Da sitzt man als fleißiger Schreiber von Reiseführern durch die Arbeitswelt an seinem kargen Schreibtisch bei seinem preisbewussten Frühstück und informiert sich per Newsletter über die wirkliche Welt. Dort liest man dann – und jetzt schmeckt der „Gut&Günstig“-Billig-Jogurt für 0,29€ aus dem Lebensmittelgeschäft im Nachbardorf noch besser –, worüber der „VW-Experte Mark Schneider“ des Handelsblatts ganz ausführlich und ganz euphorisch berichtet:
„Es sind Geschichten wie diese, die uns Zuversicht geben. In Wolfsburg befindet sich offenbar jener ethische Kompass, der in New York, London und zuweilen auch in Frankfurt verloren gegangen scheint.“
Jetzt wird es einem richtig warm ums Herz. In der kalten Welt des neoliberalen Kapitalismus, in der sich Vorstände und Aufsichtsräte (die teilweise im Hauptberuf ebenfalls Vorstand sind) wechselseitig astronomische Summen zuschieben, in der Millionensummen an Abfindungen für gescheiterte Manager gezahlt werden, in der Politiker lukrative Positionen als Verbandspräsident oder Stiftungsleiter untereinander aufteilen, in der man die Wahrheit über die kreative Finanzierung von „Wetten, dass..?”-Sendungen erfährt und in der man sich ansonsten immer wieder fragt, ob Bonus nicht irgendwas mit „gut“ und vielleicht mit Leistung zu tun hat, da braucht man ethische Werte und vor allem moralisch hochstehende Vorbilder, die einem klar zeigen, was wirklich gut und richtig ist. Oder – wie es das Handelsblatt so schön treffend formuliert – da braucht man einen ethischen Kompass.
Deshalb zunächst einmal eine Definition: „Ein ethischer Kompass ist eine (1) medial konstruierte Aussage darüber, was (2) in einer Gesellschaft als richtig angesehen wird und dementsprechend (3) handlungsleitend wirkt.“
So weit, so gut. Doch halt! Worüber reden wir eigentlich? Wir reden darüber, dass Martin Winterkorn mit seinen vermutlich rund 20 Millionen Euro für 2012 wieder einmal wieder einmal ein recht ordentliches Jahreseinkommen einfahren wird. Gleichzeitig hat er bekanntgegeben, dass er so viel Geld eigentlich gar nicht will und er bald anfangen wird, über eine Begrenzung der Managementgehälter nachzudenken.
Damit dieser Beitrag nicht falsch verstanden wird. Wolfsburger Autos sind wirklich gut und der Autor dieser Zeilen ist seit Ende der 1970er überzeugter Golf-Fan und hat dementsprechend nur Autos gekauft, die zum VW-Konzern gehören. Trotzdem: 20 Millionen ist viel Geld für einen einzelnen Menschen.
Nun ist über die Gehälter der deutschen Vorstände schon viel geschrieben worden: Sie liegen in Europa an der Spitze, werden anders als in anderen Ländern größtenteils in bar ausgezahlt und haben explosionsartige Wachstumsraten zu verzeichnen.
Jetzt kann man natürlich die obligate Neiddebatte führen: Ist es überhaupt vertretbar, dass ein Mensch so viel Geld bekommt (und man selbst nicht)? Doch der Reiseführer durch die Arbeitswelt wäre nicht das anerkannte Leitmedium, würde er auf eine derartige simple Linie einschwenken.
Viel interessanter ist doch, dass diese Diskussion offenbar überhaupt nicht geführt und Martin Winterkorn in Deutschland für sein ethisch-optimales Verhalten mit stehenden Ovationen belohnt wird.
Deshalb soll es in diesem Beitrag jetzt nicht um die hinlänglich bekannten Erklärungen dazu gehen, warum exorbitante Gehälter bei VW eine lange Tradition haben (worauf der „Reiseführer durch die Arbeitswelt“ schon vor Jahren hingewiesen hat), weshalb VW-Aufsichtsräte bei diesen Gehältern immer wieder mitspielen (bekommen selbst viel), warum die Gewerkschaften brav kuschen (sitzen auch in Aufsichtsräten und genießen die entsprechenden Privilegien), warum die Landesregierung unabhängig vom Parteibuch diese Vorstandsgehälter gerecht findet (da gibt es ein VW-Gesetz) und warum die VW-Betriebsräte brav alles abnicken (das ist ein historisch bekanntes Sonderthema bei VW), also beispielsweise VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh, der auch dem Präsidium des Aufsichtsrats angehört, allenfalls beklagt: „Die bisherige Höhe der Vorstandsvergütung ist … in der Öffentlichkeit anscheinend nicht vermittelbar.“
Für das Handelsblatt ist also Martin Winterkorn der „ethische Kompass“. Interessanterweise geht es dabei überhaupt nicht um das unverhältnismäßig hohe Einkommen. Nein, man mutiert zum ethischen Kompass, wenn man ankündigt, in Zukunft irgendwann einmal über die Angemessenheit seiner Bezüge nachzudenken.
Dieser rhetorische Trick funktioniert aber nicht nur beim Handelsblatt: Mit dieser seiner Ankündigung brachte es Martin Winterkorn fast gleichzeitig auf die Titelseite der Bild-Zeitung, wo er mit den beiden Redakteuren Carsten Paulun und Tomás Hirschberger stolz im verschneiten Schweden posierte.
Vergessen ist, dass Martin Winterkorn genau die gleiche Ankündigung schon vor einem Jahr gemacht hat, als er „nur“ 17,5 Millionen Euro bekam und auch damals mit dieser Ankündigung zum Liebling der Medien mutierte. Und damit auch ja niemand auf die Idee kam, hier eine Neiddebatte zu beginnen, titelte damals die Wirtschaftswoche auch ganz brav: „VW-Chef Winterkorn mit 16,6 Millionen Euro nicht überbezahlt“.
Spätestens jetzt sind Erklärungen und damit die Tiefgründigkeiten des Reiseführers „Per Anhalter durch die Arbeitswelt“ gefragt.
Die erste Erklärung ist simpel: Medien schaffen Wirklichkeit und wir alle glauben das, was wir lesen. Also glauben wir auch an Martin Winterkorn als ethisches Vorbild. Dabei spielt es keine Rolle, dass es Redakteure gibt, die nur davon träumen, Kommunikationsberater eines Großkonzerns zu werden (man denke nur an den Wechsel von Stefan Baron von der Wirtschaftswoche zu Herrn Ackermann). Nein, die Medien von Handelsblatt bis Bild-Zeitung finden derartige Vorstandsgehälter in Ordnung und dabei kann man es belassen. Vieles ist also gute PR. Das hat im Übrigen auch Jürgen Grossmann von RWE eindrucksvoll gezeigt, der seine 1,36 Milliarden Euro Vermögen unter die Überschrift „Ich hasse Grossmannssucht“ setzt und damit auch den FOCUS beeindruckt. Es geht also nichts über gute Medienberater.
Die zweite Erklärung bezieht sich auf die Höhe des Einkommens und beginnt mit einer bemerkenswerten Beobachtung, die schon seit langem zu intensiven Gesprächen im Restaurant am Ende des Universums führt. Es geht nämlich um das Abschätzen von Geldbeträgen.
Dazu eine Definition: „Unter der subjektiven Einkommensdistortion versteht man die Tatsache, dass der Abstand von 30.000 Euro zu 100.000 Euro ähnlich groß wahrgenommen wird wie der zwischen 25 Tausend Euro und 20 Millionen Euro.“
Daher bietet es sich durchaus einmal an, sich genau vor Augen zu führen, was eigentlich 20 Millionen Euro pro Jahr sind. Rechnet man ungefähr 48 Arbeitswochen und fünf Tage pro Woche, so kommt man auf über 80.000 Euro pro Tag – und da sind diverse sonstige Einkünfte noch überhaupt nicht eingerechnet. Damit braucht Martin Winterkorn knapp drei Arbeitstage, um so viel Geld zu bekommen wie die Bundeskanzlerin. Oder 20 Minuten für die jährliche Hartz-IV-Regelleistung. Und weniger als einen Tag für den Lohn eines normalen Arbeitnehmers bei VW. Oder anders formuliert: Für eine tolle Eigentumswohnung in einer deutschen Kleinstadt braucht Martin Winterkorn drei Tage, für einen Porsche 911 einen Tag und für eine Traumreise „Rund um die Welt“ vier Stunden – sofern sie nicht mit einer neu gekauften Luxus-Segelyacht stattfindet. Für ein Traumboot wie eine gut ausgestattete Superhawk 43 (bekannt aus dem James Bond-Film „Ein Quantum Trost“) bräuchte dann auch er schon rund eine Woche.
Aber selbst wenn man nicht unter der subjektiven Einkommensdistortion leidet, wird man normaler Gehaltsempfänger nicht ernsthaft gegen derartig hohe Einkommen vorgehen, wie man vom Psychologen John Stacey Adams und seiner Gerechtigkeitstheorie von 1965 lernen kann. Dieser erklärt nämlich, dass man Gerechtigkeit als Quotient aus Output sowie Input bestimmt und diesen dann mit dem Quotienten einer Vergleichsperson in Beziehung setzt. Bekommt Person A also 1.000 Euro für 10 Stunden Arbeit, dann fühlt sich Person B mit 500 Euro für 5 Stunden fair bezahlt. Muss Person B dagegen auch 10 Stunden arbeiten, will sie entweder mehr Geld oder sie arbeitet eben nur 5 Stunden – weil alles andere im Vergleich zu Person B als ungerecht empfunden wird.
Jetzt wird es spannend und eine neue Definition nötig, die jedem von uns einen ganz präzisen Vergleichswert liefert: „Unter der Winterkornschen Äquivalenzarbeitszeit wird diejenige Arbeitszeit verstanden, die Martin Winterkorn rechnerisch aufbringen muss, um das Jahresgehalt des Betrachters zu erwirtschaften – wobei man statt Martin Winterkorn auch den eigenen Vorstand einsetzen kann und dann eine etwas andere Äquivalenzarbeitszeit erhält.“
Danach beträgt die Winterkornsche Äquivalenzarbeitszeit für die Bundeskanzlerin vier Tage, für Dieter Zetsche von Daimler ein halbes Jahr und für einen VW-Arbeitnehmer einen Tag.
Die Schlussfolgerung ist ganz einfach: Natürlich werden wir nie so viel verdienen wie Martin Winterkorn, auch wenn wir so viel arbeiten wie er. Also haben wir nur eine einzige Chance: weniger intensiv zu arbeiten und am Arbeitsplatz anderen Vergnügungen nachzugehen! Und schlagartig wird klar, warum ein Großteil der Beschäftigten in Deutschland sich nicht mehr mit seinem Unternehmen verbunden fühlt und innerlich gekündigt hat: Denn eigentlich brauchen wir nur die Winterkornsche Äquivalenzarbeitszeit für uns berechnen und dann wissen wir, wie viele Tage (oder Stunden) im Jahr wir wirklich arbeiten müssen. Alles andere wäre ungerecht. Oder?
Und damit verstehen wir, warum – dank der Hilfe des Reiseführers „Per Anhalter durch die Arbeitswelt“ – Martin Winterkorn wirklich zum ethischen Kompass für uns alle geworden ist.
P.S. Natürlich sollte man auch in diesem Fall wieder einen Blick in die Originalquelle zu diesen Ausführungen werfen, nämlich den Reiseführer „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams. Denn dort liest man: „Der Barmann sah auf das Geld und plötzlich fröstelte ihn. Vorübergehend verspürte er ein Gefühl, das er sich nicht erklären konnte. Denn in Augenblicken großer innerer Spannung sendet jede existierende Bioform unbewusst ein winziges Signal aus.“ Man sieht: Der Kompass wirkt.