Die Kulanzfrist von einer knappen Woche hat der amerikanische National Snow and Ice Data Center (NSIDC) immerhin verstreichen lassen, dann ist man doch mit Karacho reingegrätscht: Am 9. September habe die Ausdehnung des Meereises in der Arktis das Minimum in diesem Jahr erreicht, verkündete die Behörde am 15. September. Damit ist nicht nur der Minusrekord einkassiert worden, den Bremer Umweltphysiker für den 8. September gemeldet hatten, sondern das ganze historische Ereignis gleich mit. Von wegen Rekordschmelze: Das Ausmaß der Meereisschmelze verfehlt den amerikanischen Berechnungen zufolge sogar deutlich den seit Beginn der Satellitenmessungen geltenden absoluten Minusrekord von 4,17 Millionen Quadratkilometer Eisfläche. Am 9. September 2011 sollen es genau 4,33 Millionen Quadratkilometer gewesen sein – „lediglich” der zweitniedrigste Wert in den Annalen – jedenfalls in jenen des NSIDC. Dass die diesjährige Eisschmelze damit immer noch in das Raster der weitgehend vom beschleunigten Klimawandel verursachten Umweltveränderungen in der Arktis fällt, bleibt davon unbenommen.
Die Ausdehnung des Meereises in der Arktis am 9. September 2011. Die orangene Linie zeigt den mittleren Verlauf der sommerlichen Eisgrenze, wie er sich aus der Eisflächenverteilung der Jahre 1979 bis 2000 ermitteln lässt. Grafik NSIDC
An dieser Stelle (FAZ.net vom 11. September) war schon über die Abweichungen verschiedener internationaler Polarforschungsgruppen und die möglichen Gründe für die unterschiedlichen Ergebnisse berichtet worden. Tatsächlich durfte man sich vor einigen Tagen durchaus wundern: Die Wahrscheinlichkeit, dass die extrem schnelle Alarmierung durch die Gruppe an der Universität Bremen – „Neues historisches Meereis-Minimum in der Arktis 2011″ – angefochten und als historisches Fixum jedenfalls von vielen Seiten in Frage gestellt wird, war schon sehr hoch.
Einen großen Vorwurf kann man den Bremern dennoch kaum machen. Im Gegenteil: Angesichts der üblichen Verläufe der Eisschmelze in den Vorjahren konnte man keineswegs sicher sein, dass sich die Meereisfläche nicht doch noch weiter verringert – und sei es, dass der von Satelliten aufgezeichnete Schwund durch dynamische, von Starkwinden angetriebene Veränderungen in der Packeisverteilung verursacht wird. Nein, das Bremer Modell hat inder Tat fast eine Punktlandung geschafft.
Ein Tag Abweichung ist nicht dramatisch – wenn denn nicht auch noch dazu käme, dass die anderen internationalen Gruppen und vor allem das amerikanische Forschungszentrum die eigentliche Rekordmeldung quasi dementiert haben. Kein Institut ist so einflussreich wie das NSIDC, das sich traditionell als Wortführer der Polarwissenschaften fühlt. Und weil die mathematische Interpretation der amerikanischen Daten so wenig wie die des Bremer Instituts als Schlamperei abgetan werden kann, weil man schlicht nicht jeweils bessere, sondern konkurrierende Verfahren zur Auswertung der Roh-Satellitendaten anwendet, genau deshalb wird man es nun auch wohl nicht auf einen Streit ankommen lassen.
Dabei ist es noch nicht einmal sicher, ob die amerikanische Forschungsbehörde am Ende tatsächlich Recht behält. Normalerweise ist die Schmelzsaison noch nicht ganz vorbei. Und so heißt es in der Pressemitteilung des NSIDC denn auch, „dass die Eis-Ausdehnung noch mal zurückgehen könnte, wenn es ungewöhnlichen Windrichtungsänderungen oder einer späten Erwärmung kommen würde”. Konkrete Anhaltspunkte gibt es in den Daten dafür aber offenbar nicht.
Als moralischer Sieger kann sich die Bremer Umweltphysik-Gruppe also durchaus fühlen. Sie hat den Tiefpunkt (in der „Bremer Kurve”) zwar blitzschnell – schneller und zeitlich exakter als die Konkurrenz – erkannt sowie den weiteren Verlauf glänzend gedeutet hat. Dennoch: Der offizielle Gewinner bleibt wohl, wie gehabt, Amerika. Erst Recht, wenn es von weitweit bedeutenden Medien wie die BBC und CNN um die Welt getragen wird.
Die Kurven unterschiedlicher internationaler Polarforschungsinstitute:
Die “Bremer Kurve”
Die “amerikanische Kurve”
Die “japanische Kurve”
Ich finde die Frage, wer die...
Ich finde die Frage, wer die bessere Beechnung hat geht ziemlich am Thema vorbei. Die interessantere Frage ist, was die Welt und besser jeder einzelne denn sehr kurzfristig dafür tun kann, weniger CO2 auszustoßen.
<p>Wobei es für die...
Wobei es für die Messunterschiede der Institute durchaus einleuchtende und zugleich unerfreuliche Erklärungen gibt: Die Eiskonzentration ist an vielen Stellen Ende August so dünn geworden, dass die Auflösung der verwendeten Verfahrens den Ausschlag gibt.
Insofern kommt die Bremer Gruppe mit den neuen Bedingungen in der Arktis besser zurecht.
Höher aufgelöste Satellitenfotos zeigen das Dilemma:
http://www.arctic.io/…/Arktischer-Ozean
Das aufgeheizte Wasser auf der Ozeanoberfläche wird bei ungünstiger Windrichtung unter das Meereis gespült und bewirkt das Abschmelzen von dünnen Eis innerhalb weniger Tage. Oder der Wind ist stark genug und treibt die Schollen einfach auseinander.
In beiden Fällen sinkt die Eiskonzentration bis an die Wahrnehmungsgrenze, der dafür nicht ausgelegten Instrumente und Algorithmen. Wenn der Trend anhält, kann sich der Effekt sogar verschärfen, was dann von weitem wie eine feste Eisfläche aussieht, verwandelt sich bei näherer Betrachtung in einen losen Verbund zu ‘groß geratener Eiswürfel’.
Die Differenz der Eisflächen von diesem zum Rekordjahr 2007 besteht überwiegend aus niedrig konzentriertem Eis. Rechnet man diesen Fehler heraus, hatte 2011 einige Male die Nase vorne. Doch dies sind Zahlenspielereien, die wirklich interessante Größe in der Arktis ist das Meereisvolumen oder die Eisdicke. Mit Messungen von Bojen oder vom Schiff aus abgesicherte Modelle zeigen einen Trend der in wenigen! Jahren eine eisfreie Arktis im September prognostiziert.
Die zweidimensionalen Ansichten der Eisbedeckung und die oben gezeigten Charts lassen die wichtigste Dimension des Meereises aus und verschleiern die Realität. Obwohl die Eisflächen der Jahre 2007 und 2011 innerhalb der Messgenauigkeit vergleichbar sind, schmolzen in der Zwischenzeit geschätzte 1000 Kubikilometer Eis in der Arktis.
Unsere arktische Schneebrille ist sozusagen rosa getönt. Solange die Schollen sich einigermassen gleichmäßig verteilen und noch ein paar Zentimeter Dicke haben, sehen selbst 4 Millionen Quadratkilometer Eisfläche noch fast gesund aus. Allerdings verwandeln sich im Sommer in der Arktis wenige Zentimeter Eis innerhalb weniger Tage zu Meerwasser.
Eigentlich sind wir fast blind, wenn wir in die Arktis sehen. Die amerikanische Satellitenflotte ist über der Zeit, altersschwach und mangels Gründen oder Geld gibt es keine Nachfolgeplanungen. Der europäische Erkundungssatellit Envisat fliegt weit am Nordpol vorbei und liefert nur Teildaten. Lediglich CryoSat2 bietet einen Hoffnungsschimmer, wenn das Kalkül aufgeht und es gelingt die Schneeauflage aus der Gesamteisdicke zu ermitteln und herauszurechnen.
Manchmal nehme ich den alten Schulglobus, schaue mir die Gegend um den Nordpol an und stelle mir vor wie dort im Sommer 24 Stunden am Tage die Sonner scheint. Vielleicht macht es keinen Unterschied, ob die ganze Sonnenenergie ins Weltall reflektiert wird oder den Ozean erwärmt und damit die Luft darüber. Vielleicht bleibt es ein lokaler Effekt, vielleicht ist es aber auch besser die nächsten Winter nicht mehr mit der Bahn zu fahren, bis sie auf die neuen Bedingungen eingestellt ist.
Jedenfalls sollte man einen Briten nicht zu den vier Sommern seit 2007 nach dem letzten Niedrigrekord in der Arktis befragen. Aber das ist natürlich Wetter und hat mit dem Klima nicht gemein. Bäume und Wälder sind ja auch zwei völlig verschiedene Dinge.