Planckton

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Die Wissenschaft ist ein ernstes Geschäft, aber gehört ihr deshalb das letzte Wort?

Die Entomologie des Sommers

Milliarden von Fliegen können nicht irren. Der Sommer ist da, liebe Leser. Draußen vor der Tür gab es gestern schon satte vierundzwanzig Grad. Drinnen...

Milliarden von Fliegen können nicht irren. Der Sommer ist da, liebe Leser. Draußen vor der Tür gab es gestern schon satte vierundzwanzig Grad. Drinnen waren zwar, bei immerhin fünf Grad weniger, die Tastversuche der Sonnenstrahlen immer noch auf flüchtige Augenblicke beschränkt. Aber das Haus war ganz eindeutig zum Tummelplatz für unsere leichtflüchtigen Sommergäste geworden.

Man muss unsere Gäste nicht mögen. Manche Zeitgenossen knottern, die bloße Existenz dieser Biester gemahne sie an die zersetzenden Züge unserer Zeit, und ihr Rufname komme der billigenden Bemäntelung einer schauerlichen Wahrheit gleich – der Wahrheit nämlich, dass diese aus den niedersten Milieus stammenden Geschöpfe ihr milliardenfaches Dasein auf den Resten verrottender Ernten aufbauen. Und es stimmt ja auch, die „Fruchtfliege” ist der antibürgerliche Kostgänger schlechthin. Mit Hang zum Vegetarismus  und ein Fäulnisverwerter wie er im Buche steht. Jedoch: Was ist Schlechtes daran, frage ich Sie, liebe Leser, die Fäule aus der Welt zu schaffen?

Nennen wir sie also leichten Herzens Fäulnisverwerter.

Bild zu: Die Entomologie des Sommers

In unserer Küche, gleich neben dem Kühlschrank, steht eine Holzschale mit den herrlichsten Früchten darin. Ein Festschmaus für die Fliegen. Zur kalten Jahreszeit war es die gleiche Anrichte, frisches Obst allenthalben. Das gebietet der gesunde Bürgersinn. Trotzdem wirkte sie nur halb so einladend. Jetzt wird sie von den Fäulnisvertilgern umschwirrt wie die Sterbenden in der Wüste von den Geiern, und dennoch, man mag es kaum glauben, lacht uns das frugale Gebinde mehr an denn je. Allenfalls ein  Schatten des Ekels fällt auf die Schale mit Birne, Apfel und Banane. Bei der einen mehr, dem anderen weniger. Die Fruchtfliege erkennen wir kaum als große Bedrohung, und wenn ich einen meiner liebsten akademischen Lehrer, den Heidelberger Zoologen Volker Storch befragen müsste, er würde wohl mit Darwin antworten: Gewachsene Koexistenz.

Ganz sicher würde er mich aber ohne Umschweife auf den fälschlichen Gebrauch des Namens hinweisen. Denn bei den Fruchtfliegen, die der versierte Entomologe meint, kann es sich nur um die weitläufige Verwandtschaft der ersatzweise auch als „Bohrfliegen” bezeichneten Tephritidae handeln. Das sind Ungetüme gegen unsere schmächtigen Fruchtlästlinge. Die nannte man früher Most- oder Essigfliegen, der Entomologe seinerseits kennt sie heute besser unter dem Trivialnamen Taufliege – weil ihre Hauptaktivitätszeit in die frühen Morgen- und  Abendstunden fällt. Und wer sich auskennt, dem kommt sofort der Artname Drosophila melanogaster über die Lippen, obwohl es sich bei diesem in biologischen Zirkeln geläufigen Kulturfolger im Grunde nur um eine von mehr als dreitausend Taufliegenspezies  handelt.

Sei’s drum. Unsere häusliche Fruchtfliegen-Kolonie hat jedenfalls einen verifizierbaren  kulturellen Hintergrund. Thomas Hunt Morgan hatte vor hundert Jahren damit begonnen, die flüchtige Obstschalen- und Mülleimer-Bekanntschaft systematisch auszubauen. Er machte mit ihnen die ersten genetischen Experimente. Das Repertoire an Taufliegen-Phänotyopen auf der Erde ist seither um Hunderte teils durchaus fragwürdige Existenzen erweitert worden. Zu den bedauernswertesten  dieser Kreaturen mögen jene zählen, denen anstelle der Beine sprießen oder deren Körperteile derart verkrüppelt bleiben, dass an ein fliegenwürdiges Dasein gar nicht mehr zu denken ist. Sie sind, auch das muss an dieser Stelle gesagt und heute besonders betont werden, strahleninduzierte Mutanten – Strahlenopfer wenn man so will, denn mit ionisierenden Strahlen, gewöhnlich Röntgenstrahlen, lassen sich in den Laboratorien die unterschiedlichsten Ausprägungen, von lebensfähig bis todgeweiht, erzeugen. Arbeiten mithin, die immer schon nobelpreiswürdig waren.

Bild zu: Die Entomologie des Sommers

 

Mit diesen gelegentlich auch Schrecken verbreitenden Opfern des Strahlenfeuers haben unser Fäulnisverwerter nichts zu tun. Im Gegenteil. Sie gerieren sich als erstaunlich unspektakuläre Hausgemeinschaft. Überall anzutreffen und ausnehmend friedlich. Gelegentlich sogar erheiternd. So haben sie sich von mir heute Morgen dabei erwischen lassen, wie sie unter der Hitze der Halogenbeleuchtung auf dem Badezimmerspiegel ihren schwülstigen Ritualen nachgingen. Ein Schauspiel sondergleichen. Mögen es Liebesdramen sein, die sie da auf glatter Bühne aufführten oder nur eitle Gesten vor der spiegelnden Fläche, ihre gekonnten Wendungen wie ihre waghalsigen Flugmanöver zumindest waren zu keiner Sekunde unaufdringlich. Weder langweilig noch anstößig.

Jedenfalls blieben sie allesamt lautlos.

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Was man von dem anderen Frühsommergast, der sich daraufhin Zugang in die Küche verschaffte, keineswegs behaupten kann. Wie der Poltergeist ist er in die gute Stube eingedrungen. Nur viel lauter. Eine paranormale Erscheinung. Früher mag der Mensch an solche Gestalten gewöhnt gewesen sein –  Stichwort gewachsene Koexistenz. Heute schrillen bei dem Gebrumme alle Alarmglocken. Eine Schmeißfliege. Ja, nennen wir sie ruhig beim Namen: Kadaverbrut. Der Jäger kannte das Wort „schmeißen” als Kurzbeschreibung für „Kot auswerfen”. Das sagt alles. Die Schmeißfliege ist meisterlich darin, eine glänzende Fassade aufzubauen. Eine trügerische und gefährliche Rüstung. Ganz anders darin als unseren wendigen, geselligen Fäulnisverwerter aus der Obstschale, deren Lebenszeit gelegentlich allzu schnell in einem künstlichen Cocktail aus Essigsäure und Fruchtkonzentrat beendet wird. Die Schmeißfliege dagegen in ihrem mondänen, kantigen Chitinpanzer schmückt sich wahlweise mit einem blauen oder mit einem grün bis goldgrünen Metallglanz, je nach Art, und tut so, als führe sie das Leben einer Blumenfee.

Soll sie doch mit der großen Blüte erwachen, was ja auch stimmt. Zwischen Weissdorn und Windröschen mögen die Schillernsten ihrer Art zu finden sein. Doch warum belässt sie es nicht dabei?

Weil, so will es das evolutionäre Los, ihre neuronalen Verschaltungen einen anderen Weg für sie vorgezeichnet haben. Man kann dieses stumpfsinnige Verhalten in dem plumpen und vom aggressiven Schwirren der Flügel begleiteten Anrennen der Insekten gegen die Fensterscheibe einprägsam beobachten. Da ist weder Einsicht noch Gefühl. Nur sinnloses Vorstoßen und narzistisches Geflattere. Das einzige, und wir ahnen das natürlich, was die Schmeißfliege mit den daneben geradezu eleganten kleinen Fluggesellen über der Obstschale gemein hat, ist ihre Vorliebe für geruchsintensive organische Substanzen. 

Bild zu: Die Entomologie des Sommers

 Illustration mit Genehmigung: CSIRO [https://www.ento.csiro.au/aicn/image.htm]

Fäule, so gesehen, zieht die einen wie die anderen magisch an. Keine aber lässt sich mental vom scharfen Verwesungsgestank von Leichen derart unterjochen wie die Schmeißfliege. Darin ist sie unübertroffen unter den Zweiflüglern.

Die klugen Bienen, wer würde nicht gerne daran erinnert,  wissen uns an sonnigen Tagen mit ihren zielgerichteten Ausflügen zu den Pollen- und Nektardepots und wieder zurück zu ihrer behüteten Brut zu beeindrucken. Die Schmeißfliege dagegen schwirrt planlos umher. Sie muss darauf hoffen, dass irgendwo auf ihrem Flug zum Nirgendwo eine Leiche ihren Weg kreuzt. Ein Kadaver, der jenen fauligen Gestank erzeugt, auf den ihre Riechkolben abonniert sind. Nur den letzten Teil des Anflugs zur “Beute” ist sie bereit, sich an ihrem Geruchssinn zu orientieren. Und am Ende lässt die Schmeißfliege ihre Brut mit sich und dem Aas allein. In solch erbärmlichem Charakter muss aller Glanz verblassen.

 Wenn wir also ausschließen, den Beginn des Sommers gebührend zu feiern, solange eine krakeelende Schmeißfliege am Küchenfenster tobt, sollte uns das niemand verübeln dürfen. Die gelegentlich sogar erfrischende Koexistenz mit den Fruchtfliegen ist uns da allemal genug. Mehr Natur im Haus muss am Anfang wirklich nicht sein. Also denn, Fliegenklatsche marsch!