John Spinks Pech ist, dass er seine Präsentation im allerletzten Vortragsblock der AAAS-Konferenz in Chicago vorstellt. Schon leeren sich die breiten Flure der unterirdischen Kongressaal-Welt des Hyatt Regency Hotels. “Wir schließen in einer Viertelstunde”, kündigt die Dame im Presse-Computerraum an. Der Stand mit Starbucks-Kaffee und Sandwiches wurde an diesem Morgen nicht einmal mehr aufgebaut neben der Rolltreppe, die zum “Grand Ballroom” führt. Hier werden drei Redner über Lebensmittelschmuggel, -fälschung und andere Risiken sprechen, mit denen man rechnen muss, wenn Nahrungsmittel Grenzen überqueren. Eigentlich ein spannendes Thema. Dass es trotzdem kaum mehr als zwanzig Tagungsteilnehmer in den Saal geschafft haben, kann nur am Zeitpunkt liegen. Die zwei Dutzend Journalisten und Wissenschaftler aber werden nicht enttäuscht. Gleich die erste Power-Point-Folie von John Spinks Präsentation stellt klar: Das hier ist nicht einfach ein weiterer Vortrag. Wer auch immer sich im Saal eingefunden hat, befindet sich nämlich selbst mitten in dem Geschehen, von dem die Vorträge handeln sollen: in einem Lebensmittelkrimi. “Counterfeiters attend Anti-Counterfeit-Conferences” warnt rote Schrift auf dem ersten Bild der Präsentation in fetten Buchstaben: Fälscher nehmen an Anti-Fälschungs-Kongressen teil. Unwillkürlich schaut man sich um. Wer hier könnte im Hauptberuf Schinken, der nicht aus Parma stammt, als Parmaschinken deklarieren oder gepanschten Billigwein abfüllen und teuer als Champagner verkaufen? Der grauhaarige Herr im blauen Hemd vielleicht, der bei vielen Sätzen des Vortragenden zustimmend nickt? Die junge Frau mit Pferdeschwanz und silberner Handtasche, die eifrig mitschreibt? Die Studentin, die in ihr Handy tippt – möglicherweise verschickt sie neue Rezepte für gefälschten Kaviar?
John Spink arbeitet am National Food Safety & Toxicology Center an der Michigan State University. Er ist ein hoch gewachsener Mann mit akkurat zurückgekämmtem blondem Haar, anthrazitfarbenen Anzug und gestreifter Krawatte. So, wie er sachlich, aber mit sehr viel Nachdruck von dem Verbrechen berichtet, für das er Experte geworden ist, könnte er genauso gut über seine Tätigkeit für einen internationalen Geheimdienst sprechen. Kein Zweifel: Spink hält die Fälschung von Lebensmittel für eine der größten Bedrohungen unserer Zeit, und er versteht es, die Zuschauer für seine Sichtweise einzunehmen. Schon die Zahlen sind beeindruckend: Fünf bis sieben Prozent des weltweiten Handels werden von Fälschungen abgedeckt, davon betreffen nur etwa fünf bis zehn Prozent begehrte Luxusgüter. Bis zu drei Prozent der Arzneimittel auf dem amerikanischen Markt sind gefälscht. Das FBI, sagt Spink, bezeichne Fälschung als “das Verbrechen des 21. Jahrhunderts”. Der Europarat sprach schon von einer “schleichenden Pandemie”.
“Wann immer Lebensmittel Grenzen überschreiten, ist das eine Gelegenheit für Betrug”, stellt Spink klar. Dabei geht es um nachgemachte Schokopralinen renommierter Hersteller, um verbotene Färbungen, die aus billigem Fischabfall Kaviar werden lassen, oder auch um konventionelle Produkte, denen ein “Bio”-Label aufgeklebt wird.
Im schlimmsten Fall ist das nicht einfach nur Betrug, sondern der Verbraucher wird mit Allergenen, Krankheitserregern und Giften konfrontiert. Spink nennt ein paar Fälle aus der jüngsten Zeit, die in den Vereinigten Staaten für Aufsehen sorgten: Catfish, in dem sich verbotene Antibiotika fanden. Bakterienverseuchte Jakobsmuscheln. Mit Methanol versetzter Alkohol. Verschiedene Produkte – vor allem Soßen, Suppen, Gewürzmischungen und Chilizubereitungen -, die mit dem krebserregenden Farbstoff Sudanrot behandelt worden waren. Und während man im vergangenen Herbst in Deutschland bangte, dass chinesische Babynahrung auf den deutschen Markt gelangt sein könnte, hatten die Amerikaner schon 2007 ihren großen Melamin-Skandal: Damals waren allerdings keine Menschen gefährdet. Das Gift Melamin, das einen höheren Proteinanteil vortäuscht, wurde nur in Hunde- und Katzenfutter gefunden; mehr als hundert Tiere starben an Nierenversagen. Der Stoff stammte aus chinesischen Getreideimporten. Der Fall zog eine Diskussion über die Sicherheit von Lebensmitteln aus China nach sich und schürte den Verdacht, auch Produkte für den Menschen könnten betroffen sein.
Ein weiterer Redner, Joseph Scimeca vom internationalen Lebensmittelkonzern Cargill, zeigt anhand eines Beispiels, wie schwierig es ist, überhaupt den Weg nachzuvollziehen, den ein Lebensmittel hinter sich hat, wenn es den amerikanischen Markt erreicht. So wurde kürzlich ein Fall entdeckt, in dem fast zwei Millionen Liter Honig in China produziert wurden, in Singapur mit dem Etikett “Australian” versehen und dann nach Los Angeles verschifft. Ganze 15 Prozent der amerikanischen Nahrungsmittel stammen aus Importen. Nur ein Prozent können aber überprüft werden und nur von 0,3 Prozent werden Proben genommen, die man dann Labortests unterzieht. Allerdings, sagt Scimeca, gebe es noch keine Hinweise darauf, dass importierte Nahrungsmittel tatsächlich ein größeres Risiko darstellen als die, die im Land produziert werden.
Stephen Solomon von der Food and Drug Administration (FDA), der amerikanischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, spricht jedoch immerhin von einem steigenden Risiko: Importierte Produkte, insbesondere auch Fertignahrungsmittel, unterliegen einer steigenden Nachfrage, zugleich gibt es immer mehr besonders gefährdete Verbraucher, die alt oder immunsupprimiert sind. Generell handele es sich aber bei der Frage um Lebensmittelsicherheit auch um ein kulturelles Problem, sagt Solomon. Die FDA baut deshalb zurzeit Niederlassungen in China, Indien, Europa und Lateinamerika auf, um die Gepflogenheiten in den Herkunftsländern der Produkte besser zu verstehen und die kritischen Punkte in der Lebensmittelkette zu erkennen. Auch Westeuropa und die Vereinigten Staaten produzieren bisweilen aneinander vorbei: Den Amerikanern ist es bis heute nicht gelungen, hormonbehandeltes Rindfleisch auf den EU-Markt zu bringen, obwohl es in den Vereinigten Staaten anstandslos akzeptiert und konsumiert wird; die Einfuhr in EU-Länder ist schlicht verboten. Erst im Januar entbrannte darüber erneut ein Streit; die amerikanische Regierung drohte mit Strafzöllen für verschiedene europäische Produkte. Der Konflikt schwelt seit Jahren; eine Entscheidung steht noch aus.