Die rund 200 Studenten der Vorlesung „Multiperspektivisches Organisationsmanagement” im Saarbrücker Uni-Hörsaal 105 in Gebäude B4.1 schauen ziemlich ratlos angesichts der Frage „Wer ist William Gibson?”. Noch ratloser aber ist der Blick des Dozenten angesichts der zögerlich eintrudelnden Antworten: „Teil einer Boygroup?” „Begründer der Bee Gees?” „Amerikanischer Schauspieler?” „Gitarrenspieler?” Alles nicht ganz falsch und mit dem Hinweis auf den Konstrukteur der Gibson-Gitarre sogar fast richtig. Letztlich liefert erst der Hinweis auf Seite 322 des vor ihnen liegenden Lehrbuchs einen Hinweis auf William Gibson, was – etwas modifiziert – zum ersten Eintrag in den Reiseführer führt.
Der Reiseführer „Per Anhalter durch die Arbeitswelt” definiert: „William Gibson schrieb (1) mit Neuromancer 1984 das absolute Kultbuch der ersten Internetgeneration, (2) erfand kurz zuvor in „Burning Chrome” das Wort „Cyberspace”, (3) erahnte die Faszination des Webs und (4) entwickelt – heute noch – trotz aller Skepsis eine positive Sicht auf die Zukunft der (Arbeits-)Welt.”
Wie war die Welt 1984? Kurz gesagt: So anders, dass man es sich nicht mehr vorstellen kann! Zwar gab es schon so etwas wie eine erste Form des „IBM-PC”, langweilig, unkreativ und vor allem nahezu nicht vernetzt. Bildschirme waren klein und zeigten im Regelfall nur 20 Zeilen Buchstaben. Drucker druckten schwarz und mit 9 Nadeln. Deshalb erklärt in der deutschen Buchausgabe der Übersetzer auch in Fußnoten brav, was zum Beispiel ein Cursor ist. Natürlich gab es eine kreativere Alternative im Apple-Computer, aber auch da war noch fast nichts von Vernetzung und Intelligenzverstärkung zu sehen. Auch das Handy, wie wir es heute als selbstverständlich ansehen, gab es damals nicht.
In dieser Zeit – Anfang der 80er Jahre – erfindet Gibson seinen Helden: Case ist ein Computerspezialist, der mit seinem „Deck” – das er praktischerweise direkt mit seinem Gehirn koppelt – in Computernetze eindringt, wobei reale Realität und virtuelle Realität miteinander verschmelzen. Dieser Datenkosmos steht dann dem Bewusstsein direkt zur Verfügung und vermittelt das Gefühl von Allgegenwart sowie nie da gewesenen Sensationen. Case verbringt als Held der Geschichte ein an Sensationen und Emotionen reiches Leben, das geprägt ist von Technik und von einer Datenschicht, die allem zugrunde liegt und alles verbindet. Über dieser Matrix liegt ein virtueller Raum, der nicht mehr vom realen Raum unterscheidbar ist und der von einigen wenigen Großkonzernen kontrolliert wird.
Soweit das Ende einer kurzen Kurzfassung dieses Buches und der Beginn zur Überleitung zum eigentlichen Thema: Denn vor rund 15 Jahren war Neuromancer Pflichtliteratur in der oben erwähnten Vorlesung, weil Konzepte wie „Leben im Cyberspace” und „Arbeiten in der Virtuellen Realität” zumindest denkbare Szenarien für die Zukunft waren. Genau darin liegt – neben einer Neudefinition von Virtueller Realität 3.3 – der heutige Wert des Buches.
Der Reiseführer definiert deshalb: „Die Neuromancer-Welt wird (1) beherrscht von Großkonzernen mit (2) wenigen unsichtbaren ganz Reichen und (3) vielen sichtbar fast armen Gelegenheitsarbeitern, verzichtet (4) auf seltsame Konstrukte wie Datenschutz und hat (5) Freiheit im Datennetz abgeschafft.”
Überträgt man Gibson auf heute und folgt seiner bizarren Logik, so ist die ganze Finanzkrise nicht mehr als ein perfides Spiel einiger Finanzgroßkonzerne, die Wettbewerber ausschalten und sich selbst nach oben katapultieren wollen. Wo Pharmakonzerne Krankheiten erfinden, die sie dann mit teueren Medikamenten heilen. Wo Medien in devoter Abhängigkeit zu den Mächtigen der Welt Wirklichkeiten schaffen, die – hier treffen sich McLuhan und Gibson – nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Alles ist eingebettet in eine glitzernde und flackernde Welt aus Klingeltönen, Bildfetzen, Tonfetzen, Kommunikationsfetzen, künstliche Retortenfiguren, zu-Realität-werdenden-Castingshows, bei denen es keine Rolle spielt, ob die Personen real oder nicht real sind. Dass man zudem bei seinen Reisen durch das Internet überwacht und reglementiert wird, versteht sich ebenso von selbst wie einiges andere, was hier nicht erwähnt werden soll. Schließlich gibt es noch die Daten- und „social community”-Welt mit Myspace, Twitter und Facebook sowie die Fotos, die über Geotagging GPS-Positionen speichern und in Google-Map oder Google-Streetview übertragen. Und am Ende ist es egal, ob man aus dem Fenster oder in den Bildschirm starrt. Am schlimmsten: Man ist sich der Fremdsteuerung nicht mehr bewusst.
Sicherlich liest sich das Buch von Gibson heute anders als damals, und Leser, die 1984 noch nicht einmal geboren waren, werden es vermutlich noch anders perzipieren. Genau dieser Leserkreis wird aber vielleicht das wiederentdecken, was in den letzten Jahren verloren gegangen ist: nämlich der positiv-optimistische Blick in die Zukunft der modernen Arbeitswelt.
Der Reiseführer „Per Anhalter durch die Arbeitswelt” erklärt: „Das Wort Neuromancer setzt sich zusammen aus (1) Neuro im Sinne von Nervensystem und (2) Necromancer im Sinne von Zauberer, der Dinge und Emotionen entstehen lässt, letztlich (3) seine eigene, individuelle Welt der motivierenden Sinnstiftung und produktiven Unangepasstheit schafft.”
Gerade in dieser Idee einer kreativ-schöpferischen Verbindung liegt das Verschüttet-Positive, das es aber vielleicht gerade angesichts der aktuellen Realität wieder zu entdecken gilt. Denn auch darauf wurde damals bereits hingewiesen: Neuro-mance ist Vorstufe zu Neu-romance, also zur Neuen Romantik.
Sie gilt es jetzt in den unendlichen Weiten der (Cyber-)Arbeitswelt zu (er-)finden.
(Foto: cts)
P.S.: Es versteht sich natürlich von selbst, dass die Cyberpunks von Gibson den Figuren entsprechen, die Douglas Adams in seinem Reiseführer „Per Anhalter durch die Galaxis” beschreibt, wenngleich sie sich in den Essgewohnheiten unterscheiden. Wo Gibson japanisch-chinesische Nudelsuppe schlürfen lässt, knabbert man bei Adams Kartoffelchips. So erläutert Slartibartfaß dem verdutzten Ford ohne aufzusehen: „Die Kartoffelchips sind im Raum der Informationsillusionen. Eure junge Freundin versucht, hinter ein paar Probleme der galaktischen Geschichte zu kommen. Die Kartoffelchips helfen ihr möglicherweise dabei.” Nur weiß man natürlich, dass es ein Irrtum ist zu glauben, man könne jedes größere Problem mit Kartoffeln lösen. Hier ist doch die Matrix von William Gibson vielversprechender. Oder etwa nicht?
Alle Einträge unter www.per-anhalter-durch-die-Arbeitswelt.de
Herzlichen Dank für die...
Herzlichen Dank für die ausführliche Antwort auf meinen hastig formulierten Bemerkung zu Ihrem Beitrag und die Anregung sich mal wieder mit Gibson und anderen Vertretern diese Genres auseinanderzusetzen.
Ihr Blog, den durch diesen Artikel entdecken konnte ist erfrischen, Ihre Studenten scheinen eine Auswahl an interessanten Veranstaltungen und Vorlesungen zu haben. Mein Verweis auf die Arbeitsbedingungen bei der Frankfurter gingen davon aus, dass Sie als “normaler” Redakteur oder freischaffender Autor die Arbeits- und Lebenswelt des Helden Case Ihrer persönlichen Situation vorziehen würden. Vielleicht sollte ich Pointen denjenigen überlassen, die sie besser formulieren können.
Leider habe ich meine zerfelderte Altausgabe des Jahres 1987 einem Freund zum Lesen vermacht. An den Faden den das Nachwort gesponnen hat kann ich mich nur wage erinneren. Auch war ich wohl zu jung um vieles zu verstehen, aber oft wenn ich mich irgendwo in ein Netz über meine tragbare Console in ein Netz einwähle und mir meine Umwelt betrachte wähne ich mich in der Vorgeschichte der Spawn-Triologie.
Mir hingegen waren die Mikro-Sklaven in Lego-Spielzeugwelt deutlich positiver in Erinnerung, gerade auch weil der eigentlich in der Arbeitswelt überflüssig gewordene Vater eine Tätigkeit erhielt.
Diese Vision einer verspielten Peter Panhaften Arbeitsalltages scheint von aussen bei den Firmen wie Google verwirklicht zu werden, bei welcher die bunten Bausteine Teil der Arbeitskultur vorgeben zu sein.
<p>@Petifa</p>
<p>Natürlich...
@Petifa
Natürlich gehört William Gibson zu den Vertretern der „Schwarzen Zukunftsentwürfe“. Deshalb ist Ihrer Kritik zuzustimmen und deshalb ist auch der Hauptteil des Reiseführereintrags dieser „noir“-Denkrichtung gewidmet.
Allerdings gibt es – und das ist Chronistenpflicht – eine zumindest ansatzweise positivere Lesart, die sich auch aus der Abgrenzung beispielsweise zu den ent-individualisierten „Mikrosklaven“ von Coupland ergibt. Denn die Cyberpunks von Gibson können zumindest ansatzweise ihre eigene Persönlichkeit behalten beziehungsweise entwickeln. Diese (etwas) positiver Lesart von Gibson’s Neuromancer entspricht auch dem, was Norman Spinrad (zumindest in den alten Auflagen) von Gibson’s Buch als Nachwort „Die Neuromantiker“ beisteuert. Dieser Aspekt ist sicherlich noch nicht voll erschlossen. Er dürfte es aber wert sein, dass man darüber nachdenkt.
Also: Die schwarze Zukunft von Gibson haben wir mit unserer aktuellen Arbeitswelt in noch drastischer Form bekommen, als viele es wahrhaben wollen. Jetzt gilt es den indvidualisiert-positiven Weg herauszuarbeiten, der vielleicht auch in diesem Buch steckt. Dass das aber nicht schwierig, sondern eher paradoxiegeladen widersprüchlich ist, liegt auf der Hand.
PS Ihr Hinweis mit den Arbeitsbedingungen FAZ wirkt etwas kryptisch.
Neuromancer gehört sicherlich...
Neuromancer gehört sicherlich zu einen der bahnbrechendesten Büchern des ausgehenden 20 Jahrhundert. Mir ist aber Gibson eher als ein Autor in Erinnerung der ein düsteres Bild der zukunft entwirft.
Mir ist schleierhaft, wie Herr Scholz das Leben eines Strauchdiebes aus dem 21. Jahrhunderts als positive Zukunftsvision ansieht. Hatte mir die Arbeitsbedingungen bei der FAZ besser vorgesellt.