Gibt es in diesem Land etwas Abschreckenderes, etwas Undurchdringlicheres, von dem behauptet wird, System zu haben, als unser Pflegefall Nummer eins: das Gesundheitssystem? Der Direktor einer Klinik am Frankfurter Uniklinikum hat mir dieser Tagen ein vielseitiges Manuskript mit seiner Sicht von der täglichen Geldverschwendung in einem vollkommen überbürokratisierten und überdimensionierten Apparat zugeschickt, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen müsste. Der Hinweis, dass das wohl alles stimmen mag, aber eigentlich nicht neu sei, leuchtete ihm auf Anhieb ein. Jeder weiß: In diesem System gibt es seit Jahren so viele Baustellen, dass die Gesundheitsreformatoren nie fürchten müssen, arbeitslos zu werden. Und manchmal kommt man dann auf diese Baustellen und erlebt hautnah, was jeden Tag vermutlich Tausende Patienten schlucken müssen an bitterer Medizin, die von den Dauersanierern immer wieder neu angerührt wird.

Von einer solchen Baustellenvisite ist hier zu berichten, von der Pflege- und Betreuungsbaustelle. Genau genommen von zwei Besuchen auf der gleichen Baustelle. Einer davon hatte einen schlimmen Anlass. Meine Tante M. war in Heidelberg-Schlierbach in einen Autounfall verwickelt. Auf einer zweispurigen Bundesstraße, die am Neckar entlang führt, war sie mit einem anderen Wagen frontal zusammen gerast. Der Unfall ereignete sich quasi gegenüber der Orthopädischen Universitätsklinik in Schlierbach. Totalschaden, Hubschraubereinsatz, Notoperation an der Wirbelsäule, komplizierter Brustbeinbruch – das volle unfallchirurgische Programm folgte. Sie landete schließlich, wie es der Zufall wollte, tatsächlich in der Orthopädie, und zwar im „Wielandheim“-Bau, dem 1929 als „Landeskrüppelheim“ eingeweihten Komplex, der aus der Schlierbacher Klinik für Kriegsverletzte endgültig eine „Orthopädische Vollanstalt“ machte.

Man muss sich das malerische Klinikanwesen im Neckartal vorstellen wie ein Prunkstück aus den Klosterarchitekturen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Herrlich zwischen den grünen Hügeln kurz hinter Heidelberg gelegen und um die Gebäude herum ein großzügiger Skulpturen- und Landschaftspark, in dem auch die gröbsten Stahlkunstwerke noch wie massive Naturschönheiten wirken. Eine umwerfende Kulisse. Der erste Abend und die Nacht in dem Dreibettzimmer auf Station J3 wird ihr allerdings nicht etwa deshalb lange in Erinnerung bleiben. Und auch nicht etwa, weil sie durch das offene Fenster tatsächlich den Blick zum Neckarufer und damit auch auf ihre Unfallstelle frei hatte. Nein, an diese Nacht wird sie sich erinnern, weil sie, die sonst durch nichts aus der Ruhe zu bringen ist, eine fast schon traumatisierende Verzweiflung erfasste. Durch die offenen Fenster blies ein scharfer Wind, und in ihrem Bett liegend quälte sie zu den aufsteigenden Depressionen und den elenden Schmerzen noch die zusätzliche Sorge, eine Lungenentzündung zu bekommen. M. klingelte also. Die beiden Bettnachbarinnen waren so unbeweglich wie sie, eine 75jährige ist seit Wochen mit wundgelegenem Rücken ans Bett gefesselt. Dreieinhalb Stunden dauerte ihr Kampf mit sich und dem Gefühl, ausgeliefert zu sein. Dann kam der Pfleger die Tür herein. Der Mann bedauerte sehr, aber er sei halt die einzige Pflegekraft weit und breit und ständig auf Achse gewesen in dieser Nacht.

Paradoxerweise liegt das Krankenzimmer direkt gegenüber dem „Pflegestützpunkt“. Um die Ecke hängt neben der Portraitsammlung des Stationspersonals eine Urkunde an der Wand: In der TK-Patientenbefragung 2008 gab’s für die Uniklinik in fünf Qualitätskriterien „überdurchschnittliche Ergebnisse“, unter anderem auch für die medizinisch-pflegerische Versorgung.
Papier ist geduldig. Was kein Vorwurf an die Schwestern und Pfleger ist. Eine von ihnen, die ich nach der nächtlichen Krise um einen Rollstuhl bat, fragte ich nach den fehlenden Fußstützen am Rollstuhl. Sie antwortete, leicht frustriert: „Geht nicht. Hier gibt es keinen einzigen vernünftigen Rollstuhl, entweder sind sie platt oder es fehlt ständig irgendwas.“
Dafür gibt es draußen große Kunst und die Fassaden der Klinik wirken frisch gestrichen.
Die schönste Umgebung taugt nichts, wenn im Haus die Verzweiflung wohnt. Auch das ist eine der traurigen Lehren, die man im Tagebuch unserer Gesundheitssystem-Reformatoren unterbringen könnte. Wie gesagt: Man sollte nicht verallgemeinern, aber es sind Symptome – gravierende Mängel und immer wieder eben auch unerhörte Zumutungen. Solche, die auch dort vorkommen, wo die bundesweit erste Direktorin einer Universitätsklinik, Irmtraud Gürkan, seit einigen Jahren das Sagen über die kaufmännischen Angelegenheiten hat – und, wie man bei ihren Vorträgen immer wieder leicht heraushört, systematisch den wirtschaftlichen Erfolg des Heidelberger Uniklinikums vorantreibt. Die Etablierung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen ist das wesentliche Ergebnisse der großen Gesundheitsreformrunden, so hat es der Wissenschaftsrat im vergangenen Jahr explizit festgestellt. Und Wettbewerb, Kostenstrukturen und damit Spardruck, bestimmen die Bedarfsplanung der Kliniken.

Womit ich bei dem zweiten Baustellenbesuch angekommen wäre, der im Lichte der Erfahrungen in Schlierbach einen zustätzlichen, unpassenden Beigemschmack bekommen hat. Ich war also beim Wissenschaftsrat in Köln zu Gast, der sich das Thema Akademisierung der Gesundheitsberufe auf die Fahne geschrieben hat. Vor knapp einem Jahr hat der Rat, der im Auftrag der Bundesregierung und der Länder regelmäßig die Forschungslandschaft begutachtet und Vorschläge zur Weiterentwicklung macht, ein, sagen wir: bemerkenswertes Konzept für die Zukunft der Pflegeberufe vorgelegt. Die „Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen imGesundheitswesen“ laufen darauf hinaus, dass Pflegekräfte künftig – zu einem immer größer werdenden Teil – an Hochschulen in einer Art Bachelor-Studiengang ausgebildet werden. Wer sich um die Gesundheit der anderen kümmert soll studieren, und zwar nicht, um den Arzt zu ersetzen, was bei Narkosespezialisten schon seit Jahren für große Debatten sorgt, sondern um die Mediziner zu entlasten und mit der immer komplexeren Hightechmedizin – Stichwort: Digitalisierung und E-Health – künftig klar zu kommen. Delegation statt Substitution, lautet die Devise des Wissenschaftsrates (mehr dazu im Jahresbericht 2012 des WR, Seite 37 ff). Und nicht nur er hält es für wünschenswert, die Attraktivität und das Ansehen der Gesundheitsberufe allgemein zu steigern. In Holland und Schweden gibt es die akademisierten Pflegerinnen und Pfleger jedenfalls schon.

Im Blick hat der Wissenschaftsrat nicht nur die Kranken- und Altenpflege, sondern auch die Therapeutenberufe,also Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden und schließlich auch Hebammen und sogenannte Entbindungspfleger (Und warum nicht bald auch die Medizinisch-technischen Assistenten?). Der Plan wird natürlich auch gerne unter dem Label Professionalisierung gelesen, was dann auch prompt dazu geführt hat, dass nicht nur Hochschulverband und Bundesärztekammer protestierten gegen die Akademisierungsoffensive, sondern auch die Berufsverbände, die eine Diskriminierung der etablierten und mehrheitlich älteren Pfleger befürchten. Was auch mit einigem Recht behauptet werden darf. Denn dass herkömmlich ausgebildete Pfleger minder qualifiziert wären und generell schlechte Arbeit abliefern, lässt sich empirisch ja kaum belegen – jedenfalls nicht, sofern das Umfeld stimmt und die Arbeitsbedingungen. Der Nachtpfleger in der Heidelberger Orthopädie war ja nicht unqualifiziert oder unwillig, im Gegenteil. Er konnte sich nur halt nicht zerteilen.

Das bringt mich auf die Versorgungslücken im Pflegebereich, die der Wissenschaftsrat ja auch sieht. Überalterung, Multimorbidität der Alten, Pflegebedürftigkeit – viele Bevölkerungs- und Gesundheitsindikatoren weisen auf den steigenden Bedarf hin. „Für die Zukunft kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein möglicher künftiger Mehrbedarf an Versorgungsleistungen führen könnte“, schreibt auch der Rat. Und für die Gegenwart? Da möchten die wissenschaftlichen Gutachter doch den „generellen Pflegekräftemangel“ relativiert sehen. Die Zahl der Pflegekräfte im vollstationären Bereich der Kliniken sei zwar von 396.000 im Jahr 2000 auf 382.000 zehn Jahre später gesunken. Von einem Personalmangel wolle man aber nicht sprechen. Fakt ist allerdings, und auch das ist in der Empfehlung des Rates nachzulesen: Allein die Zahl der Pflegebedürftigen im Land ist in dieser Zeit um 15 Prozent auf 2,3 Millionen gestiegen. Und soll dieser weiter wachsende Mehrbedarf mit Pflegern gedeckt werden, deren Ausbildung nicht nur besser, sondern auch teurer wird, und die als „Delegierte“ des Arztes auch sicher mehr verdienen wollen?
Man könnte also, wenn man die Zukunft akademisierter Pflegeberufe ins Auge fasst, die Forderung nach einer Qualitätssteigerung nicht nur als mutigen, sondern auch als waghalsigen Plan bezeichnen. Der Hochschulapparat müsste aufgerüstet, zusätzliche Lehr- und Forschungsbudgets eingeplant werden. Das kann man diskutieren. Andererseits fragt der Patient: Kann es sein, dass die Debatte über ein Pflegestudium und die Qualifizierungshöhe des Personals von den eigentlichen Mängeln, der konkreten und sich zuspitzenden Unterversorgung, ablenkt?
Hauptsache, man sart am Personal.
Sämtliche Ideen, die stationäre Versorgung zu verbessern, kommen von Menschen, die nicht oder – noch besser – nie in der Pflege gearbeitet haben.
Das aktuelle Problem ist nicht primär jenes, dass die Pflegekräfte nicht qualifiziert genug sind, sondern die Tatsache, dass es anhand der Arbeitsmenge zu einer Überforderung kommt, gleichzeitig inhaltlich aber eher eine Unterforderung vorliegt.
Die Idee, den Pflegeberuf zu akademisieren, ist damit meiner Meinung nach völlig schwachsinnig: es besteht bereits ein Mangel an Pflegekräften, welcher sich durch eine Erhöhung der schulischen Anforderung eher verschlimmern als verbessern wird. Denn: wer, der genug im Kopf hat, will denn schon ein Studium für einen beruf aufnehmen, der das Sozialleben massiv einschränkt, nicht gut vergütet wird und in dem er letzten Endes immer nur eines macht, nämlich dem Arzt zuarbeiten? Weitere Delegationen sind daher einfac h nur unangemessen, das Arbeitspensum ist bereits groß genug, zumal es deswegen Pflegekraft heisst, weil Pflege ein Kernpunkt der Arbeit ist.
Man kann es drehen und wenden wie man will, das einzige wirkliche hilfeiche ist, mehr Pflegekräfte anzustellen und nicht an dieser Stelle zu sparen. Die Krankenhäuser fordern es regelrecht heraus, dass Patienten zu schaden kommen (so wie es jener Tante hier passiert ist) und ihnen die Mitarbeiter aufgrund Burnout und Depression abhanden kommen – wer erträgt es schon auf lange Sicht, einen Beruf auszuüben, der einen körperlich kaputt macht und bei dem nach jeder Schicht nur der Gedanke bleibt, dass man selber nie gepflegt werden will?
Nur Aberglaube unterstellt, dass
ein Studium Pflichtbewusstsein und praktische Fertigkeiten steigern könnte!
Es kommt auf die Prägung im Elternhaus an.
Großbritannien macht es vor
In Großbritannien hat man schon ein paar Jahre mehr Erfahrung mit der Akademisierung der Pflegeberufe. Die so zu einer höheren Qualifikation gelangten Pfleger fühlen sich für das Kern-Geschäft der Pflege – die Arbeit am Patienten- / Altenbett, das Waschen, Anziehen, Essen anreichen, Verbände wechseln – überqualifiziert und nicht mehr zuständig.
Man könnte auch behaupten, einige diese Pfleger haben mit all dem Mehrwissen einfach keine Lust mehr auf die mitunter anstrengende Pflegearbeit am Patienten.
Sie sitzen jetzt lieber am Schreibtisch oder halten einen Power-Point-Vortrag und delegieren die Pflege an die weniger akademisierten Pfleger. Insgesamt sind in GB auf die Art und Weise in den letzten Jahren ca. 10% aller Pflegenden nach Durchlaufen eines Pflegestudiums der eigentlichen Pflege verloren gegangen.
Gewollt ist das, sowas nennt sich noch sozial
Kein Wunder, die Alten mumifizieren lieber zuhause, als in so ein Ding gehen zu müssen.
Titel eingeben
Es mangelt nicht an der Qualifikation des medizinischen Personals, sondern an Personal, sprich an Zeit für den Menschen. Aus eigener Erfahrung muss ich sagen, dass man mit den Menschen – und da meine ich nicht nur Patienten, sondern auch Mitarbeiter- nicht umgehen kann, wie mit Maschinen.
Wir sind alle mit individuellen Merkmalen ausgestattet, die man nicht so ohne weiteres in ein Schema pressen kann.(Die Pharmaindustrie beginnt das zu beachten.) Die medizinischen Mitarbeiter gehen frustriert und ausgelaugt nach Hause in dem steten Bewußtsein nur einen Bruchteil dessen getan haben zu können, was eigentlich notwendig wäre. Uns wurde vor Ort vom Personalchef gesagt, es gäbe keine “Mehrarbeit” bei höherem Patientendurchsatz, es handele sich dabei um “Arbeitsverdichtung”. Man hält uns schlichtweg für total verblödet und nicht denkfähig. Es herrscht ein Menschen verachtender Umgang, auf Wirtschaftliche Effizienz ausgelegt mit aufgeblähtem Verwaltungsapparat, der mit einer Menge Daten gefüttert wird, der die Arbeit am Patienten verhindert. Dokumentation geht vor Behandlung!
So muss das Gesundheitssystem scheitern, weil es den Bezug zur Arbeit am Menschen verloren hat!