Es war nicht das erste Mal, dass die Gynäkologin Rita Schmutzler in einem Vortragssaal den Fall der vierzigjährigen gesunden Frau vorstellte, in deren Familie es ein hohes genetisches Risiko für Brustkrebs gibt. Sie bittet ihre Zuhörer danach stets um eine Abstimmung, und das Ergebnis beim Deutschen Krebskongress in dieser Woche in Berlin sei, sagte die Leiterin der Frauenklinik an der Universität Köln, nicht anders ausgefallen als sonst. Zwei Powerpoint-Folien füllt die Geschichte einer fiktiven Ratsuchenden: Im ersten Fall lehnt die Frau einen Gentest ab, der beantworten könnte, ob auch sie die Hochrisikomutation eines für Brustkrebs verantwortlichen Gens trägt wie ihre Verwandten. Läge die Mutation vor – was mit einer Chance von fünfzig Prozent der Fall ist -, würde die Frau mit einer Wahrscheinlichkeit von achtzig Prozent an Brustkrebs erkranken. Die Frau will keine Gewissheit über ihr Risiko; sie wünscht sich statt des Tests eine intensivierte Früherkennung, mit der auch frühe Tumorstadien erkannt werden, also regelmäßige Untersuchungen mit Ultraschall und Checks mittels Mammographie und Magnetresonanztomographie. Zur Mammographie lädt der Staat seit 2005 zwar offiziell im Zuge eines Früherkenungsprogramms im Zwei-Jahres-Intervall ein – doch nur Frauen ab fünfzig Jahren.
Wer von den Anwesenden würde es für gerechtfertigt halten, dem Wunsch der Vierzigjährigen nachzukommen, fragte Rita Schmutzler, die Mitglied der Ethikkommission der Bundesärztekammer ist, in die Runde. Etwas mehr als die Hälfte der Anwesenden in Saal Virchow im Berliner Kongresszentrum ICC hebt die Hand. Es ist anzunehmen, dass die meisten schon mit ähnlichen Fragestellungen konfrontiert waren: Der Deutsche Krebskongress zieht jedes Jahr mehr als zehntausend Mediziner und andere Wissenschaftler an und steht in diesem Jahr vier Tage lang ganz im Zeichen des Strategiepapiers „Nationaler Krebsplan”, was ihn auch zu einem Forum für gesundheitspolitische Experten macht.
„Das Thema gehört in die gesellschaftliche Diskussion”
Auf Schmutzlers zweiter Folie wünscht die Frau keine intensivierte Früherkennung, sondern ein vorsorgliches operatives Entfernen des gesunden Brustgewebes, was zwar ihr Risiko zu erkranken auf wenige Prozentpunkte senken würde, aber mit einem bis zu fünfstelligen Betrag an Kosten verbunden wäre. Als Schmutzler fragte, wer der Meinung sei, dass auch dieser Wunsch zu erfüllen ist, meldet sich nur noch eine Anwesende. „Da stehen wir im Moment, meine Damen und Herren”, sagt Schmutzler. Und die Frage stelle sich: „Liegt es nur an den Kosten?” Oder gebe es womöglich noch andere Gründe? Das Thema gehöre in die gesellschaftliche Diskussion hinein, allein gesundheitspolitisch und medizinisch sei eine Frage wie diese nicht zu beantworten. Denn längst sei Früherkennung eine komplexere Frage: „Wir kommen hin zu einer personalisierten Prävention in Abhängigkeit von dem persönlichen Risikoprofil. Zukünftig können wir für jede Ratsuchende sagen, hier stehen Sie, Sie haben ein Risiko von 25 Prozent, von 28 Prozent etc. Wo ist dann der Cut-off?” Krebserkrankungen seien komplexe Erkrankungen, für 15 bis 25 Prozent der Mammakarzinome, der Eierstocks-, Prostata- und Dickdarmtumoren seien genetische Faktoren mitverantwortlich.
Doch das ist nicht die einzige Herausforderung der Krebsfrüherkenung. Das Thema steht im Zentrum des diesjährigen Krebskongresses in Berlin, auch weil es eine der Hauptforderungen im „Nationalen Krebsplan” ist. Stapelweise liegt er hinter den Eingängen der Vortragssäle im Berliner Kongresszentrum: der Krebsplan, ein Heft im DinA4-Format mit dem Logo des Bundesgesundheitsministeriums auf dem Titel, 65 Seiten dick. Die Ziele und die Umsetzung dieses Strategiepapiers stehen im Mittelpunkt des Deutschen Krebskongresses, der als größte europäische Fortbildungsveranstaltung zum Thema Krebs in Europa gilt. Veranstaltungen zum Krebsplan durchziehen das gesamte Programm. Obwohl die medizinisch-fachlichen Symposien zum Stand der Forschung und zu Tumortherapien zahlenmäßig überwiegen, ist die Gesundheitspolitik auf diese Weise zu einem dominierenden Thema des Kongresses geworden. Der Krebsplan war 2008 initiiert worden, an seiner Erarbeitung sind das Bundesgesundheitsministerium, die Deutsche Krebsgesellschaft, die Deutsche Krebshilfe und die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tumorzentren beteiligt. Sein Ausgangspunkt waren die Ergebnisse des Eurocare-4-Projektes, einer Studie, die 2007 zeigte, wie groß die Unterschiede in der Fünf-Jahres-Überlebensrate verschiedener Krebsarten noch zwischen unterschiedlichen Ländern ist. Deutschland etwa hinkte demnach den Vereinigten Staaten deutlich hinterher. Vor dem Hintergrund des gerade veröffentlichten Krebsberichtes des Robert-Koch-Instituts, der alle zwei Jahre erscheint, erhielt das nationale Strategiepapier jetzt besondere Aufmerksamkeit: Allein im Jahr 2008 sind nach der neuen Schätzung des Berliner Instituts hierzulande rund 470 000 Menschen neu an Krebs erkrankt. Das sind bis zu 80 000 mehr als zehn Jahre zuvor. Für 2012 rechnet das Robert Koch-Institut mit knapp 490 000 Erkrankungen. Der Hauptgrund für die Zunahme ist die demographische Entwicklung; die Zahl der älteren Menschen, bei denen Krebs zumeist auftritt, wächst.
Graue Screenings
Der Krebsplan nun listet vier Handlungsfelder in Sachen Krebs auf: Die Weiterentwicklung der Krebsfrüherkennung ist das erste Feld. Es geht dabei in erster Linie um die Überführung sogenannter „opportunistischer Screenings” oder „grauer Screenings” in organisierte Screenings, bei denen die Bevölkerung schriftlich eingeladen wird. Daneben soll auch eine flächendeckende Erfassung und Auswertung der Daten gewährleistet werden.
Während das Brustkrebs-Screening bereits „organisiert” abläuft und Frauen ab einem Alter von fünfzig Jahren alle zwei Jahre schriftlich zur Mammographie eingeladen werden, handelt es sich etwa beim Darmkrebs- und Gebärmutterhalskrebsscreening um ein „graues” Screening ohne Aufforderung. Dass kaum eine Tumorart mit einer der Screeningformen vollkommen zufriedenstellend und ohne Schwierigkeiten überwacht werden kann, wurde ebenfalls in Berlin deutlich. Die Gründe dafür sind wohl auch darin zu suchen, dass Krebs eben nicht gleich Krebs ist. Beim Brustkrebs-Screening sind etwa die sogenannten Intervall-Karzinome ein nach wie vor ungelöstes Problem: Schnell wachsende Tumoren, die zwischen den im Zwei-Jahres-Abstand durchgeführten Mammographien auftauchen. Bei der ersten Untersuchung werden sie nicht entdeckt, bei der zweiten kann es schon zu spät sein. Andererseits tragen viele Teilnehmerinnen des Screenings das Risiko einer Übertherapie: Harmlose Tumoren werden entdeckt, die Patientinnen bestrahlt, medikamentös behandelt und operiert.
Schwere Geburtskomplikationen
Dass die Screeningpläne auch bei anderen Krebsarten an Grenzen stoßen, machte Petra Uschold vom GKV Spitzenverband in ihrem Vortrag eindrucksvoll deutlich. Man solle das Mammographiescreening nicht als Blaupause für andere Krebs-Screenings verwenden, warnte sie. Uschold konzentrierte sich auf die Problematik des Gebärmutterhalskarzinoms (Zervixkarzinoms). Die Möglichkeiten, dieses Screening mit einem Einladungsverfahren zu verbinden, werden derzeit vom Bundesgesundheitsministerium geklärt, wobei der Gemeinsame Bundesausschuss berät. Die Erkrankungsraten bei jungen Frauen steigen, wohl nicht nur aufgrund des Screenings, das die Krankheit aufdeckt, sondern auch aufgrund des Lebensstils. Man geht davon aus, dass das Zervixkarzinom in den meisten Fällen vom humanen Papillomvirus ausgelöst wird, einem Erreger, der über Sexualkontakte weitergegeben wird. Die Früherkennung erfolgt über Abstrichuntersuchungen beim Frauenarzt.
Zu dem nicht organisierten Screening gehen etwa achtzig Prozent der unter dreißigjährigen Frauen, dieeilnahmeraten sinken mit steigendem Alter. Jährlich treten etwa 5500 Neuerkrankungen in Deutschland auf. Allerdings liege das Vorkommen von Präkanzerosen um das Hundertfache höher, sagte Uschold. Bei jungen Frauen sei es sehr wahrscheinlich, dass diese Vorstufen sich einfach wieder zurückbildeten, auch ohne ein chirurgisches Vorgehen, die sogenannte Konisation, das kegelförmige chirurgische Entfernen des Tumors. Eine Studie aus dem Jahr 2008 habe nachgewiesen, dass die Konisation ein erhöhtes Risiko für schwerwiegende Geburtskomplikationen nach sich ziehe, sagte Uschold. Insofern sei die flächendeckende Erinnerung der Bevölkerung an die Vorsorgeuntersuchungen nicht unproblematisch. Insbesondere eine einmal jährliche Einladung sei dabei kritisch zu sehen. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) hielt in einem Abschlussbericht zum Thema fest, dass das Screeningintervall für Gebärmutterhalskrebs in anderen Ländern stets mindestens drei Jahre betrug. „Das Zervixkarzinomscreening hat ein Potential für Übertherapie”, bilanzierte Uschold.
Keine Sanktionen für Früherkennungs-Unwillige
Für Gesundheitsminister Daniel Bahr war es in seinem Eröffnungsvortrag in Berlin angesichts dieser noch ungeklärten Schwierigkeiten besonders wichtig zu betonen, dass sich die Prävention nicht gegen den Patienten richten soll. Bahr wies wohl auch noch einmal auf diesen Aspekt hin, weil er die Verschickung von Einladungen zu Untersuchungen an die gesamte Bevölkerung in dieser Woche öffentlichkeitswirksam angekündigt hatte. „Mit der Weiterentwicklung der Krebsfrüherkennung wollen wir nicht ein System verbinden, in dem es Boni und Mali gibt, sondern Freiwilligkeit”, sagte Bahr. Und auch die Illusion absoluter Sicherheit will man nicht mit den erneuerten Programmen verbinden: Zwar gehöre eine gute Früherkennungskultur zur Krebsbekämpfung, sagte Bahr. Trotz Prävention könne einen Menschen aber der schwere Schicksalsschlag einer Krebserkrankung ereilen.
Die Freiwilligkeit betonte auch Eckhard Breitbart vom Dermatologischen Zentrum Buxtehude in seinem Vortrag über die Inanspruchnahme der Früherkennung. Er sprach im Hinblick auf die Strategien des Krebsplans von einem Paradigmenwechsel. Man wolle nicht nur einfach möglichst viele Menschen einem Früherkennungsprogramm zuführen. Es gehe vielmehr darum, über die Möglichkeiten der Früherkennung breiter zu informieren. „Ziel ist es nun, den Anteil derjenigen zu erhöhen, die eine informierte Entscheidung für oder gegen die Inanspruchnahme von Krebsfrüherkennung fällen.”
Früherkennung ist eine...
Früherkennung ist eine löbliche Sache. Allerdings gibt es noch etwas viel besseres. Echte Prophylaxe und das ist Lebensführung, sich gesund ernähren, ausreichend bewegen, regelmässig schlafen, emotional ausgeglichen sein. Die meiste Früherkennung führt zu Chirurgie und Chemotherapie. Ich denke bevor “übertherapiert” wird sollte man sich Gedanken über die Ursachen machen. Eine gesündere Gesellschaft ist eine krebsärmere Gesellschaft ist meine Hypothese.
Eine Aufklärung der Patienten/Bevölkerung muss dahin gehen, dass wir ein gesünderes Leben führen. Dazu gehört Ernährung und Bewegung. Das muss schon in Kindergarten und Schule anfangen.