Wie soll die Welt mit Nahrungsmitteln versorgt werden, wenn bis Mitte dieses Jahrhunderts die Weltbevölkerung auf neun Milliarden anwächst? Ein relevanteres Thema für eine wissenschaftliche Diskussion ließe sich hier bei der ESOF-Konferenz in Turin wohl kaum finden, zumal wenn es Mythen zu dekonstruieren gilt wie den, das globale Ernährungsproblem sei lediglich eines der Verteilung.
Zum Gähnen – und doch eigentlich so wichtig!
Doch selbst wenn die Forscher hier – moderiert durch Pallab Ghosh, einen britischen Star unter den Wissenschaftsjournalisten – nebenbei noch die Lottozahlen der nächsten Woche verkündet hätten: Keiner hätte davon Wind bekommen. Denn trotz der relevanten Frage und überzeugender Forschungsergebnisse gelang es vor allem zwei der drei Redner, Gianluca Brunori aus Italien und Salvatore Ceccarelli aus Syrien, ihre Zuhörer mit langatmigen Präsentationen bis zum Tränen-Gähnen einzulullen – unter ihnen Dutzende Journalisten, die für renommierte Medien in den USA, in Großbritannien und China arbeiten.
Wer will da an die These einer zunehmenden Medialisierung glauben, nach der sich Wissenschaftsjournalisten einer immer stärker werdenden Übermacht von PR- und Marketingabteilungen gegenübersehen, gegen deren hochprofessionelle Arbeit kein Kraut gewachsen scheint? Und doch herrscht Alarmstimmung und Andrang selbst auf die Stehplätze bei einem Workshop in einem Nebenraum des Turiner Kongresszentrums, als sich die Wissenschaftsjournalisten treffen, um ihre eigene Arbeit kritisch zu beleuchten.
Immer auch ein bisschen Nabelschau
Die großen Wissenschaftskonferenzen, vor allem jene der American Assocation for the Advancement of Science (AAAS) und das European Science Open Forum (ESOF), gleichen Jahrmärkten, auf denen Wissenschaftler und Journalisten, Wissenschaftsfunktionäre und Unternehmensvertreter zusammenkommen. Dazu gehört immer auch eine gewisse Nabelschau. Funktionäre der EU-Forschungsförderer evaluieren ihre neue Strategie, auch mal ziellose Exploration zu fördern, um neue Lösungen für globale Probleme zu generieren. Die Unternehmer gehen der Frage nach, wie wissenschaftliche Erkenntnisse schneller in Patente, Marktanteile und Gewinne übersetzt werden können, und lassen Forscher und Manager beim „European Business Research Speed Dating” aufeinander los. Die Wissenschaftler beleuchten, warum junge Menschen oft spätestens nach der Promotion die Wissenschaft verlassen und auf andere Karriereoptionen setzen – oder warum sie erst gar nicht in naturwissenschaftlichen Fächern ankommen. Und die Reporter gehen der Frage nach, ob sie womöglich zu zahm sind, um Missstände in der Wissenschaft aufzudecken.
„Wir sind Journalisten, nicht Wissenschaftler, und haben in dieser Rolle auch eine Funktion zu erfüllen”, sagt Alexander Mäder, der für die deutsche „Wissenschaftspressekonferenz” diese Session organisiert hat. Das Wissenschaftsmagazin Nature hat sich unlängst die Frage erlaubt: „Seid ihr Cheerleader oder Wachhunde?” Vor allem eine zunehmende Ressourcen-Asymmetrie scheint Redaktionen in ganz Europa in Alarmstimmung zu versetzen.
Institute machen PR vor allem, um ihre Position zu sichern, nicht um die Öffentlichkeit zu erziehen
Hans-Peter Peters vom Forschungszentrum Jülich liefert die Fakten: Wissenschafts-PR wächst, sie ist mit immer mehr finanziellen Mitteln ausgestattet, und sie verfolgt strategische Interessen. Man will die eigene Position legitimieren, oder durch mediengerechte Verpackung einer Fragestellung die Chancen auf eine Veröffentlichung in renommierten Journalen wie Science oder Nature erreichen – professionelles Themenmanagment ist längst üblich, man könnte von einer Wissenschaftslobby sprechen.
Und Peters betont, was seine Studien noch verraten: Dass der Wunsch, die eigene Arbeit und öffentliche Fördermittel zu legitimieren, sich als Dienstleister am Markt zu positionieren und Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse zu nehmen (in dieser Reihenfolge) weit stärkere Gründe für Institute und Forschungsförderer sind, sich eine PR-Abteilung zuzulegen als der scheinbar naheliegende: Der Wunsch, Wissen in die Öffentlichkeit zu tragen.
Der Lobbyismus ist in der Wissenschaft angekommen – wo ist das Gegengewicht?
Peters findet das alles legitim. Immerhin kann gutes PR-Material Journalisten die Arbeit erleichtern. Doch er fragt sich, ob Journalisten dem genug Gewicht entgegenzusetzen haben, wenn die Grenze zum Lobbyismus überschritten wird. Denn Peters hat herausgefunden, dass auch in der Wissenschaft der unmittelbare Nutzen von Forschungsergebnissen immer häufiger überbetont wird und dass Organisationen gerne übertreiben, wenn sie ihre eigene Rolle auf dem Weg zu diesen Ergebnissen hervorheben. Sein Fazit: Journalisten sind nicht mehr nur gefragt, Wissenschaft zu transportieren – sie müssen sie auch kritisieren.
Doch um dieser Professionalisierung, die seit den Arbeiten von Peter Weingart als „Medialisierung der Wissenschaft” bezeichnet wird, standzuhalten, bräuchten sie mehr Zeit, mehr Geld und mehr Manpower, sagt Peters, und ihm sekundiert Don Powell. Selbst früher Wissenschaftler, ist er heute der PR-Spindoktor beim renommierten Sanger-Institut in Großbritannien. „Für investigative Recherchen haben Wissenschaftsjournalisten, die meist Freiberufler sind, weder Zeit noch Geld”, sagt er. Sie hätten immer mehr Aufgaben zu erfüllen, müssten bloggen und twittern (stimmt!), und Redaktionsschluss ist im Internetzeitalter de facto den ganzen Tag. Von Zeitdruck und der Versuchung, Pressemitteilungen ohne Prüfung zu übernehmen, berichtet auch Patrick Imhasly von der Sonntagsausgabe der Neuen Zürcher Zeitung – das sei besonders im Wissenschaftsbetrieb ausgeprägt, wo lange der Lobbyismus weit weniger verbreitet war als etwa in der Wirtschaft.
Mehr Verräter, bitte!
Copy-Paste-Journalismus also. Doch sind Zeit- und Geldnot und immer neue Pflichten für Online- und Instantberichterstattung nicht in anderen Ressorts noch viel verbreiteter? Und gelingt es nicht Politik- und Wirtschaftsreportern viel häufiger, mit kritischer Berichterstattung tatsächlich den Lauf der Dinge zu beeinflussen? Dafür gibt es im Wissenschaftsjournalismus nur wenige Beispiele. Nur woran liegt das? Vielleicht hat der Zwischenrufer bei der Turiner Diskussionsrunde Recht, der sagt, in der Wissenschaft gebe es keine „Whistleblower” wie im Wirtschafts- und Politikbetrieb, die bei Misswirtschaft, Verschwendung von Forschungsgeldern oder ge-tunten wissenschaftlichen Studien die Medien informierten? Auch wenn es häufig reichen würde, unsere eigenen Hausaufgaben ordentlich zu machen und keiner Pressemitteilung allzu blind zu vertrauen, kann unser Aufruf an alle Insider des Wissenschaftsbetriebs deshalb nur lauten wie der mancher spätnächtlicher Werbespots für heiße Hotlines: „RUFT – UNS – AN!”