Ab heute, dem 1. April 2009, erhalten Ferkel in Deutschland ein Schmerzmittel, bevor man sie kastriert.
Für die Landwirtschaft und viele Tierschützer bedeutet diese Neuregelung einen fundamentalen Wandel. Eine jahrelange Diskussion ging der Entscheidung voraus. Männliche Ferkel werden seit Jahrhunderten kastriert, um zu verhindern, dass ihr Fleisch den sogenannten Ebergeruch annimmt. Das an Urin erinnernde Aroma entsteht durch einen Cocktail von Substanzen, allen voran das Hormon Androstenon, das im Hoden gebildet wird. Deshalb kastriert man die Tiere vor der Geschlechtsreife. Ohne Betäubung ist das nach dem Deutschen Tierschutzgesetz nur in der ersten Lebenswoche erlaubt. Der Landwirt greift das Ferkel dazu aus der Gruppe heraus, schneidet mit einem Skalpell die Haut auf, durchtrennt den Samenstrang und entfernt die Hoden. Der Eingriff dauert etwa fünf Sekunden. Dann wird das Ferkel zurück zu seinen Geschwistern gesetzt. 100 Millionen Ferkel werden auf diese Weise jedes Jahr in der gesamten EU kastriert, 25 Millionen davon in Deutschland.
Die Diskussion um die Ferkelkastration ist komplex und berührt die verschiedensten Punkte – von den Fortschritten der Verhaltensforschung über die unterschiedlichen Rollen der Landwirtschaft in den europäischen Ländern bis hin zur sich wandelnden Haltung der Gesellschaft in Tierschutzfragen: Allein die Tatsache, dass Ferkel bisher nur in der ersten Lebenswoche ohne Betäubung kastriert werden durften, erinnert an den veralteten Standpunkt, sehr junge Individuen hätten noch keine ausgereifte Schmerzwahrnehmung. Diese Sichtweise ist in anderen Bereichen längst revidiert worden. Nur bei Nutztieren, die in sehr großen Zahlen “Routineeingriffen” unterworfen sind, bemüht man sie erneut. Jahrelang durfte man die Ferkel sogar in den ersten vier Lebenswochen ohne Betäubung kastrieren. Erst 2006 änderte sich dieser Passus im Deutschen Tierschutzgesetz, und die Zeitspanne verkürzte sich auf eine Woche. Den Eingriff ganz zu verbieten oder die Betäubung zur Pflicht zu erheben, konnte sich damals noch niemand vorstellen – obwohl die Diskussion um den ethischen Aspekt des Eingriffs längst begonnen hatte.
Auch jetzt ist die Schmerzmittelgabe vor der Kastration keine gesetzlich verankerte Pflicht – noch nicht. Die Vorgabe gilt für alle Betriebe, die mit einem Zertifikat des Prüfsystems QS arbeiten. Das Qualitätssicherungssystem QS ist ein Interessenverband, dem sich Lebensmittelerzeuger und -verkäufer auf verschiedenen Stufen angeschlossen haben. Die Landwirte, die für das System produzieren, müssen sich verpflichten, Ferkeln von nun an ein Schmerzmittel zu spritzen, bevor sie zum Skalpell greifen. Etwa 90 Prozent der Ferkel in Deutschland werden in Betrieben geboren, die Produkte für das QS-System erzeugen.
Das Schmerzmittel wird kurz vor der Kastration in die Nackenmuskulatur der Tiere gespritzt. Man verwendet ein nichtsteroidales Antiphlogistikum, etwa Meloxicam, das in der Tiermedizin gebräuchlich ist. Meloxicam wurde auch in der bekanntesten Studie zum Thema verwendet, die von den Gegnern der betäubungslosen Kastration immer wieder zitiert wird. Die Veterinärmedizinerin Susanne Zöls zeigte 2006 in einer Untersuchung an der LMU München, dass der Stresshormonspiegel im Blut bei betäubungslos kastrierten Ferkeln deutlich mehr ansteigt als bei Tieren, die ein Schmerzmittel erhalten. In ihrem Versuch kastrierte Zöls eine Gruppe Ferkel ohne Betäubung. Einer zweiten Gruppe wurde kurz vor der Kastration Meloxicam gespritzt. Eine dritte Ferkelgruppe wurde nur eingefangen und kurz festgehalten. Vor und nach der Kastration wurde das Stresshormon Cortisol im Blut aller Tiere gemessen. Die Cortisolwerte waren bei den ohne Betäubung kastrierten Tieren noch vier Stunden nach der Operation stark erhöht; bei den anderen beiden Gruppen waren sie deutlich niedriger. Zöls erhielt für diese Studie den Schweisfurth-Forschungspreis für artgemäße Nutztierhaltung der Internationalen Gesellschaft für Nutztierhaltung.
Längst sind auch andere Verfahren zur Schmerzreduzierung in Gebrauch. In den Niederlanden versetzt man die Ferkel mit Kohlendioxid, in der Schweiz mit dem Narkosegas Isofluran in eine Vollnarkose. Außerhalb Europas erhalten männliche Schweine in mehreren Ländern eine Impfung, die die Bildung der Geschlechtshormone unterdrückt – beispielsweise in Australien oder Mexiko.
Kritiker halten die deutsche Variante für eine Mogelpackung. Eine Online-Umfrage unter 250 Nutzern einer Veterinärmedizin-Website ergab, dass 61 Prozent der Teilnehmer die Lösung für “Augenwischerei” halten. Tatsächlich wird der Schmerz während der Operation kaum gemildert, nur der Wundschmerz, unter dem die Ferkel in den Stunden nach dem Eingriff leiden. Auch fiebersenkende und entzündungshemmende Eigenschaften des Schmerzmittels könnten den Tieren dann zugute kommen.
Eine unvollkommene Lösung also – die zeigt, welche Schwierigkeiten die jahrelange Debatte deutlich gemacht hat. Kaum ein Betäubungsverfahren schien ideal. Narkosegase müssen mindestens zehn Minuten anfluten, bevor das Ferkel operiert werden kann – in Deutschland, dem Land mit der größten Schweinefleischerzeugung Europas, galt das als unhaltbar bei einem Eingriff, der bisher im Akkord bei riesigen Tierzahlen erfolgte. In der Schweiz, wo eigens Narkosemasken entwickelt wurden, die auf Ferkelschnauzen passen, lehnt man Kohlendioxid ab: Studien haben ergeben, dass die Tiere in der Eintrittsphase in die Narkose heftige Abwehrbewegungen zeigen. In Norwegen spritzt man ein lokal wirkendes Schmerzmittel in den Hoden. Da diese Applikationsform einiges Können erfordert, muss für jeden Eingriff ein Tierarzt gerufen werden – das gilt als undurchführbar in Ländern mit größeren Mastschweinezahlen wie Deutschland. In Norwegen werden jährlich nur etwa 700.000 männliche Ferkel geboren.
Generell offenbarte die Diskussion, wie unterschiedlich man in Europa mit der Problematik und auch mit dem Thema Tierschutz allgemein umgeht. 2007 wurde das Expertennetzwerk “Pigcas” gegründet, das die Europäische Kommission beim Ausstieg aus der Kastration ohne Betäubung beraten sollte. Anfang 2009 hat Pigcas seinen Abschlussbericht eingereicht. Schon zuvor enthüllten mehrere Zwischenberichte überraschende Details über die Handhabung der Kastration in den verschiedenen Ländern. Erste Ergebnisse zeigten ein sehr heterogenes Bild. So unterzieht man die Schweine in Großbritannien und Irland traditionell einer Kurzmast und schlachtet sie vor Erreichen der Geschlechtsreife, weshalb auf die Kastration verzichtet wird. Und in Portugal, Spanien und Zypern wird überhaupt nur ein Drittel aller Eber kastriert – Ebergeruch hin oder her. Die “Pigcas”-Experten mussten außerdem feststellen, dass jenseits der Frage, ob die Kastration ohne Betäubung noch zeitgemäß ist, sonstige Tierschutzverstöße auftreten – vermutlich viel mehr, als bei Umfragen in den Mitgliedsländern überhaupt zum Vorschein kamen. So wird die Altersgrenze von sieben Tagen häufig nicht eingehalten und die Tiere werden später kastriert.
Jetzt, nach Abschluss des Pigcas-Projektes, rechnen die Experten über kurz oder lang damit, dass die Kastration vollständig verboten wird. Wenn die Technik soweit ist, könnten elektronische Nasen im Schlachthof die Eber mit Geruch – nur ein Drittel prägt das Aroma überhaupt aus – herausfiltern. Durch “Sperma-Sexing” ist es vielleicht eines Tages möglich, nur weibliche Tiere zu erzeugen. Oder man könnte den Ebergeruch wegzüchten. Noch scheitert letzteres daran, dass Eber ohne Geruch meistens auch weniger fruchtbar sind, so dass sich keine Zuchtlinie aufbauen lässt.
Eines aber wird von niemandem mehr öffentlich bezweifelt: Dass die Ferkel starke Schmerzen empfinden, wenn sie kastriert werden. Noch vor wenigen Jahren hielt man es für möglich, dass das schrille Quieken während des Eingriffs einem Reflex geschuldet ist. Die Ferkel schreien nämlich schon, sobald sie festgehalten werden – bevor sie das Skalpell überhaupt spüren. Vermutlich handelt es sich um einen angeborenen Mechanismus, um Feinde abzuwehren, oder um die massige Muttersau zu warnen, falls sie versehentlich eins der vielen Jungtiere zu zerquetschen droht. Vor vier Jahren veröffentlichten aber Wissenschaftler vom Forschungsinstitut für die Biologie landwirtschaftlicher Nutztiere (FBN) eine Studie, die diese Sichtweise korrigierte. Die Verhaltensbiologen entwickelten ein Gerät, um Ferkelschreie vor und während der Kastration zu analysieren. Sie kamen zu dem Schluss, dass während der chirurgischen Prozedur mehr hochfrequente Schreie auftraten als vor und nach dem Eingriff. Außerdem ändert sich auch die Lautqualität: Die Forscher verzeichneten eine höhere Reinheit der Laute und insgesamt längere Schreie.
Die Erkenntnisse, die man durch Studien wie diese gewonnen hat, machten es überhaupt erst möglich, die Ferkelkastration neu zu diskutieren. Letztendlich führten sie zu der Neuregelung, die ab dem 1. April Schmerzmittel vorschreibt. Offen bleibt, was die Zukunft hinsichtlich der anderen schmerzhaften Eingriffe bringen wird, die das Tierschutzgesetz noch immer ohne jede Narkose oder Schmerzblockade zulässt: So werden den Ferkeln im Alter von wenigen Tagen routinemäßig die Eckzähne abgeschliffen und die Schwänze gekürzt. Männliche Rinder, Schafe und Ziegen können in den ersten vier Lebenswochen ohne Betäubung kastriert werden. Bisher wurden diese Operationen öffentlich noch nicht in gleicher Weise diskutiert wie die Ferkelkastration. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass zumindest die Eingriffe bei Schafen, Rindern und Ziegen nicht die Regel sind, denn Schaflämmer werden oftmals vor der Geschlechtsreife geschlachtet und deshalb auch nicht kastriert, und bei Rindern ist immer noch die Bullenmast verbreitet, nicht aber die Ochsenmast. Deshalb ist eine geringere Zahl an Tieren betroffen. Wenn die Schmerzwahrnehmung bei Tieren aber grundsätzlich neu bewertet wird, wie es angesichts der Debatte um die Ferkelkastration aussieht, und wenn Tierschutz der Lebensmittelwirtschaft mittlerweile als Qualitätskriterium gilt, dann ist es an der Zeit, auch diese Eingriffe zu überdenken.