Planckton

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Die Wissenschaft ist ein ernstes Geschäft, aber gehört ihr deshalb das letzte Wort?

Big Data und die Strapazen des gesunden Lebens

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Viel hilft viel, einer der großen Irrtümer der Medizingeschichte, wird er zum Schlachtruf der digitalen Gesundheitsapostel? Ein Lehrstück vom Innovationsgipfel in Qatar und die Sorgen der neuen Wohltäter im Netz.

Zurück in Frankfurt. Über Ethik und korrektes Verhalten war in den letzten Tagen in Doha viel zu hören. Wie das aber so ist, manchmal kommt man erst viel später ins Grübeln. Im Flieger zum Beispiel. Von den 131 Filmen im digitalen Archiv der Qatar-Airways-Maschine habe ich mir ausgerechnet „Das Leben der Anderen“ angesehen. Ohne konkrete Absicht. Und doch war dann plötzlich das großartige Stasi-Spitzeldrama von Florian Henckel Donnersmarck der scheinbar passende Epilog für diese Recherchereise. Die Frage war: Handelte es sich um eine Fahrt ins medizinische „Nineteen Eighty-Four“, Orwells beklemmende Utopie vom Überwachungsstaat?

Konferenzzentrum von Doha.© Joachim Müller-JungKonferenzzentrum von Doha.

Zurück nach Doha also. Zu Gast beim „Weltinnovationskongress für Gesundheit“, kurz WISH. Zwei Tage habe ich zugehört, notiert, digital aufgezeichnet, auch diskutiert. Nichts Ungewöhnliches also. Sieht man von der Umgebung ab. Das monumentale Konferenzzentrum von Doha am Rande der Stadt, ein Glaspalast mit dem bestimmt sieben Meter hohen Replikat einer schwarzen Witwe in der Eingangshalle bot einen grandiosen Panoramablick auf die „Education City“ mit ihren wissenschaftlichen Exzellenzclustern, alles maßlos groß und teuer, und in ebendiesem vollverglasten lichtdurchfluteten Konferenzzentrum fühlte man sich tatsächlich bisweilen wie im Netz der Thekla. Nur viel mondäner – und netter. Komm nur näher Maja, ich zeig dir was. Überall waren sie, die Dienstleister, schicke junge Leute in schwarz, denen kein zweifelnder Blick entging und für die jeder Moment der Orientierungslosigkeit ein Ernstfall war.

Eine hypermoderne Service-Monarchie dieses Qatar, offenkundig. Die einen lassen sich da reinfallen ins Netz, die anderen kommen ins Grübeln. Dass ich zu letzterem tendierte an den beiden Konferenztagen lag wohl an der Begegnung im Flughafentaxi. Ich war zusammen mit einem libanesischen Kollegen und einem Ministerialbeamten aus dem Yemen in einer Limousine abgeholt worden. „Glaube nicht, dass du hier verloren gehen kannst.“ Der Yemenite, wie der Journalist ein Wiederholungstäter auf dem „Weltinnovationskongress für Gesundheit“, nickte und sah mich prüfend an. Jeder Winkel der Halbinsel werde überwacht. Wer das Land betrete, müsse keine Angst haben, sagt der Ministeriale, seine Schwester, die inzwischen mit ihrer Familie in Doha lebt, lasse tagsüber völlig unbekümmert stundenlang die Tür ihres Hauses offen. „Der Kamerafetisch hat auch was Gutes, man kann sich wohlfühlen hier – und sicher.“ Und lacht dabei.

Monumental: Austragungsort des Gesundheits-"Weltgipfels"© Joachim Müller-JungMonumental: Austragungsort des Gesundheits-“Weltgipfels”

Solche Ironie trifft einen Deutschen ins Mark, ob er will oder nicht. Die Überwachungsdebatte und die nicht enden wollenden Enthüllungen haben sich schon tief ins kollektive Angstgedächtnis gegraben. Das Zuhören in den Konferenzsälen war deshalb genauso wie der kurze Spaziergang zu den Baustellen vor dem Monumentalbau von einem unguten Gefühl bestimmt, dem Gefühl der Unsicherheit. Und genau dieser Begriff „unsichere Umgebung“ verfolgte mich dann auch in den beiden Konferenztagen. Ich konnte mich beinahe erleichtert dabei beobachten, wie dieses diffuse Gefühl innerlich eine Kritikbereitschaft nährte, die dem Gegenstand des Besuchs vollkommen unangemessen schien. Ging es nicht um segensreiche Innovationen, um echte Fortschritte im Kampf gegen Ebola, Antibiotikamissbrauch, Demenzkrise und ärztliche Versorgungslücken? „Die Gesundheitssysteme der Welt brechen zusammen, alle müssen sich etwas einfallen lassen“, das waren die Worte des WISH-Veranstalters, Egbert Schillings, ein Deutschkalifornier, ehemals McKinsey und Direktor von „Kaiser Permanente“ – dem „besten Gesundheitsversorger der Welt“. Und Qatar sei jetzt der beste Ort, Ideen für die Rettung der Gesundheitssysteme zu sammeln. Eins jedenfalls ist klar: Ideen gehen hier nicht verloren.

eAccess: Tausend und eine Medizin-Innovation.© Joachim Müller-JungeAccess: Tausend und eine Medizin-Innovation.

Qatar hat einen Plan, es hat die Mittel, aber hat es auch die Menschen dafür? Hier kommt die Ethik ins Spiel, die von der Dynamik dieser Entwicklung rigoros in den Schatten gestellt wird. Nicht nur in Qatar. Die besten Absichten sind wenig wert, wenn sie nicht ankommen oder Schaden befürchten lassen. Nationale Biobank, nationales Genomprojekt, die lückenlose Verknüpfung mit elektronischen privaten Gesundheitsdaten, das alles soll in dem kleinen Emirat mit dem unermesslichen Ölreichtum und seinen nur zwei Millionen Einwohnern schneller ins Werk gesetzt werden als irgendwo anders auf der Welt. Ob es gelingt, ist noch längst nicht entschieden. Aber die ethischen Fragen und die juristischen, auch die psychosozialen Veränderungen, die der Zugriff auf die Patientenautonomie mit sich bringt, sind hier so virulent wie die Überzeugung der Mächtigen, das Richtige zu tun – Vorbild für die Welt zu sein. Was aber ist richtig und ethisch vertretbar? Oder sogar für die öffentliche Gesundheitsvorsorge moralisch geboten? Die Gesundheitsindustrie kann der Frage nicht mehr ausweichen. Sie schlittert immer tiefer in die Widersprüche des explodierenden Gesundheitsinformationsmarktes hinein.

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Mustergültig dafür steht inzwischen ein Begriff, der die gesellschaftliche Dimension andeutet: „Global Health Security“. Gesundheitsdaten, so das Konzept, hortet man nicht nur, weil es dem Einzelnen nützt, sondern vor allem dem Kollektiv. Big Data als ethische Verpflichtung, als Akt der Solidarität. Das Argument hat man auf den diversen WISH-Podien immer wieder hören können, am vehementesten waren sie auf dem Genom-Ethik-Podium in Doha von den Qatarern und den Sharia-Experten vertreten worden.

In einer Artikelserie im jüngsten „Plos Computational Biology“, einem Journal längst nicht mehr nur für Bioinformatiker, ist dieser moralische Zwiespalt kürzlich mit ein paar Artikeln problematisiert worden. Im Mittelpunkt: die digitale Epidemiologie. Sie ist gewissermaßen das Herzstück der Global Health Security. Data-Mining zum Schutz vor der schnellen Ausbreitung neuer gefährlicher Erreger. Privatdaten und semantische Analysen von sozialen Medien, Facebook Twitter, Google-Suchanfragen, von Citzien-Science-Projekten und aus Gesundheitsdaten-Clouds – alles kann abgegriffen und ausgewertet werden. Und wird großteils schon. Auch hier sieht Qatar die Fachwelt in einer besonderen Verantwortung. 18 bestätigte Infektionen mit dem vor drei Jahren erstmals aufgetretenen und mutmaßlich von Kamelen stammenden Mers-Coronaviren sind für die Regierung Grund genug, radikalere Maßnahmen für eine digitale Krankheitsüberwachung („Surveillance“) über den Mers-CoV-Herd im Nahen Osten hinaus einzufordern. Hamad Eid Al-Romaihi von der nationalen Gesundheitsbehörde in Doha bekam da prominente Unterstützung. Elias Zerhouni etwa, der ehemalige Direktor der amerikanischen Nationalen Gesundheitsbehörde NIH, hat sich in Doha für eine „konsequente grenzüberschreitende Modernisierung der Surveillance-Tools“ ausgesprochen. Doch wohin führt das, wenn für die Gesundheitsvorsorge massive Datenpools aufgebaut und gespeichert werden? Philip Bourne, einer der digitalen Führungsoffiziere im NIH heute, hat in seinem Plos-Editorial gemahnt: „Der Ruf nach digitalen Daten ist gewaltig, ebenso groß sind aber auch die Risiken.“

Digitale Epidemiologie:  Zu sehen ist eine hochaufgelöste Karte, ermittelt durch Auswertung von 250 Millionen amerikanischer Tweets , die als "impfkritisch" eingestuft wurden.© https://journals.plos.org/ploscompbiol/article?id=10.1371/journal.pcbi.1002616Digitale Epidemiologie: Zu sehen ist eine hochaufgelöste Karte, ermittelt durch Auswertung von 250 Millionen amerikanischer Tweets , die als “impfkritisch” eingestuft wurden.

Er ist nicht nur die „Gefahr der Stigmatisierung von Teilen der Gesellschaft, er sieht auch die individuelle Freiheit in Gefahr – wenn, ja wenn die digitale Jagd nach Erregern dazu führt, dass die falsch Positive, also fälschlich als infizierte oder präventiv hochgefährdete Personen, isoliert werden. In der Ebola-Epidemie war der Fall nicht nur einmal aufgetreten. Allerdings war eben speziell diese westafrikanische Seuche gerade wegen jener digitalen Hinweise im Netz schnell, vor allem auch deutlich vor den ersten offiziellen Ebola-Berichten, um die Welt gegangen. Effy Vayena von der Universität in Zürich sieht die Zwiespältigkeit der digitalen Gesundheitsrevolution in immer größere Probleme abgleiten, wenn nicht rasch „ethische Standards“ entwickelt und möglicherweise professionelle „Überwachungsgremien“ installiert werden – Überwachung nicht aber der User, sondern der Gesundheitsbehörden, Firmen und Wissenschaftler, die solche Daten im großen Stil abgreifen. „Je nachdem, was abgefragt wird, wie die Daten miteinander kombiniert werden, kann eine einzelne Datensammlung schnell ihre ursprüngliche Bestimmung verlassen“, warnt sie.  Wenn Suchanfragen mit den Informationen aus sozialen Plattformen, den zunehmend digitalisierten Warenverkehr weltweit vernetzt und mit den privaten wie ärztlichen Gesundheitsdaten der Menschen vernetzt würden, „geht das weit über die klassische Identifizierung von Krankheitsausbrüchen und Seuchenmustern hinaus“.

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Klassische Bewegungsprofile bekommen im Kontext der neuen Medizin einen erstaunlichen Mehrwert.  Für die Health Security sind alle möglichen Informationsquellen wertvoll. In kleineren experimentellen Studien an Arbeitsplätzen und Schulen ist gezeigt worden, dass das Tragen von Smartphones viel über den Erreger und die Ansteckungsgefahr auszusagen vermag. Die Information darüber, wie nahe sich Schüler und Arbeitskollegen kommen, lässt Rückschlüsse zu, ob ein Erreger sich genetisch möglicherweise schon verändert hat und durch Tröpfcheninfektion übertragen wird – oder ob der direkte Körperkontakt notwendig ist und damit die Infektionsgefahr geringer ist.  Die Einschätzung der Pandemiegefahr wird beispielsweise im Falle der Vogel- und Schweinegrippe seit Jahren durch eben solche Unwägbarkeiten erschwert.

"Achieve" ist das Motto nicht nur vis-à-vis: "Education City" mit seinen Exzellenzclustern aus amerikanischen Eliteuniversitäten.© Joachim Müller-Jung“Achieve” ist das Motto nicht nur vis-à-vis: “Education City” mit seinen Exzellenzclustern aus amerikanischen Eliteuniversitäten.

Die Frage lautet also, ob das internationale Regime, das die Nutzung all dieser an sich sinnvollen Daten im Kontext der Krankheitsprävention regelt, den aktuellen ethischen Herausforderungen noch gewachsen ist. Die Schweizer Bioethikerin verneint das rundheraus. Ihre Sorge: Die Probleme wachsen mit den digitalen Optionen, und das bedeutet: immer schneller. Gemessen an der Zahl der angemeldeten Geräte ist die Weltbevölkerung inzwischen zu 96 Prozent mit Mobiltelefonen versorgt, 40 Prozent sind irgendwie mit dem Internet verbunden, und 82 Prozent dieser Online-Community ist als Nutzer von sozialen Netzwerken registriert. Gesundheitsdaten, die an sich mit sinnvollen Motiven gesammelt werden, drohen für Vayena immer radikaler “ethische Sorgen“ und „Spannungen“ in den Gesellschaften zu generieren. Im grenzenlosen digitalen Raum entstünden zunehmend „unsichere Umwelten“. Mit der Vermehrung und Vernetzung der inzwischen schon mehr als 40.000 Gesundheits-Apps dürfte sich dieser Trend eher noch fortsetzen. Noch in diesem Jahr soll zudem die Domaine „.health“ online gehen. Das wird  die Zahl der Anbieter und kommerziellen Nutzer digitaler Medizindaten noch einmal erhöhen.

Gesundheit first: Qatar auf der biomedizinisch-digitalen Überholspur.© Joachim Müller-JungGesundheit first: Qatar auf der biomedizinisch-digitalen Überholspur.

Das Begehren nach einer Gesundheit, die unsere moderne Welt in dem gleichen Maße zu verlieren droht, wie sie an Lebensjahren gewinnt, diese unstillbare Sehnsucht wird alsodas massenhafte Graben nach allen möglichen nützlichen Daten sicher weiter vorantreiben. Jede Schnittstelle wird angezapft. Wer nach wohltätigen Motiven für den Aufbau von Big Data sucht, hier wird er fündig. Eine Antwort darauf allerdings, was wir eigentlich genau suchen, wenn wir uns nach Gesundheit sehnen, dürfte auch in der Cloud nicht so einfach zu finden sein. Gesundheit, stellte Hans Gadamer in seiner herrlichen philosophischen Aufsatzsammlung  über “Die Verborgenheit der Gesundheit” gegen Ende seines 102-jährigen Lebens fest, gehört zu dem Wunder der Selbstvergessenheit: “Sie ist nicht etwas, das sich als solches bei der Untersuchung zeigt, sondern etwas, das gerade dadurch ist, dass es sich entzieht.” Mal sehen, ob das unter dem Regime der digitalen Minenarbeiter so bleibt.


4 Lesermeinungen

  1. […] Big Data und die Stra­pa­zen des gesun­den Lebens: Viel hilft viel, einer der gro­ßen Irr­tü­mer der Medi­zin­ge­schichte, wird er zum Schlacht­ruf der digi­ta­len Gesund­heits­apos­tel? Ein Lehr­stück vom Inno­va­ti­ons­gip­fel in Qatar und die Sor­gen der neuen Wohl­tä­ter im Netz. Zurück in Frank­furt. — by Joa­chim Müller-Jung — Tags: faz, wp2015-02 — https://blogs.faz.net/planckton/2015/02/21/big-data-und-die-strapazen-des-gesunden-lebens-1208/ […]

  2. […] Big Data und die Strapazen des gesunden Lebens […]

  3. guenterbluemel sagt:

    Big Danger
    In der Tat entstehen auch im Gesundheitsbereich mit der Datenbombe Gefahren, die mit der Atombombe zu vergleichen sind. Wer so viel über einen Menschen weiß, wie die Herren der Daten, kann den Lieferanten leicht manipulieren. Wenn der Inhaber der Macht will, bis zum Tod, zum unverdächtigen Tod durch eine “natürliche” Ursache. Der ganz legale Mord, sozusagen. Die Frage lautete daher: Wer wird die Machthaber kontrollieren? Die Stasi, der Verfassungsschutz, die NSA, das chinesische oder russische Pendant? Oder sie alle gemeinsam! Ich wünsche einen schönen Sonntag.

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