“Raketen-Antrieb” oder “Kometen-Schweif”: Es klingt geradezu beeindruckt, wenn Mikrobiologen über das Bakterium Listeria monocytogenes sprechen. Dabei wollen sie nur die extreme zerstörerische Kraft veranschaulichen, die den Listerien innewohnt: Die weniger als zwei Mikrometer langen, an den Enden abgerundeten Stäbchen bewegen sich außerhalb eines menschlichen oder tierischen Körpers bei Zimmertemperatur langsam mit dem sanften Flügelschlag ihrer Geißeln fort. Wenn sie jedoch – etwa mit der Nahrung – in den Körper eines Wirtes eingedrungen sind und es bis in die Körperzellen geschafft haben, benutzen sie Zellbausteine, um sich mit rasender Geschwindigkeit fortzubewegen. Dabei hinterlassen sie ein Trümmerfeld. Im elektronenmikroskopischen Bild fühlt man sich beim Anblick der Listerien innerhalb von Zellen an Kometenschweife erinnert: Die Bakterien versammen Aktinfilamente, also Bestandteile des Zellskeletts, das die Zelle aufspannt und stabilisiert, hinter sich, um sich damit durch das Wirtsgewebe schieben zu lassen.
Die zerstörerischen Fähigkeiten von Listeria monocytogenes wurden nun sechs Menschen zum Verhängnis, die Sauermilchkäse eines österreichischen Herstellers verzehrt hatten. Mindestens einer davon gehörte zu den Risikogruppen (den YOPIS: Young, Old, Pregnant, Immunosuppressed), für die Listerien in Lebensmitteln eine besondere Gefahr darstellen: Der Burgenländer war 88 Jahre alt und chronisch krank.
Abb.: Listeria monocytogenes
Routinemäßig prüfen die Veterinäruntersuchungsämter nicht nur verschiedene Käsesorten und Rohmilchprodukte, sondern vor allem auch vakuumverpackten, gekühlten Aufschnitt und Räucherfisch auf Listerien: Die Bakterien sind nämlich Alleskönner, trotzen selbst Kühlschrankkälte und Sauerstoffknappheit. Sie geraten in ein Lebensmittel durch das infizierte Tier, von dem es stammt – etwa über mit Kot verunreinigte Milch, die danach nicht erhitzt wird, also Rohmilch und die Produkte daraus. Aber auch Gemüse-Rohkost und Salat können mit Listerien behaftet sein, wenn Biodünger ausgebracht worden ist. Tierische Lebensmittel können auch sekundär kontaminiert werden – wenn man z.B. Geflügelsaft versehentlich über eine Käseplatte schwappen lässt. Ähnliche Fehler sind auch bei der Produktion denkbar. Allerdings soll der Käse aus Österreich, der im aktuellen Fall verantwortlich ist, Rohmilchkäse gewesen sein.
Auf die Spur des österreichischen Käses kam man über die Einkaufszettel der Erkrankten. Bei dem “Killer-Käse” (Bildzeitung) handelt es sich um “Reinhardshof, Harzer Käse” und “Reinhardshof, Bauern-Handkäse mit Edelschimmel”. Beide Sorten sind Sauermilchkäse und somit aus Sauermilchquark hergestellt. Anders als bei Hart-, Schnitt- oder Weichkäse wird Sauermilchkäse mit wenig Lab, dafür aber viel Säuerungskultur hergestellt. Sauermilchkäse ist billig, aber auch fettarm (er wird nur in der Magerstufe hergestellt) und proteinreich. Typische Sorten sind “Harzer Roller” oder “Olmützer Quargel”.
Über den Listerienbefall ihrer Produkte soll das österreichische Herstellerunternehmen Prolactal schon mehrere Monate lang infomiert gewesen sein, bevor die Behörden im Januar die Quelle für die Listerieninfektionen entdeckte. Die Supermarktkette Lidl nahm die betroffenen Käsesorten sofort aus den Regalen.
Bisher rückte das Bakterium Listeria monocytogenes nur selten ins Interesse der Öffentlichkeit. Verbraucher fürchten sich mehr vor Salmonellen, Dioxin oder Gensoja. Lediglich in Schwangeren-Foren sind Listerien ein ständiges Thema. Werdende Mütter suchen Expertenrat, nachdem sie etwa ihre mit Käse belegten Pausenbrote stundenlang in der Tasche aufbewahrt oder an der Käsetheke ein Stück Gorgonzola probiert haben. Kein Wunder, dass Schwangere sich sorgen: Sind Listerien einmal im Darm eines besonders verwundbaren Menschen (YOPIS, s.o.), dringen sie in die Blutbahn ein und nehmen von hier Kurs auf ihre bevorzugten Zielorte: das Gehirn (Listerien-Meningoenzephalitis) und die Plazenta (Fehlgeburten, Geburt toter oder lebensschwacher Säuglinge). Jährlich sind zwischen 20 und 40 Neugeborene betroffen. Die Infektionen finden saisonal gehäuft im Frühling und Sommer statt. Hat sich die Mutter erst einmal infiziert und wird die Infektion, die wie ein grippaler Infekt verläuft, überhaupt bemerkt, ist es noch möglich, Antibiotika zu nehmen, um den Fetus zu schützen. Infiziert sich das Ungeborene und überlebt, fallen nach der Geburt meist Trinkschwäche, Atemnot, Erbrechen oder Krämpfe auf.
Allgemein, nicht nur unter Schwangeren, steigt die Zahl der Listeriosefälle an – zwischen 2001 und 2005 zum Beispiel von 200 auf mehr als 500 Fälle im Jahr. Die Ursache für den Anstieg ist ungeklärt. Allerdings haben immer mehr Menschen eine Vorliebe für naturbelassene Lebensmittel, etwa aus Rohmilch.
Und die hat es in sich: Wenn Fachleute für Lebensmittelhygiene Milchproben von Höfen untersuchen, fanden sich in den vergangenen Jahren beachtliche Keimzahlen. So wurden in einer im Jahr 2000 publizierten Berliner Untersuchung immerhin in 10 Prozent der Proben von roher Milch direkt vom Bauernhof Listerien nachgewiesen. Ausbrüche, bei denen Menschen an Listeriose erkrankten, gingen in den vergangenen Jahrzehnten auf ganz unterschiedliche Milchprodukte zurück – darunter waren durchaus auch solche aus pasteurisierter Milch. Ein kurzer Blick in die Geschichte beweist das: Schlagsahne war 1981 in England der Auslöser, Weichkäse in den Vereinigte Staaten 1985 und in Großbritannien 1987. Vacherin Mont d `Or verursachte mehrere Ausbrüche in der Schweiz zwischen 1983 und 1987. An Camembert infizierten sich in Belgien 1986 Menschen mit Listeriose, an Brie de Meaux in Frankreich im Jahr 1995 (Quelle ist eine Studie der Universität Leipzig zur mikrobiologischen Qualität von Milch und Milchprodukten).
Der letzte große...
Der letzte große Listerioseausbruch in der westlichen Welt ereignete sich in Kanada im Sommer / Herbst 2008 mit 22 offiziell bestätitgten Todesopfern. Die großangelegten Untersuchungen der Gesundheits- und Nahrungsmittel-Überwachungsbehörden ergaben jedoch, daß nicht Milch-, sondern ausschliesslich Fertig-Fleischprodukte kontaminiert waren. Der Befall erfolgte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit über verseuchte (Cellophan-) Verpackung. Ohne den jüngsten Fall genauer zu kennen, halte ich es zunächst einmal für irreführend, eine angenommene wachsende Vorliebe für Rohmilchprodukte mit dem Anstieg von Liseriosefaellen in einen kausalen Zusammenhang zu setzen. Vielmehr fällt auf, daß in den meisten Fällen industriell verarbeitete Nahrungsmittel kontaminiert waren. Vielleicht sollte das Augenmerk doch eher auf die hygienischen Bedingungen in den industriellen Anlagen und auf die Einzelhandelsketten, deren Preisdruck diese Bedingungen sicherlich nicht positiv verändern, gerichtet werden.