Jedes Jahr versuchen die Organisatoren der AAAS-Tagung, mindestens ein Symposium mit einem besonders publikumsnahen Thema ins Programm aufzunehmen: Wissenschaftliche Hintergründe zur Schokolade, das Fremdgeh-Gen oder die Weisheit der Tierwelt sind Vorträge, die sich erhöhter Aufmerksamkeit von Journalisten und Teilnehmern zugleich sicher sein können. Weil die Tagung diesmal vom 12. bis 16. Februar stattfindet, lag natürlich nichts näher, als den Valentinstag am 14. Februar zum Aufhänger zu machen. Wer sich also gewundert hat, dass regionale und überregionale Tageszeitungen, Websites sowie Radio- und Fernsehsender anlässlich des Valentinstages in diesem Jahr immer wieder dieselben Wissenschaftler zum Geheimnis des Kusses zu Wort kommen ließen, der kennt jetzt den Grund dafür: Am Samstagmorgen hielt eine Gruppe amerikanischer Forscher aus verschiedenen Disziplinen in Chicago ein Symposium ab, das den schlichten Titel “The Science of Kissing” trug. Kein Platz war mehr frei im Saal, als die Redner das Podium betraten. Vorab herausgegebene Pressemeldungen und eine Kurzfassung des Vortrags am Freitag stellten sicher, dass die Informationen über den Austausch von Zärtlichkeiten trotz Zeitverschiebung auch in Europa pünktlich am Samstag morgen mit der Zeitung auf dem Frühstückstisch landeten.
An das jeweilige populäre Thema der Tagung werden nicht dieselben Anforderungen gestellt wie an die üblichen Vorträge. Es geht um den Unterhaltungsfaktor; niemand würde deshalb ernsthaft das Studiendesign kritisieren, die niedrigen Probandenzahlen anmerken oder nach dem Sinn des Ganzen fragen. Auch wenn sie nur mit einem winzigen Grüppchen an Versuchspersonen gestaltet worden ist, so sorgte die Studie von Wendy Hill vom Lafayette College in Pennsylvania doch dafür, dass die Zuhörer sich amüsierten. Und mehr war ja auch gar nicht verlangt.
Die Neurowissenschaftlerin Hill und ihr Team hatten sich gefragt, welche hormonellen Veränderungen das Küssen bedingt. Einer Studie aus dem Jahr 2007 entnahmen sie zuvor die These, dass Küsse für Frauen eine Möglichkeit bedeuten, ihr “Date” einzuschätzen und die Beziehung zu stärken. Männer hingegen betrachten den leidenschaftlichen Kuss hauptsächlich als eine Art Vorspiel für Sex.
Das Team um Wendy Hill bat in einer ersten Studie 15 Paare um Mithilfe – alle waren Studierende des Lafayette College, die im Durchschnitt seit etwa anderthalb Jahren eine Beziehung führten. Die Hypothese der Wissenschaftler war: Küssen verstärkt die Partnerbindung über hormonelle Veränderungen. Der Pegel des Stresshormons Cortisol müsste demnach sinken, der Spiegel des Bindungshormons Oxytocin steigen, wenn Menschen sich küssen. Die Pärchen gaben deshalb vor Beginn des Versuches Blut- und Speichelproben ab, in denen Oxytocin beziehungsweise Cortisol gemessen wurden. Frauen hatten schon im Ausgangszustand einen höheren Oxytocinspiegel als Männer. Frauen, die die Pille nahmen, hatten sogar einen noch höheren Gehalt an Oxytocin im Blut als ihre Geschlechtsgenossinnen, die nicht oder zumindest nicht hormonell verhüteten. Die Wissenschaftler vermuten als Ursache Wechselwirkungen zwischen Östrogenen und Oxytocin.
Im Verlauf des Versuchs wurden die Teilnehmer in zwei Gruppen aufgeteilt. Die Paare der ersten Gruppe nahmen in einem Raum in einem medizinischen Zentrum Platz und küssten sich jeweils eine Viertelstunde lang. Die Kontrollgruppe durfte nur Händchenhalten und reden. Bei beiden Gruppen – Küssenden und Händchenhaltern – sank der Spiegel des Stresshormons Cortisol. Das Bindungshormon Oxytocin allerdings stieg nur bei den küssenden Männern. Bei den küssenden Frauen sank es sogar.
Die Wissenschaftler waren zunächst ratlos. Dann kamen sie auf den Gedanken, dass die sterile Krankenhausatmosphäre den weiblichen Teilnehmern möglicherweise nicht zugesagt haben könnte. Sie wiederholten das Experiment deshalb in einem ruhigen Raum in einem der Institutsgebäude des Colleges, den sie mit Blumen und elektrischen Kerzen dekorierten. Außerdem stellten sie ein Sofa auf und ließen im Hintergrund leise Jazzmusik laufen. Unter den neuen Bedingungen stieg der Oxytocinspiegel sowohl bei Männern als auch bei Frauen.
In zukünftigen Versuchen möchten die Forscher unter anderem die Rolle des Oxytocins genauer klären. Außerdem wollen sie sowohl Paare untersuchen, die sich erst vor kurzem kennengelernt haben, als auch solche, die seit Jahren zusammenleben. Und vor allem interessieren sie sich für einen besonderen Moment und die Rolle, die er in Beziehungen spielen kann: für den ersten Kuss.