Meine erste künstlerische Identitätskrise hatte ich mit etwa 15 Jahren. Ich bin in einer künstlerisch sehr aktiven Familie aufgewachsen: mein Vater hat immer gezeichnet, mein großer Bruder hat immer gezeichnet, mir blieb also kaum etwas anderes übrig als auch zu zeichnen. Ein zentrales Thema meines Vaters war die Apokalypse: in düsteren Endzeitszenarien schienen sich alle traumatisierenden Nachkriegserlebnisse meines Vaters auf dem Zeichenpapier zu materialisieren. Mein Bruder zeichnete vor allem Gesichter: Buntstift oder Kreide auf Karton oder Packpapier, ergänzt durch Text, in mehr oder weniger photo-realistischer Manier. Dabei ging es meistens um Liebe und andere Gefühle. Ich hatte die undankbare Position, als letzte meinen Stil finden zu müssen. Also begann ich als kleines Mädchen damit, Tiere zu zeichnen. Und je älter ich wurde, desto mehr sahen die Tiere, die ich zeichnete, genauso aus wie die Tiere in der Welt.
Meine Technik wurde immer besser und ich konnte recht erfolgreich von Fotos abzeichnen was ich wollte. Das einzige Problem war, dass ich irgendwann keinen besonderen Bezug mehr zu Tieren hatte. Viel lieber hätte ich Gesichter gezeichnet mit Pubertäts-adäquatem Gefühlsinhalt. Aber dieses Feld war bereits durch meinen Bruder besetzt. Also zeichnete ich erstmal gar nicht mehr. Denn es erschien mir ohnehin immer fragwürdiger, worin der Mehrwert liegt, etwas perfekt abzuzeichnen. Könnte man es nicht stattdessen besser gleich beim Foto belassen und sich den Aufwand sparen? Hat reines Abzeichnen irgendetwas mit Kunst zu tun?
Familiäres Stilspektrum: Endzeit, Emotionen und Tiere. (Bilder: A. Anderl, R. Anderl, S. Anderl)
Knapp fünf Jahre später, ich war in der Zwischenzeit nach Berlin umgezogen, hatte ich diese Krise endlich wieder vollständig überwunden. In Berlin befand sich die Streetart-Szene gerade in exponentiellem Wachstum und angesichts der geballt spürbaren Hauptstadt-Kreativität blieb kein Platz mehr für ästhetisch-theoretische Zweifel. Zum Leidwesen meines Vaters, für den eine ausgefeilte Technik immer wichtiger Bestandteil jedes künstlerischen Ausdrucks war, führte meine Befreiung von den Zwängen des Realitäts-gemäßen Abzeichnens direkt in einen relativ primitiven Minimalismus. Ich begann Verpackungen auseinander zu falten und mit Marker innerhalb der vorgegebenen Form die enthaltenen Figuren nachzuziehen. Eine primitive Spaß-Mischung aus M. C. Escher und Comic-Stil sozusagen.
Die Vorliebe für vorbildlose Abstraktion stellte aber lediglich eine kurze Zwischenepisode dar – erstaunlicherweise bin ich heute prinzipiell doch wieder bei einer Variante des Abzeichnens gelandet: ich bin Physikerin geworden und versuche jetzt, mit physikalischen Modellen die Welt abzubilden. Was früher Hähne, Rehe und Strauße waren, sind heute Galaxien, Sterne und das Interstellare Medium. Und anders als beim Abzeichnen von Tieren muss ich in meiner jetzigen Tätigkeit erstmal keine theoretisch motivierte Schaffenskrise erwarten. Es scheint ziemlich offensichtlich, dass man es, anders als vielleicht beim Abzeichnen vom Foto, nicht besser gleich bei der Welt an sich belassen kann, sondern eine Abbildung in einen mathematischen Formalismus braucht, um verstehen zu können. Meinen persönlichen Stil muss ich dabei nicht erst finden, wenn man Physik studiert hat, dann weiß man relativ genau, was zu tun ist.
Fortschritt? Der Weg in die Krise und wieder heraus. (Bilder: S. Anderl)
Aus dieser Perspektive scheinen Kunst und Wissenschaft gar nicht so unterschiedliche Tätigkeiten zu sein: beide können als Versuche einer Abbildung von Wirklichkeit gesehen werden. So wie ich als Kind lernen musste, Farben richtig einzusetzen und perspektivisch zu zeichnen, bis das Produkt von meinem Vater lobend abgesegnet wurde (weil meine Zeichnung so aussah wie das Dargestellte in der Welt), so musste ich später im Physikstudium lernen, Differentialgleichungen richtig anzusetzen und den angemessenen Lösungsweg zu wählen, bis die Lösung von meinem Physiktutor lobend abgesegnet wurde (weil die mathematische Lösung sich so verhielt wie der physikalische Prozess in der Welt). Dieser Übungsprozess hatte zur Folge, dass ich mit 15 tatsächlich besser zeichnen konnte, als einige Jahre vorher als Kleinkind, genau wie ich später dann im Hauptstudium besser Physikaufgaben lösen konnte als im ersten Semester. Während ich im ersten Semester noch Bewegungen mithilfe des Newton’schen Gesetzes zu beschreiben lernte (beruhend auf der Physik des 17. Jahrhunderts), operierte ich im Hauptstudium mit der quantenmechanischen Schrödingergleichung (Physik des 20. Jahrhunderts). Mein persönlicher Fortschritt während des Physikstudiums bildete sozusagen den Fortschritt innerhalb der Physik der letzten Jahrhunderte ab, zumindest so wie wir ihn heute sehen. Aber gilt Ähnliches für meinen Fortschritt im Abzeichnen von Tieren? Gibt es einen historischen Fortschritt in den Künsten?
Interessanterweise scheint es die Idee eines historischen Fortschritts in Bezug auf die Kunst in der Renaissance tatsächlich gegeben zu haben. Paul Feyerabend, das Enfant terrible der neueren Wissenschaftstheorie, zitiert beispielsweise Giorgio Vasaris „Lebensbeschreibungen berühmter Architekten, Bildhauer und Maler” von 1550, in denen dieser insbesondere eine Verbesserung in der natürlichen Darstellung von Emotionen, Körperhaltung und Perspektive als Fortschrittskriterien nennt, welche die Kunst Giotto di Bondones (1266 – 1337) als Wegbereiter einer neuen, vollkommenen Kunstmanier, der Renaissance-Kunst, auszeichnen. In dieser uns heute etwas naiv erscheinenden Sichtweise könnte man tatsächlich sagen, dass z.B. Leonardo da Vinci einen Fortschritt darstellt, relativ beispielsweise zu Kunstwerken des Mittelalters. Dennoch ist der Begriff des Fortschritts offenbar kein Schema, das kunsthistorisch heute in irgendeiner Form haltbar wäre. Es ist sinnlos, in der Kunst von historischem Fortschritt oder Verfall zu reden, denn Kunst ist nicht deckungsgleich mit bloß realistischer Abbildung, die immer besser wird, je weiter sich die Darstellungstechnik entwickelt.
Kunst funktioniert natürlich anders: Picassos Porträts von Dora Maar kann man mit Sicherheit allesamt als völlige Misserfolge bezeichnen, wenn man von ihnen fordert, Frau Maar so abzubilden wie sie wirklich aussah. Trotzdem zählen Picassos Bilder zu den bedeutendsten Kunstwerken des Kubismus (und Picassos Art der Abbildung entsprang natürlich nicht einer technischen Limitierung). In der Kunst scheint es offenbar keinen globalen historischen Fortschritt zu geben, stattdessen spricht man von verschiedenen Stilformen, die jeweils ihren eigenen Gesetzen und Maßstäben gehorchen. Sofern man Kunst als Abbildung von Wirklichkeit versteht, dann scheint es zumindest viele verschiedene Wirklichkeiten zu geben. Aus der Betrachtung mittelalterlicher Kunst können wir einen Eindruck davon bekommen, in was für einer Welt, einer Welt voller Wunder, Zeichen und Symbole, die Menschen damals gelebt haben. Die Betrachtung expressionistischer Bilder führt uns die Verunsicherung, Hektik und Aufbruchsstimmung der Industrialisierung und Urbanisierung vor Augen. Die Genialität eines Künstlers vermag die subjektive, historisch veränderliche Welt im Kunstwerk einzufangen. Eine allgemeingültige, objektive Wirklichkeit ist in der Kunst nicht anzutreffen.
Fortschritt in der Abbildung von Wirklichkeit? Pferde aus Sicht von Steinzeit, Mittelalter, Leonardo da Vinci und Franz Marc
An dieser Stelle scheint ein entscheidender Unterschied zu liegen, der die Parallele von Kunst und Wissenschaft ins Wanken bringt. In der Wissenschaft geht man von der Existenz einer objektiven Wirklichkeit aus. Es ist nicht so, dass jeder Physiker seinen eigenen Stil hat und die physikalische Wirklichkeit in subjektiver Färbung wahrnimmt. Stattdessen glauben wir, dass wir heute nach ähnlichen Prinzipien Physik betreiben wie Newton oder Galilei. Nur dass wir heute aufgrund technisch immer aufwändiger Experimente immer mehr empirisches Wissen darüber gewinnen, wie die Welt sich verhält. Wir wissen immer mehr und immer genauer. Aber ist das wirklich so?
Paul Feyerabend lokalisiert den Ursprung einer solchen Vorstellung im griechischen Abendland im Übergang vom Mythos zum Logos. Die ursprünglich betriebene Art der Welterklärung anhand reichhaltiger, oft in sich widersprüchlicher epischer Erzählungen enthält offenbar noch keine Idee eines Erkenntnisfortschritts. Die mythologischen Erklärungen scheinen stattdessen eher einer künstlerischen Weltauffassung zu ähneln. Die Komplexität der Phänomene in der Welt wird nicht-reduktiv abgebildet und verarbeitet, ohne die zugrunde liegende Idee einer einzigen, objektiven Wirklichkeit zu verfolgen. Diese Idee sowie der Anspruch, dass die Wissenschaft in der Lage ist, uns über diese objektive Wirklichkeit Aufschluss zu geben, konnte sich nach Feyerabend erst etablieren, indem abstrakte Begriffe und strenge Prüfverfahren für ein Wissen über die Welt eingeführt wurden.
Der große Vorteil abstrakter Begriffe (wie z.B. dem Begriff des Gottes, des Guten, der Kraft, des Impulses) ist, dass sie argumentative Beweise ermöglichen. Das vernünftige Denken kann durch logische Analyse zu Ergebnissen kommen, die in objektiver Weise aus den Begriffen selbst zu folgen scheinen. Ein gutes Argument besitzt seine Gültigkeit unabhängig von subjektiven Umständen und scheint dadurch auf eine intersubjektive Wahrheit zu verweisen, die nicht mehr allein durch Tradition zu rechtfertigen ist. Genauso scheint man mithilfe allgemein gültiger, vernünftiger Prüfverfahren die Beliebigkeit dessen, was als Wissen akzeptiert wird, einschränken zu können. Das Ideal der empirischen Wissenschaft besteht damit in der Vorstellung eines Beobachters, der unter größtmöglicher Ausblendung seiner verfälschenden Subjektivität die Natur in Experimenten nach ihrem wirklichen Wesen befragt (ein solcher Idealwissenschaftler würde damit etwa das Gegenteil eines in subjektiver Perspektive kreativen Künstlers darstellen).
Fortschritt in der Abbildung von Wirklichkeit? Licht aus Sicht von Newton, Huygens, Einstein und der Teilchenphysik (Quelle: AAAS)
Diese scheinbare Objektivität des wissenschaftlichen Verfahrens darf aber dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Wissenschaften immer bereits in einem gesellschaftlichen und historischen Kontext operieren. Begriffe und Prüfverfahren, die auf eine objektive Wirklichkeit zu verweisen scheinen, sind damit im Wandel wissenschaftlicher Theorien selbst wiederum historischen Veränderungen unterworfen. Sowohl Newton als auch Einstein sprachen zwar über den Raum, meinten damit aber völlig verschiedene Dinge. Und während Newton noch das Konzept des absoluten Raumes rein argumentativ verteidigte, bemängelte Einstein den methodischen Punkt, dass ein solcher Raum empirisch nicht nachweisbar ist und setzte die Forderung um, physikalische Theorien auf empirisch messbare Entitäten zu gründen.
Die moderne Wissenschaftstheorie spricht in der historischen Reflexion von Wissenschaft aufgrund dieser methodischen, begrifflichen und auch ontologischen Änderungen in der Entwicklung von Wissenschaft oft von der Abfolge verschiedener Paradigmen oder Denkstile. Insbesondere letzterer Begriff scheint dabei wieder eine gewisse Nähe zwischen Kunst und Wissenschaft herzustellen: beides umfasst ein Stil-geleitetes Handeln. In extremster Konsequenz kann eine solche Auffassung auf einen Relativismus führen. Paul Feyerabends These, die Kunst könne als gleichberechtigte Alternative zu einer wissenschaftlichen Weltauffassung gesehen werden, hat für einigen Unmut gesorgt. Ein Relativismus scheint offensichtlich nicht einfangen zu können, warum unsere Wissenschaft so erfolgreich in der Erklärung und Vorhersage von Phänomenen ist. Eine künstlerische oder mystische Erfahrung der Welt scheint für uns eben nicht gleichwertig zu unserem heutigen wissenschaftlichen Wissen zu sein. Die Gründe hierfür im Detail auszubuchstabieren, ist ein Projekt der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie. Auf der anderen Seite ist es Aufgabe der philosophischen Ästhetik, aufzudecken ob und wenn ja welche Form von Erkenntnis der Kunst zugrunde liegt. Denn dass es eine Art künstlerische Erkenntnis jenseits von technischem Können gibt, weiß wohl mindestens jeder, der schon einmal in eine künstlerische Schaffenskrise hineingeraten ist.
Liebe Frau Anderl,
vielen...
Liebe Frau Anderl,
vielen Dank für den schönen Artikel.
Als kunstschaffender Physiker, oder auch Künstler der seine Brötchen als Software-Ingenieur verdient, habe ich den Artikel mit Begeisterung gelesen.
Sie haben in ihrem Artikel die Möglichkeit die Welt auf küntlerische Art zu beschreiben und die Sicht der Physik nebeneinandergestellt und verglichen.
Für mich gibt es aber mehr Überschneidungen und Gemeinsamkeiten als die meisten Künstler und Physiker wahrnehmen.
Als Beispiel sei das Mehrkörperproblem genannt.
Die Gravitations-Wechselwirkung zwischen zwei Körpern z.B Erde und Sonne hat man in der Physik seit Kepler verstanden. Die Bahn der Erde um die Sonne ist eine Ellipse. (Man kann sich auch die Frage stellen ob eine Ellipse ein Element der Kunst oder der Mathematik ist!)
Man hat aber bisher keine befriedigende Lösung für das Dreikörperproblem gefunden. Auch nicht mit den hochentwickelten mathematischen Methoden der Quantenmechanik. Man kann Beweisen, das eine allgemeine Lösung nicht existiert. Man hat es hier also mit einem grundlegenden Problem zu tun.
Als Software entwickelnder Künstler, ist es aber sicher reizvoll, eine Softwaresimulation für diese Problem zu schreiben, um sich an der Ästhetik der Bahnkurven zu erfreuen. (Diese Ästhetik, wird sich auch durch noch so lange Betrachtung, der dazugehörenden Differenzialgleichungen, nicht erschließen.)
Manchmal hat man in der Physik Aussagen die Atemberaubend sind.
z.B. Der Grundgedanke von Albert Einstein, das Gravitation und Beschleunigung gleich sind. (Um präzise zu sein das ich durch eine lokale Messung ein homogenes Schwere Feld nicht von einer konstanten Beschleunigung unterscheiden kann)
Anderseits sind die Fotos vom Hubble-Weltraumteleskop faszinierent ob man nun Physiker ist oder nicht. Viele Physiker sind von den Einsteinschen Feldgleichungen begeistert. Aber welche dieser Pespektiven ist die bessere, welche bietet den schnelleren Zugang?
Man hört heufig die Aussage Mathematik sei die Sprache der Physik.
In Physikbüchern findet man natürlich viele Formeln und Gleichungen.
Aber auch Texte und Bilder. Ich kann Formeln und Gleichungen in Computerprogramme umsetzen, kann das Verhalten simulieren und visualisieren und damit ein besseres Versändnis der Zusammenhänge bekommen. Bei einem Problem das man mathematisch nicht exakt lösen kann bleibt immer noch eine ästhetische, emotionale Betrachtung.
(z.B das Dreikörper-Problem)
Vielleicht werden die Schatten aus Platons Höhlengleichung dann Bunt!
Viele Grüße von einem malenden Physiker.
oh ja, eben sehe ich: Bitte...
oh ja, eben sehe ich: Bitte meine zahlreichen grammatikalischen Fehler in meinem Kommentar zu entschuldigen. Theoretisches Wissen darüber, was richtig und falsch ist, kann sich eben nicht in allen Lebenslagen durchsetzen. Es irrt der Mensch so lang er strebt (Goethe, Faust I, oder so…)
Das Gerstenkorn im Auge des...
Das Gerstenkorn im Auge des Betrachters
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Mit Einstein, oder vielleicht besser: parallel zu Einstein, hat sich in der Wissenschaft ein Agnostizismus, bzw. Relativismus (Lenin nannte dies Empiriokritizismus, siehe: Materialismus und Empiriokritizismus. LW Bd. 14, Dietz Verlag) breit gemacht, der bis heute nicht überwunden scheint, ja diesbezüglich geradezu neue Blüten treibt (man muss sich nur mal „Das Elegante Universum“, von Brian Green oder noch besser „Verborgene Universen“ von Lisa Randall anschauen, letztere scheint mir nicht nur aus stilistischen Gründen auf Vorgaben der Popmusik zu referieren).
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Dennoch wage ich folgenden Satz zu kritisieren:
„Ein Relativismus scheint offensichtlich nicht einfangen zu können, warum unsere Wissenschaft so erfolgreich in der Erklärung und Vorhersage von Phänomenen ist.“ Ist es nicht eher so, dass wir nur das „einfangen“, was wir vorher sorgsam dafür präpariert haben?
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Wenn es stimmt, was Hegel sagt, nämlich, dass die Wirklichkeit („die Wahrheit“) durch das Subjekt hindurch geht (Die Phänomenologie des Geistes), und wir in Folge die Welt immer doppelt sehen (ohne uns dessen aber bewusst zu sein, denn wir sehen bekanntlich, was wir sehen, und uns sehen wir eben nicht, jedenfalls nicht als Objekt), dann schließen wir bei unseren Experimenten genau denjenigen aus, der da sieht und zugleich (mit) gesehen wird. Wenn der, der da sieht, sich selbst nicht mit sieht, dann kann das Gesehene nicht vollständig sein. (Ja, es ist schon merkwürdig: Das Objekt sieht das Subjekt!)
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Zudem unterschlagen wir womöglich auch, dass die Welt, je bevölkerter wir sie mit unseres Gleichen machen, desto reicher, desto größer, desto anders eben wird sie sein. Was wird schneller sein: die Bevölkerungsexplosion oder unser Wissen über diese – zumal aus der Perspektive all derer.
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Die Quantenmechanik erst hat uns mit der Nase in den Dreck gestoßen.
Die mögliche Tatsache, dass unsere Messgeräte für die sog. Unschärfe verantwortlich sind, stellt ja im Prinzip nichts anderes dar. Nur in der Quantenwelt lässt es sich eben darstellen, da die Objekte entsprechend klein sind, und die Messgeräte dementsprechend groß. In unserer Alltagswelt, in der Makrophysik, wird es wohl nicht weiter auffallen, wenn unser Blickwinkel ein Objekt verändert. Die Macht des Blickwinkels erkennen wir nur an unserem eigenen Schatten. Doch selbst über den gehen wir ignorant hinweg. Nur das Kind wundert sich noch ob seines überdimensionalen Schattenwesens.
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Wir sollten also nicht versuchen, die subjektive Betrachtung auszuschließen, sondern diese angemessen einzubeziehen!
Im Übrigen, um da noch mal auf Einstein zurück zu kommen (und indirekt auch zu Lenin, welcher in seiner Kritik eines Machschen Relativismus eben seine eigene Perspektive auch noch keiner Kritik unterzog), so scheint Einstein mit seiner These „Gott würfele nicht“, eben demselben „Objektivismus“ zu frönen. Nicht Gott (als unabhängiger Betrachter quasi) würfelt, oder würfelt nicht, wie Einstein da so verzweifelt meint – u n s e r Blickwinkel, und zwar genau der unter dem Einfluss des Lichtes (welches wir überhaupt wahrnehmen), macht den Würfel!
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Mathematische Betrachtungen mögen den Vorteil aufweisen, dass sie den Einfluss des äußerlichen Lichtes (und damit die Manipulation desselbigen) ausschließen, dennoch nicht den des längst verinnerlichten. Die Welt, wie wir sie im Kopf mit uns tragen (und welche uns nicht nur Bilder, sondern auch Gleichungen und Formeln schaffen lässt), können wir nicht mehr ausschließen, gleich wie sehr wir uns bemühen.
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Wenn es also so etwas wie ein Graviton oder ein Higgs-Teilchen geben sollte, um mal auf ein schon besprochenes Beispiel zurück zu kehren https://blog.herold-binsack.eu/?p=1582, dann vielleicht nur, weil ein Gerstenkorn uns den Blick verzerrt, bzw. weil dies Gerstenkorn, nachdem wir es vielleicht entfernt haben, längst eine „Lücke“ (Zizek) in unserem inneren Blickwinkel zurück gelassen hat.
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Die wichtigste Erkenntnis hieraus könnte vielleicht lauten: Weniger denn je, sind Wahres, Notwendiges und Zufälliges dem Betrachtungswinkel eines Einzelnen zugänglich, gleich was er studiert hat oder studieren wird.
Mag sein, das Sokrates mit seinem Skeptizismus genau in diese Kerbe der Erkenntnis zielte.
Ein lesenswerter Beitrag -...
Ein lesenswerter Beitrag – gerade auch durch die persönlichen Bezüge!
Vielleicht denke ich zu narzisstisch, aber ich glaube, dass der Erfolg einer Sache (Wissenschaft vs. Kunst) letztlich doch im persönlichen Erleben liegt – dann natürlich nicht nur in meinem eigenen. Ich habe mir neulich mit 45 Jahren ein E-Piano gekauft, obwohl meine Aktivboxen “Für Elise” perfekt wiedergeben, wenn ich das einfach bei YouTube anklicke. Ich freue mich an meinem persönlichen Fortschritt beim Spielen, genieße die Flow-Erfahrung und verblüffe den einen oder anderen Freund damit. Der Sinn vom im Artikel abgebildeten Hahnenkopf liegt m.E. in der seelischen Verfassung beim Zeichnen, der Anerkennung des Vaters, des Erstaunens der Betrachter. Er hat mit dem zugrunde liegenden Foto ebenso wenig zu tun wie mit dem Tier selbst.
Physik kann während der Ausübung (Papers lesen, Diskussionen mit Kollegen, Berechnungen, Experimente) ebenso “die Seele erquicken” wie die künstlerische Auseinandersetzung mit Eindrücken von außen und innen. Ob aber das Anwachsen von Wissen wirklich einen Fortschritt im Sinne einer Vermehrung des Glücks darstellt, bleibt im übrigen dahingestellt. Sind ehemalige Bewohner von Mururoa glücklicher in Bibliotheken oder im 3D-IMAX-Film über Südseeatolle?
Eine interdisziplinäre Bewertung von Wissenschaft und Kunst könnte daher auch direkt bei der psychologischen Glücksforschung fündig werden, die wiederum Bezüge zur Evolutionspsychologie haben müsste. Denn Glückserfahrung vs. Leiden scheint mir das einzige zu sein, dass – wenngleich subjektiv – keinesfalls relativ ist (oder ethisch: sein soll).