattform oder ein Vehikel für fremde Inhalte zu sein. Sie wollen eigenes und exklusives Material liefern, das Substanz hat. Ebenso wie sich Linkedin und Xing auf das Revier traditioneller Zeitungs- und Zeitschriftenverlage wagen, sehen sich auch Film- und Fernsehstudios mit neuen Wettbewerbern konfrontiert. Paradebeispiel ist die Online-Videothek Netflix, die einst ein reiner Vertriebskanal für die Unterhaltungsindustrie war, heute aber selbst aufwendige Serien wie „House of Cards“ produziert. Dem Beispiel von Netflix ist auch Amazon mit eigenen Shows gefolgt, und demnächst könnte Gerüchten zufolge Apple hinzukommen.

Zwischen diesen einzelnen Manövern gibt es große Unterschiede, allein schon bei den damit verbundenen Kosten. Während Linkedin nichts für seine Inhalte bezahlt, greifen Netflix und Amazon für ihre Eigenproduktionen tief in die Tasche. Die Motivation ist aber in allen Fällen ähnlich. Es geht darum, Kunden und Nutzer an sich zu binden, indem ihnen etwas geboten wird, das es sonst nirgendwo gibt. „Eigene Inhalte sind wie ein Monopol“, sagt Analyst James McQuivey von der Marktforschungsgesellschaft Forrester Research.

Im Falle von Netflix scheint die Strategie aufzugehen. Das Unternehmen verrät zwar nicht, wie viele Zuschauer „House of Cards“ und andere eigene Serien und Filme haben. Der Medienberater Simon Owens zeigt sich aber überzeugt, dass Netflix ohne diese Inhalte heute viel weniger Abonnenten hätte. Der Erfolg von Netflix hat auch Amazon zu Eigenproduktionen animiert, wobei der Online-Händler ein anderes Geschäftsmodell verfolgt. Der Videodienst von Amazon ist eine Dreingabe zum Versandangebot „Prime“, das gegen eine jährliche Gebühr von 49 Euro (99 Dollar in Amerika) besonders schnelle Lieferung von Bestellungen verspricht. Prime-Abonnenten sind für Amazon sehr wertvoll, weil sie überdurchschnittlich bestellfreudig sind. Die eigenen Shows dienen dazu, diese begehrte Klientel zu vergrößern. Sie sollen also dem gesamten Geschäft von Amazon zu Gute kommen.

Wenn Apple nun tatsächlich wie spekuliert einen ähnlichen Weg einschlägt, würde das Unternehmen damit seine wachsenden Ambitionen im Fernsehgeschäft unterstreichen. Der Konzern hat gerade erst eine neue Version seines digitalen Fernsehempfängers Apple TV vorgestellt und arbeitet angeblich auch an einem gebührenpflichtigen Online-Fernsehdienst. Eigene Inhalte könnten dabei helfen, diese Angebote attraktiver zu machen. Nach einem Bericht der „New York Times“ soll noch in diesem Herbst der erste exklusive Kanal für Apple TV Premiere feiern. Dabei soll es sich um einen Modesender handeln.

Auch der Internetgigant Google investiert in Inhalte, beschränkt sich dabei aber in erster Linie auf seinen Videodienst Youtube. Beispielsweise verfügt Youtube in mehreren Städten der Welt über Studios für die Produktion von Videos, darunter auch in Berlin. Vor wenigen Monaten kündigte Youtube an, zusammen mit einem Partner Filme zu produzieren, die zuerst auf der Videoseite zu sehen sein sollen. Auch mehrere Serien sind in Planung. All diese Stoffe sollen sich um Figuren drehen, die heute schon auf Youtube populär sind. Es gibt eine wachsende Zahl von Youtube-Berühmtheiten, deren Videos regelmäßig von einem Millionenpublikum angesehen werden. Manche von ihnen verdienen auf der Seite viel Geld, weil sie an Werbeeinnahmen beteiligt werden. Youtube geht es mit seinen Investitionen vor allem darum, diese zugkräftigen Inhaltelieferanten bei Laune zu halten und ein Abwandern zur Konkurrenz zu verhindern. Das soziale Netzwerk Facebook soll versucht haben, Youtube-Stars für sich zu gewinnen, bisher aber offenbar nur mit begrenztem Erfolg.

Jenseits von Youtube ist Google vor allem dafür bekannt, fremde Inhalte zu organisieren. Auch viele andere Unternehmen wie Facebook fungieren als solche Kuratoren. Das ist zwar nicht auf einer Stufe mit der Produktion eigener Inhalte. Aber es gibt verstärkte Bemühungen in der Technologiebranche, kuratierte Angebote aufzuwerten, und auch hier liegt die Motivation darin, die eigene Plattform für Nutzer attraktiver zu machen. Apple hat erst vor wenigen Tagen seine Smartphone-App „Apple News“ veröffentlicht, die Inhalte einer Reihe verschiedener Medien wie der „New York Times“ oder „Politico“ aggregiert. Einen ähnlichen Weg gehen Facebook und die Foto-Anwendung Snapchat mit „Instant Articles“ und „Discover“.

Die Technologieunternehmen betreiben mit diesen Initiativen einigen Aufwand. Apple beschäftigt für seine App ein redaktionelles Team, Snapchat hat mehrere Journalisten angeheuert, darunter einen früheren Reporter des Fernsehsenders CNN. Diese Angebote beschränken sich nicht darauf, per „Link“ auf andere Medien zu verweisen, sondern sie zeigen die Inhalte selbst. Das, so sagen die Unternehmen, sei viel nutzerfreundlicher, da die zeitraubende Umleitung auf eine andere Seite entfalle. Viele traditionelle Medienhäuser haben freilich Vorbehalte, weil sie fürchten, den Bezug zu ihren eigenen Lesern zu verlieren. Sie werden zwar von Apple und Facebook an den Werbeeinnahmen beteiligt, aber die Inhalte an sich sind für die Nutzer kostenlos. Medienberater Owens meint trotzdem, dass die Flut an neuen und konkurrierenden Nachrichtenangeboten aus der Technologiebranche für die etablierten Publikationen keine schlechte Sache sein muss. „Wenn die Technologieunternehmen sich hier gegenseitig bekriegen, verhindert das, dass sie zu mächtig werden.“ Manche Verlage verbünden sich mit Technologieadressen. Axel Springer kündigte unlängst eine Allianz mit dem Elektronikkonzern Samsung an. Die Partner haben eine Nachrichtenplattform mit dem Namen „Upday“ entwickelt, die exklusiv für Besitzer von Samsung-Geräten verfügbar sein soll. Die redaktionelle Betreuung der App liegt bei Springer.

Linkedin-Chefredakteur Daniel Roth bestreitet nicht, dass die Inhalte auf seinem Netzwerk ein Stück weit eine Konkurrenz für traditionelle Medienunternehmen sind. Andererseits will er aber auch nicht allzu tief in deren Revier vordringen. Linkedin habe zum Beispiel keine Pläne, Nachrichten zu produzieren und damit in das Brot-und-Butter-Geschäft vieler Publikationen einzusteigen. „Wir sehen hier keinen Wettbewerbsvorteil für uns,“ sagt Roth. Gleichwohl will er die Linkedin-eigenen Inhalte aufwerten und ausbauen. So kann er sich für die Zukunft mehr Videos und Echtzeitkommunikation vorstellen, außerdem treibt er die Auslandsexpansion voran. Vor wenigen Tagen hat Linkedin sein Autorenprogramm auch für den deutschsprachigen Raum gestartet. Damit können nun auch hiesige Linkedin-Mitglieder ausführliche Artikel auf der Plattform publizieren. Außerdem gibt es von nun an auch deutsche „Influencer“, die Beiträge für Linkedin verfassen. Darunter ist zum Beispiel Christian Rätsch, der Deutschland-Chef der Werbeagentur Saatchi & Saatchi.

Amazon füllt derweil sein „Prime“-Paket mit weiteren Inhalten. Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass „Prime“-Mitglieder sechs Monate lang kostenlosen Zugang zur Online-Version der Zeitung „Washington Post“ bekommen. Danach können sie die Publikation für 3,99 Dollar im Monat abonnieren, also ein drastischer Nachlass zum regulären Preis von 9,99 Dollar. Die „Washington Post“ ist aus Amazon-Sicht eine Art Zwischending aus eigenen und fremden Inhalten. Sie gehört seit knapp zwei Jahren dem Amazon-Vorstandsvorsitzenden Jeff Bezos, der großen Wert auf die Feststellung gelegt hat, er kaufe die Publikation für sich selbst und nicht für seinen Konzern. Aber die Querverbindungen mehren sich, und das jüngste „Prime“-Angebot ist nach Einschätzung von Forrester-Analyst McQuivey die „bislang engste Integration“. McQuivey kann sich für die Zukunft auch eine stärkere inhaltliche Verflechtung vorstellen. So könnte Amazon aus seinen vielen Kundenbewertungen Kapital schlagen, etwa indem die besten Rezensenten Inhalte für die „Washington Post“ liefern. Es wäre nur ein weiteres Beispiel dafür, wie die Grenzen zwischen der Technologie- und der Medienbranche verschwimmen.

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