Kein Blog-Bild

Pekinger Bekanntmachungen

Bilder und Zeichen aus Chinas öffentlichem Raum

Kleinkapitalismus

Über dem Farbdruck mit der Aufschrift „Unbedingt Taiwan befreien!" hängt im „Sculpting in Time", einem Café im Pekinger...

Bild zu: Kleinkapitalismus

Über dem Farbdruck mit der Aufschrift „Unbedingt Taiwan befreien!“ hängt im „Sculpting in Time“, einem Café im Pekinger Universitätsviertel Wudaokou, jetzt ein Stern. Für sich genommen könnte man ihn für einen roten Stern halten, der aus irgendeinem Grund bloß etwas verblichen ist. Doch im Kontext des Lokals wird klar, daß es sich um einen Weihnachtsstern handelt. Dezenter als die Kaufhäuser in der Pekinger Innenstadt hat das Café seine Räume mit Tannengirlanden und kleinen Nikoläusen mit Ohrwärmern drapiert. Und mit diesem Stern, der da nun als Inbegriff des Bedeutungsflirrens hängt, das das gesamte Café und seine Kundschaft umfaßt: überwiegend chinesische und koreanische Studenten, die bei sanft perlender Norah Jones-Musik auf ihren Laptop gucken. Es ist entschieden leiser in diesem Café als in anderen chinesischen Lokalen. Das Modell geselliger Kontemplation ist nicht sehr verbreitet in China. Aber es gewinnt an Boden.  

Neben dem Bild der heroischen Kampfbereitschaft hängen an der unverputzten Wand Filmplakate: Godards „Á Bout de Souffle“ (viele kleine Szenenfotos und ein großes, auf dem sich Belmondo und die Seberg küssen), „Ma Saison Préférée“ mit Catherine Deneuve und Daniel Auteuil, „Les meilleures Intentions“ von Bille August. Kino, Adventsschmuck und maoistische Revolutionsikonographie siedeln sich im Vorstellungshaushalt der jungen Pekinger Bohème, die sich selbst auch gern „kleinkapitalistisch“ nennt, auf der gleichen Ebene an. Es ist eine nicht sehr wirkliche Ebene, vergleichbar am ehesten mit jener der Markenwerbung, vor deren wohl durchschautem Illusionismus sich das allzu wirkliche neue Leben abspielen soll. Von Ironie zu sprechen, wäre da ganz verfehlt.

„Genauso wie das unaufhörlich fließende und sich verändernde Leben jedem Menschen die Möglichkeit bietet, jeden einzelnen Augenblick auf eigene Art zu fühlen und auszufüllen, so lebt ein wirklicher Film mit einer auf dem Filmstreifen präzis fixierten, aber über die Grenzen der Einstellung hinausströmenden Zeit auch nur dann in der Zeit, wenn die Zeit zugleich in ihm lebt.“ Das schrieb der russische Filmregisseur Andrej Tarkowskij in dem Buch, dessen Titel dem Café seinen Namen gab: „Sculpting in Time“. Allerdings meinte der strenge Mystiker, der in seinen Filmen die ganze Realität des Lebens bannen wollte, damit wahrscheinlich das Gegenteil wie seine neuen chinesischen Freunde.