“All I ever want to be is a world famous, humble little country doctor.” (Linus von den Peanuts)
An Fachbereichen, die neben einer Zulassung von Studenten mit Hilfe des Numerus clausus auch ein eigenes Auswahlverfahren durchführen, ist oft die Rede von sogenannten “biographischen Fallen”. Vor diesen Fallen will man junge Menschen schützen, die sich wünschen, Maschinenbauingenieur, Sportwissenschaftler, Tierarzt, Betriebswirt, Apotheker zu werden – oder eben Arzt. Die Hochschullehrer und Fachschaftsvertreter, die sich zu kleinen Komitees zusammenfinden, um Abiturienten mit nicht ausreichend gutem Notendurchschnitt über ihre Urlaubsziele, das letzte gelesene Buch oder den Grund für die Abwahl des Faches Chemie nach der zehnten Klasse auszufragen, kennen Schicksale wie das von “jeannine271082”, einer Göttinger Medizinstudentin, die im Ärzteforum medi-learn.de schreibt, sie sei zum dritten Mal durch eine Prüfung im Fach Physiologie gefallen und nun exmatrikuliert worden. Der Prüfer habe ihr gesagt, “ich solle es doch in Wien oder in Ungarn probieren”, schreibt die junge Frau deutlich verzweifelt.
Zwei, drei, vier oder mehr Jahre studiert und dann doch ohne Abschluss exmatrikuliert – das ist mit dem Ausdruck “biographische Falle” gemeint. Seit die Hochschulen 60 Prozent ihrer Studierenden selbst auswählen dürfen, können sie den Schwarzen Peter nicht mehr ausschließlich der ZVS zuschieben, die ihnen die falschen Studenten geschickt hat. 2005 wurde die 60-Prozent-Regelung eingeführt. Seitdem evaluieren die Fachbereiche, die von ihr Gebrauch machen, was das Zeug hält: Sie lassen ihre Auswahlmethode wissenschaftlich begleiten, etwa von Doktorarbeiten, die hinterfragen, ob die durch das eigene Verfahren ausgewählten Studenten vergleichbare Leistungen erbringen wie die 20 Prozent “Abiturbesten”, die nach wie vor von der ZVS geschickt werden: Bei ihnen zählt nur die Abiturnote, die daher in jedem Fall besser ist als die aller anderen: der 60 Prozent von der Uni Ausgewählten und der 20 Prozent, die Wartesemester gesammelt haben. Wer im vergangenen Wintersemester 2009/2010 einen Studienplatz in Humanmedizin bekommen wollte, ohne auf Wartesemester oder das Auswahlverfahren der Hochschulen zu vertrauen, der brauchte ein Abitur zwischen 1,0 und 1,2, je nach Bundesland.
Die Analysen, die unterschiedliche Fachbereiche bisher zu ihren Auswahlmethoden anfertigen ließen, überprüfen die Beziehung zwischen dem Studienerfolg und den jeweiligen Auswahlkriterien. Als Kriterien herangezogen werden je nach Fach und Universität die Abiturnote, die Noten in speziellen Schulfächern (etwa den Naturwissenschaften), der persönliche Eindruck bei einem Auswahlgespräch, Sonderleistungen wie ein Sieg auf Bundesebene bei “Jugend forscht” oder “Jugend musiziert”, gesellschaftliches Engagement, die Punktzahl bei Studierfähigkeitstests oder absolvierte Berufsausbildungen.
Welche prognostische Validität das Kriterium “Bereitschaft, später als Landarzt tätig zu werden” mit sich bringt, ist bisher an keiner medizinischen Fakultät untersucht worden. Und doch schlägt Gesundheitsminister Rösler vor, dieses Kriterium neu einzuführen und bei denjenigen, die es erfüllen, die Abiturnote zu vernachlässigen. Bisher wird sie nicht mal bei den 60 Prozent im Auswahlverfahren Zugelassenen völlig ignoriert, im Gegenteil: Zu 51 Prozent muss der Abischnitt in die Beurteilung des Bewerbers einfließen.
Man kann deshalb im Hinblick auf jene gefürchteten biographischen Fallen mit Recht fragen: Was wird mit jungen Leuten passieren, für die man den NC lockert, sofern sie im Gegenzug als Landarzt arbeiten wollen? Vor dem Arztberuf steht immer noch das Medizinstudium – ein Fach, in dem das Standardlehrbuch mit dem Examensstoff schlicht “Das Hammerexamen” heißt.
Die Möglichkeit, die Studenten nicht ausschließlich nach ihrem Abiturdurchschnitt aufzunehmen, verunsichert einige medizinische und auch andere Fachbereiche bis heute derart, dass sie auf ihr Recht verzichten und die 60 Prozent auch von der ZVS auswählen lassen – es sind dann einfach die “Nächstbesten” nach den “Abiturbesten”. Diejenigen Fakultäten, die das Auswahlverfahren nutzen, haben bei der Analyse der Ergebnisse der unterschiedlichen Studentengruppen Bemerkenswertes herausgefunden. Die Frankfurter Humanmediziner etwa wissen jetzt, dass Studenten, die die Fakultät selbst ausgewählt hat, später in ihren Klausuren schlechter abschneiden als die Abiturbesten. Die Medizinerfakultät verteilt die 60 Prozent Plätze, die sie selbst vergeben darf, zum größten Teil an Bewerber, deren Abiturnote zu schlecht für die ZVS-Vergabe ist, die ihren Schnitt aber durch einzelne gute Noten in naturwissenschaftlichen Fächern und Fremdsprachen verbessern können. Ein kleiner Teil der Plätze geht auch an Bewerber, die hervorragende außerschulische Leistungen nachweisen können – etwa Gewinner bei “Jugend musiziert” auf Bundesebene oder Sportler im Olympiakader. Diese Gruppe wird zu einem Gespräch eingeladen. Bei der Auswertung der Klausurergebnisse im späteren Studium zeigte sich, dass den Abiturbesten im Leistungsvergleich die über spezielle Schulnoten Ausgewählten folgten. Danach kamen die über Sonderleistungen ausgesuchten Studenten, mit denen man ein Auswahlgespräch geführt hatte. Noch häufiger als die Gesprächsteilnehmer fielen nur diejenigen durch die Prüfungen, die den Platz dank ihrer Wartezeit bekommen hatten.
Durch solche Erkenntnisse wachsen die Zweifel am Auswahlverfahren der Hochschulen – vor allem an der Aussagekraft von Auswahlgesprächen. An der Uni Mainz hat man sich aus solchen Gründen schon wieder von Gesprächen abgewandt. Sie seien höchst subjektiv, stellt man bei der Abteilung Studium und Lehre fest. Wer vom Wintersemester 2010/11 an zu den 60 Prozent Medizinstudenten gehören will, die sich die Uni Mainz selbst aussucht, muss den in Baden-Württemberg gebräuchlichen „Test für Medizinische Studiengänge” (TMS) absolviert haben. Die Uni erstellt dann eine Rangliste, in die die Abiturnote zu 51 Prozent und das TMS-Ergebnis zu 49 Prozent einfließen.
Auswahlgespräch im Fach Pharmazie in Frankfurt, August 2009:
Das Gespräch als Auswahlmethode stellt auch eine gemeinsame Studie der Universitäten in Hamburg, Münster und Heidelberg aus dem vergangenen Jahr in Frage. Die Autoren der Untersuchung bewerteten die Validität unterschiedlicher Auswahlverfahren für das Medizinstudium. “Lediglich für die Abiturnote und einige Studierfähigkeitstests zeigen viele Studien eine akzeptable prognostische Validität zumindest in Bezug auf den Studienerfolg”, schrieben die Wissenschaftler. Als Fazit empfehlen sie, in Auswahlverfahren neben der Abiturnote auch die Ergebnisse studienfachspezifischer schriftlicher, in der Zahnmedizin auch praktischer Tests, zu verwenden. Auswahlgespräche könnten lediglich sinnvoll sein, um Studienbewerber emotional stärker an die Fakultät zu binden.
Das Abitur also weiterhin als Bastion, die nicht fallen sollte? Man kann die Ergebnisse so deuten. Nicht vergessen werden sollte, mit welchem Arbeitspensum ein Medizinstudium verbunden ist, welch ungeheure Gedächtnisleistung die Studenten zu erbringen haben. Es besteht kein Zweifel, dass es dennoch genug junge Leute mit mäßigem Abitur geben wird, die eine ständige Überforderung auf sich nehmen würden, um schließlich sogar den unpopulären Job eines Landarztes auszufüllen – zu Arbeitsbedingungen, die die derzeitige Gruppe der jungen Ärzte nicht bereit ist zu akzeptieren. Kommt die Landarztquote, dann wird es auch “Landarzt-Studenten” geben.
Für angehende Ärzte ist die Sache klar: Sie lehnen eine Quote für künftige Landärzte fast einhellig ab. Im Forum medi-learn.de diskutieren seit Tagen Medizinstudenten über Philipp Röslers Vorstoß. Fast 20.000 Aufrufe hat der Beitrag zum Thema schon. Statt einer Landarztquote fordern die Studenten hohe Gehälter und günstige Arbeitsbedingungen für Ärzte, die aufs Land ziehen: Einzig auf diese Art seien die jungen Mediziner zu motivieren. “Wenn es irgendwo auf der Welt einen Job gibt, den keiner machen will, dann muss man mehr Geld dafür zahlen oder den Job ändern”, notiert der Medizinstudent “Rico”. “Linda1001” schreibt süffisant über Rösler und seine Idee: “Als Arzt, der er ist, sollte er eigentlich wissen, dass man nicht nur symptomatisch behandeln kann.” Andere Studenten mutmaßen, dass die Landarztquote Kindern aus wohlhabenden Familien den Weg zum Studienplatz ebnen wird. Angenommen wird, dass jemand, der nach dem Examen den Vertrag bricht und doch nicht Landarzt wird, eine Geldstrafe zahlen muss. Einige Studienbewerber wüssten eben schon im Voraus, dass sie sich das werden leisten können.
Nicht zuletzt wird ein Eingriff in die Auswahlkriterien die Gruppe der Ärzte verändern – mit allen Konsequenzen, die eine neue Gruppenzusammensetzung für einen Berufsstand haben kann. Längst ist bekannt, was es mit sich bringt, wenn in einen Beruf etwa vermehrt Frauen strömen: Die Gehälter und der Status sinken. Wohin sich der Arztberuf entwickelt, wenn die Zugangsvoraussetzungen sich drastisch ändern, bleibt noch dahingestellt. Schon jetzt kann man sich aber vorstellen, wie Kommilitonen vor dem Präpsaal plaudern: “Studierst du auch auf Landarzt?” – “Nein, ich habe die Zulassung so geschafft.” Der Ausdruck Zwei-Klassen-Medizin gewinnt so eine völlig neue Bedeutung.