Wer erinnert sich nicht, Schulaufsätze bisweilen an der Fragestellung vorbei geschrieben zu haben – aus Langeweile, Gedankenlosigkeit oder aus offenem Protest. Je nach Lehrer konnte das sogar funktionieren: Bei gutem Stil oder gutem Ruf drückte der schon Mal ein Auge zu, gab “Kopfnoten” statt der verdienten Quittung. Wer die ablehnt, konnte auch bei Al Gores Vortrag auf der Jahreskonferenz der American Association for the Advancement of Science (AAAS) in Chicago unmöglich Gnade vor Recht ergehen lassen. Trotz der äußeren Form des Vortrages – aufwändig, spektakulär, aktuell – blieb nur ein Urteil: „Thema verfehlt”.
Gore, früherer Vizepräsident der Vereinigten Staaten und Nobelpreisträger mit „unbequemer” Botschaft, war als Redner der Einladung zur AAAS-Konferenz gefolgt. Er kam unter anderem, weil er einen Großteil seiner Thesen der Hilfe dort anwesender Wissenschaftler verdankt. Ihre Forschungsergebnisse, ihre Graphiken, ihre Statistiken sind die Grundlage seiner Vortragsshow. Umso unverständlicher, dass Gore nach einigen humoristischen Anekdoten dazu überging, seinerseits den rund 1600 Wissenschaftlern und Medienvertretern den Klimawandel zu erklären. Treibhauseffekt, Arktikschmelze, Meeresspiegelanstieg, das volle Programm, gewissermaßen zurück-erklärt an die einstigen Informanten. Nicht, dass das keiner wissen will. Aber hier wussten es längst alle, und zwar nicht nur aus Gores preigekröntem Film.
Zugegeben: Während viele nur aus Respekt die volle Redezeit ausharrten, schienen einzelne Zuhörer von Gores Vortrag geradezu elektrisiert. Hatte der Pathos, den Gore nicht dicker hätte auftragen können, bei ihnen tatsächlich gewirkt? „Wenn ich nur überzeugender sprechen könnte, ich würde Ihnen die Dringlichkeit meiner Botschaft noch besser vermitteln”, sagte er, mit einer Stimme voller Wehmut und flehender Gestik. Sie könnten, Mr. Gore! Etwa, indem Sie sich die einstudierte Stand-Up-Comedy sparen. Die Frau, die ihn schon in München angeblich auf der Straße angesprochen haben soll („Hätten Sie ihr Haar schwarz gefärbt, hätte ich Sie glatt mit Al Gore verwechselt”) – diesmal kam sie eben aus Chicago. Und auch den Griff in die Jackettasche hat Gore gut geübt, wenn er sein Lieblings-Gadgets”I-Phone” ausschaltet. „Sie sollten sich alle eins kaufen”, sagte er und erntete schallendes Gelächter – eine Botschaft, die sich ihm Rahmen seiner Beratervertrags bei Apple sicher bezahlt macht.
Warum aber geht Gore nicht den nächsten Schritt? Etwa, indem er eine Anleitung liefert, wie Forscher seinem emotionalen Appell folgen können, der da lautet: „Get involved”. „Mischen Sie mit!” „Behalten Sie den Job als Wissenschaftler, den Sie tagsüber machen, aber werden sie politisch aktiv. Beteiligen Sie sich an der wichtigsten Debatte unserer Zeit.” Wer sich Konkreteres von dem früheren Politiker erhofft hatte, wie aus Wissen Handeln werden kann, der wurde enttäuscht. Gore selbst sagt: „Politik, das scheint mir so lange her zu sein”.
Al Gore hält Vorträge und jettet um die Welt. Dass er am Abend, als der amerikanische Senat Barack Obamas Konjunkturpaket verabschieden soll, auf dessen Bedeutung für die Wissenschaft eingeht, scheint zu viel verlangt. Immerhin enthält es eine massive „grüne Komponente”, allein 21,5 Milliarden Dollar sind für Forschung und Entwicklung vorgesehen – fast drei Mal so viel wie die deutschen Fördergesellschaften Helmholtz, Max Planck, Leibniz und Fraunhofer zusammen in die Waagschale werfen können.
Dabei hätte es so schön sein können: Endlich konkrete Information, von einem Washington-Insider. Schon am Donnerstag hatte AAAS-Präsident Jim McCarthy, Al Gores „guter Freund” und Harvard-Professor, in seiner Eröffnungsrede einen Reigen von Obama-Lobreden eröffnet. Fast stündlich beginnen seither wissenschaftliche Foren und Gesprächsrunden auf der Konferenz mit kollektivem Aufatmen über die „neue Wertschätzung” für die Wissenschaft unter Barack Obama. Vieles indes bleibt vage, obwohl nach der „Wie viel”-Debatte zum Konjunkturpaket schleunigst die „Wofür”-Debatte folgen müsste, damit die Impulse für die Wissenschaft von Dauer sind. Kein Wort von Al Gore. Und wer, wenn nicht er, müsste eine Meinung dazu vertreten, wie weit Obama in Kopenhagen gehen soll, wenn im Dezember ein Nachfolgeprotokoll für Kyoto verhandelt wird? Was etwa ergibt sich aus Obamas Ankündigung, die US-Emissionen bis 2050 um 80 Prozent reduzieren zu wollen?
Schon im Januar hatte das im Zweimonatsrhythmus erscheinende neue Hamburger „Klima-Magazin” den viel gefeierten Al Gore demontiert. Er lasse sich jede Vortragsminute mit bis zu 5600 Dollar vergüten, während er zugleich die breite Öffentlichkeit verhöhne, indem er Journalisten vertraglich aussperrt – etwa bei einer Veranstaltung der mit Steuergeld finanzierten „Allianz der öffentlichen Wasserwirtschaft” in Bayern, wo die Reporter nach den ersten fünf Minuten den Raum verlassen mussten.
Sicher sollte der Applaus, den Al Gore in Chicago bekam, mehr seiner Vorreiterrolle gelten als der Rede selbst; der Erleichterung, dass sein Standpunkt unter Präsident Obama nicht mehr marginalisiert, sondern in Person prominenter, verdienter Wissenschaftler sogar in der Regierung vertreten sein wird. Für Gores Vortrag vor den einflussreichsten Wissenschaftlern und allen Leitmedien der Welt gilt trotzdem: Thema verfehlt. Gute Lehrer haben früher einem fähigen Schüler auch mal eine fünf gegeben – wenn sie fanden, dass er weit unter seinen Möglichkeiten geblieben war.
Klasse, der Artikel. Voll auf...
Klasse, der Artikel. Voll auf die Fünf. Thema exakt getroffen. Von mir gibt es eine glatte EINSplus für die FAZ! Übrigens: Das neue Klima-Magazin ist ab Montag im Handel. Diesmal gibt es Prügel von Professor Dr. Olav Hohmeyer für die Koalition, die deutschen Energie-Versorger und den Gesetzes-Entwurf zur Einlagerung von CO2 (CCS-Gesetz)