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Die Wissenschaft ist ein ernstes Geschäft, aber gehört ihr deshalb das letzte Wort?

Kinder, seid ihr dick: Burnout nach dem Schulstart

| 10 Lesermeinungen

Eine Einschulung ist schon ein denkwürdiges Ereignis. Nichts, was man so schnell wieder vergisst. Schon allein deshalb, weil diese lange und sperrige...

Eine Einschulung ist schon ein denkwürdiges Ereignis. Nichts, was man so schnell wieder vergisst. Schon allein deshalb, weil diese lange und sperrige Schultüte, die gelegentlich viel schöner als Zuckertüte bezeichnet  wird und vollgepackt ist mit Geschenken und Süßigkeiten, auf absehbare Zeit der einzige Ausrüstungsgegenstand bleiben wird, der auch ohne großen Tragekomfort lustvoll in den Schülerhänden liegen wird. Der ABC-Schütze ist also ein stolzer, kleiner, gefeierter Held. Was er nicht weiß, und was bisher auch  keiner um ihn herum nur zu denken wagte, ist: dies ist Tag eins eines großen Kindheitstraumas – ach was, das Zuckertütenfest und die Einschulung sind  in Wirklichkeit ein Opferfest.

Und zwar nicht etwa, weil Freiheit und Freizeit geopfert werden müssten. Nein, der Pennäler hat, dem elterlichen Management sei dank, ganz schnell raus, wie er seine Schulpflichten routiniert in den Tagesablauf integriert. Viel einschneidender als kleinkindliche Verlusterfahrungen sind möglicherweise die unterschwelligen psychischen Opfergaben des Schuleintritts. Nennen wir es beim Namen – auch wenn es schon etwas abgegriffen klingt: Stress.

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Erstklässlerstress an sich ist für viele Eltern freilich längst noch kein Grund zur Beunruhigung. Vielmehr bedingt für sie erfolgreiches, leistungsorientiertes Kindermanagement, schon aus eigenen Erfahrungen heraus, ein gewisses Maß an Leidensdruck. Sozialer Stress und Lerndruck als notwendige Erfolgskomponenten.  Motto: Reizvoll leben für den beschleunigten Aufstieg. Weil nun diese Haltung („Was nicht tötet, härtet ab”)  inzwischen so etwas wie pädagogischer Standard geworden ist, wird man ja mal fragen dürfen, wie die Kids das eigentlich alles so verkraften, diesen abrupten Übergang vom Spieleparadies im Kindergarten in die bildungsstiftenden Trainingshallen der Leistungsgesellschaft. Und siehe da, es gibt sogar wissenschaftliche Antworten.

Darauf gestoßen sind Sascha Hoffmann und Studienleiter Perikles Simon, zwei Sportmediziner der Universität Mainz,  zusammen mit dem Tübinger Kognitionsforscher Rolf Ulrich. Sie haben sich die Daten von 16.662 Jungen und Mädchen im Alter zwischen 2 und 18 Jahren vorgenommen, die im Zuge der bundesweiten „Kiggs”-Studie in den Jahren von 2003 und 2006 erhoben wurden. Kiggs („Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland”)  ist Teil einer repräsentativen Erhebung des Robert-Koch-Instituts, in der Größe, Körpergewicht und Body-Mass-Index ermittelt und mit entsprechenden Werten von 1990 verglichen worden waren. Was die Wissenschaftler aus den Datensätzen herausfiltern wollten, war: Wann genau, also in welchem Alter, beginnen Kinder dick zu werden. Jedes fünfte Kind älter als acht Jahre – knapp 18 Prozent -,  gilt als übergewichtig, fünf Prozent als fettleibig.  Bis zum Alter von fünf Jahren sind aber nur zehn Prozent übergewichtig, also knapp halb so viele.

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Zwischen dem sechsten und achten Geburtstag ist bei vielen Kindern also etwas passiert, das ihre Kalorienspeicherung ungemein forciert hat. Es ging den Forschern also darum herauszufinden, ob es vielleicht so etwas wie ein Schlüsselereignis gibt – was bei solchen anonymen, begrenzten Umfragen in den unterschiedlichsten Milieus  nachvollziehbar schwer ist. Die Mainzer und Tübinger Wissenschaftler haben allerdings ein verfeinertes statistisches Verfahren angewandt, das es Ihnen ermöglicht, wenigstens den Zeitraum des Dickwerdens und damit mögliche Risikofaktoren genauer einzugrenzen.

Natürlich weiß man längst, dass beispielsweise Übergewicht bei den Eltern, deren sozioökonomischen Verhältnisse, Raucherhaushalte, Migrationshintergrund,  die Wachstumsgeschwindigkeit des Kleinkindes und Bewegungsmangel ganz entscheidend die Gewichtsentwicklung der Zöglinge beeinflussen. Doch die meisten dieser Einflüsse wirken über längere Zeiträume.

Umso erstaunlicher ist, was die Wissenschaftler um Perikles Simon jetzt in der Zeitschrift „Obesity” (doi: 1038/oby.2012.172), einem Journal aus der „Nature”-Gruppe, berichten. Demnach nehmen die später dicken Kinder am stärksten um den siebten Geburtstag herum zu – statistisch um das Alter 7,2 Jahre. In der Studie heißt es:  „Es ist wohl vernünftig anzunehmen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Verlassen des Kindergartens und dem Schuleintritt auf der einen und der Entwicklung von Übergewicht auf der anderen Seite gibt.” Verkraftet der Körper also bei vielen Pennälern den Übergang von der vorschulischen Spielerei in die erste konzentrierte Sitztätigkeit nicht so richtig?

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 Bewegungsmangel allein ist es kaum, glauben die Forscher, denn die älteren Daten zeigen: Vor zwanzig Jahren gab es diesen Bruch nicht. Der Anteil von knapp zehn Prozent übergewichtigen Kindern blieb  über die Grundschule hinaus einigermaßen konstant. Was also gibt es für  potentielle Schlüsselereignisse? „Wir vertreten die Hypothese, dass der Schuleintritt als das ein frühes Stressereignis für die schnelle Zunahme an Übergewicht verantwortlich ist”, schreiben die Autoren in ihrer Veröffentlichung. Das erste Schuljahr soll den kleinen Körper also stoffwechselbiologisch und hormonell ans Limit bringen – eine Art metabolischer Burnout zum Schulkarrierestart?  Wer hätte das gedacht, wenn man in die glücklichen, scheinbar  unbelasteten Gesichter der Pennäler sieht, die mittags über den Schulhof rasen und morgens nicht weniger aufgedreht vom Gemeinschaftsunterricht in die Sporthalle wetzen?

Was sich aufdrängt nach solch kühnen Thesen, klar, ist die Schuldfrage: Kindergarten, Schule, Lehrer, Elternhaus – was läuft schief? Es könnte sein, meint das Mainzer-Tübinger-Team, dass die Grundlagen fürs Übergewicht schon im Kindergartenalter gelegt werden. Darauf deuten offenbar auch neuere Erhebungen an 35 Mainzer Kindertagesstätten hin. Was allerdings nicht bedeutet, dass die Bildungsangebote das Problem sind. „Wahrscheinlich sind die Faktoren überwiegend im häuslichen Umfeld der Kinder zu suchen.” Damit ist der Ball vor allem bei den Eltern. Vielleicht spielt ja  das falsche  Pausenbrot eine Rolle – zu viel Süßes -, was derzeit vor allem in einigen  amerikanischen Regionen unter der Schirmherrschaft von Präsidentengattin Michelle Obama zu einer regelrechten „Salatbar”-Bewegung geführt hat. Oder es ist eben doch das Stressmoment der Schulstarts, wie Simon und seine Kollegen meinen. Ist es tatsächlich so, dann kaschieren die Kleinen das meisterlich. Und wir haben in unserer entwicklungspsychologischen Naivität immer gedacht, den Stress haben in erster Linie die Grundschullehrer. 

Fotos J. Müller-Jung


10 Lesermeinungen

  1. sedlaczek1 sagt:

    Klar, die Eltern sind schuld....
    Klar, die Eltern sind schuld. Die haben wohl vergessen sich (illegal) zu bewaffnen, um der demokratischen Staatspolizei Paroli bieten zu können, wenn diese als Schulzwangsmaßnahme kommt und die Kinder holt.
    Die moderne Schule ist Kindeswohlgefährdung. Die Eltern sind nicht verantwortlich dafür, daß Schule so ist, wie sie ist. Nicht verantwortlich dafür, daß Schule staatlich verwest ist und überhaupt gewahltbewehrt zur “Pflicht” postuliert wird. Eltern sind auch nicht schuld an staatlichen Lehrplänen und staatlich monopolisiertem Qualifikationswesen und staatlichen Berufszugangsbeschränkungen. Schuld ist einmal mehr die demokratische Willkür (aka “Gesetze”), die sich in Deutschland als demokratischer Staatsterror zeigt, der keine Ausnahmen mehr macht. Es sind die pathologischen Kontrollfreaks, die via Politik alles ihrer Regelung und Bevormundung unterwerfen, die schuld sind. In einem freien Land bilden die Bürger den Staat – nicht umgekehrt. Und dann sähe das Lernen im wichtigsten Alter eines Menschen anders aus. Und gesünder.

  2. Antonymus sagt:

    Sehr guter Artikel. Danke. Wir...
    Sehr guter Artikel. Danke. Wir reichen unseren Stress weiter an die Kleinen, dabei sollten wir eigentlich aus Fehlern lernen. Die Krankenversicherungen klagen über die hohen Zuwächse bei psychischen Behandlungen, wie Stress, Depressionen und eben auch Burnout. Einen guten Artikel, der die These untermauert fand ich hier: https://www.sonderglocke.de/burnout.php
    In diesem Zusammenhang fällt mir die aktuelle Debatte um Kahn, die Fussballnationalmannschaft und die Olympioniken ein. Hier wird auch mehr Leistung gefordert, immer mehr, immer weiter und was wir nicht stemmen, können wir getrost an die Kids weiter geben. Nicht?

  3. crigs sagt:

    "Pure, White And Deadly": Not...
    “Pure, White And Deadly”: Not cocaine, but sugar.
    https://www.dailymail.co.uk/debate/article-2096088/Pure-white-deadly-No-cocaine-sugar.html
    Lesen Sie und, lernen Sie etwas vom Gelesenen.

  4. lutz-breunig sagt:

    Was ist denn eigentlich aus...
    Was ist denn eigentlich aus dem EU-Programm für die Obstverteilung in Schulen geworden?
    https://www.servicereport.eu/2010/eu-programm-obstverteilung-soll-ernaehrung-in-den-schulen-verbessern

  5. mimotomo sagt:

    Zum "McDonald-Faktor":
    Auch...

    Zum “McDonald-Faktor”:
    Auch wenn die Studie relativ wenig untersucht zu haben scheint, so ist sowohl der Zeitfaktor als auch damit die Negierung des alleinigen Grundes der ungesunden Ernährung für die Fettleibigkeit eine relevante Erkenntnis.
    Insofern ist die Schuld im “McDonalds-Faktor” zu suchen, deutlich zu eindimensional.
    Dass Stress ein Grund sein >>kann<<, zeigen aus meiner Sicht andere Konstellationen (Unruhe, Aggressivität, Aufmerksamkeitsdefizite u.s.w.). Dies zu untersuchen, bedeutet aber etwas mehr sich mit den Personen hinter den Daten auseinanderzusetzen. Die Ursache des Stress, ggf. der unzureichende Ausgleich zum Stress, wären sicherlich Punkte, die eine weitere Studie rechtfertigen würden.

  6. FAZ-jom sagt:

    Ja, der McDonald-Faktor ist...
    Ja, der McDonald-Faktor ist ein absolut berechtigter Hinweis. Liegt der Verdacht in der Luft, dass die Schnellrestaurants nicht nur an Autobahnen, sondern auch in Schulnähe positioniert werden. Oder die Eltern nehmen zur Belohnung der ersten Leistungsnachweise die Kids regelmäßig in die Frikadellenbuden – wer weiß. Aber im Ernst: Die Forscher haben ja ehrlicherweise in der Studie angegeben, dass sie über die Kausalität nur spekulieren können. Und im Übergewicht der Elterm, den sie als Faktor ja auch ernst nehmen, steckt ja schon der McDonalds-Faktor. Trotzdem ist es doch seltsam, dass die maximale Gewichtszunahme in einem einigermaßen engen Zeitfenster stattfindet. Oder warum sollten Fressattacken gerade mit sechs Jahren generiert werden?

  7. dc-3 sagt:

    <p>Wo bleibt der...
    Wo bleibt der McDonalds-Faktor in dieser Studie? Lächerlich, das Ganze! Die Kids werden fett, weil sie zu viel futtern!

  8. EgonOne sagt:

    <p>Life is not easy</p>
    <p>Ich...

    Life is not easy
    Ich kann mich noch sehr gut an diese stressvolle Situation des ersten Schultages erinnern. Und das war mehr als ein halbes Jahrhundert her. Trotz Zuckertuete war ich damals nicht begeistert.
    Zum Glueck habe ich das ueberstanden, und schaffte es bis in die Gegenwart ohne allzuviel Malheur.
    Wir hatten leider keine Probleme mit Uebergewicht, denn wir hatten kaum genug zu Essen. Die wenigen Suessigkeiten in der Tuete waren schnell weg. Natuerlich erwarteten uns ander Probleme, des Erwachsens, das Rauchen, Alkohol, Frauen, Beruf, und andere Sachen mit denen wir klar kommen mussten.
    Die Eltern hatten wenig Rat fuer uns, und wenn wir was taten dassden Lehrer aergerte und man bekam eine Ohrfeige, dann sagten uns die Erwachsen wir haetten das sicherlich verdiehnt. Das war vor man von “tough love” sprach.
    Nun ja wir habens ueberstanden, und geniessen sogar unser Leben — was noch uebrig ist.
    Ich bin sicher unser suessen Kleinen werden auch den Strees der Situation ueberleben, und spaeter produktive Leben leben. Ich wuensch es ihnen.
    Happy Trails Boys and Girls
    Pax vobiscum

  9. mimotomo sagt:

    <p>Das hier dargestellte...
    Das hier dargestellte Ergebnis der Studie ist ein wenig dürftig: warum sollte nicht der Bewegungsmangel schuld sein? Immerhin kann doch die Essensgewohnheit und somit die vermehrte Aufnahme von Kohlenhydraten in Verbindung mit der Reduzierung der Bewegung mit dem Schulstart eine Ursache sein.
    Eigentlich ist doch bekannt, dass insbesondere Jungs arge Schwierigkeiten mit den geringen Bewegungen in den ersten Klassen haben und arg darunter leiden, dass die meist weiblichen Grundschullehrer der Anforderung nicht nachkommen wollen…
    Dennoch ist der Stress von Kindern nicht zu unterschätzen, da die Kleinen diesen weder äußern noch bewältigen können – mit Ausnahme durch Schlaf. Wenn aber der Ersatz-Babysitter “Fernseher” dazukommt, dann ist die Bewältigung dahin.
    Aber das alles scheint die Studie nicht beachtet zu haben… Schade.

  10. Sahrib sagt:

    <p>Kiggs, Pigs, Schnikks......
    Kiggs, Pigs, Schnikks… oder aber der gesunde Menschenverstand: Der sagt zB:
    mit 6-7 haben Kinder langsam eine gewisse Grundselbständigkeit, sie können selbst im Kühlschrank den pudding rausnehmen, sie können Süßigkeiten horten,
    sie bekommen Taschengeld, das für diversen Junkfood ausgegeben werden kann.
    sie sitzen(!) länger(!) vorm TV… – und dann werden sie eben fett. Als vor 2 Jahren mein Sohn in die erste Klasse(pardon: Lerngruppe1) ging, konnten 80% der kinder keinen Purzelbaum, tja… Gestern hab ich meine Kinder 17:00 aus dem Hort abgeholt, abends hab ich uns eine Hühnersuppe gekocht (aus einem echten huhn, natürlich). Hat mir Spaß gemacht, auch, wie es uns dann schmeckt.
    Dann hat man auch keine fetten Kinder. Ok, Wissenschaftler müssen auch leben…

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