Was treibt Betrüger innerlich an? Die Wächter der Wissenschaften suchten die Antwort in der Hirnforschung – und waren plötzlich selbst ganz schön reformfreudig.
Ärgern dürfen wir uns ja schon über den anmaßenden Fußballplattmacher Blatter. Nur müssen wir uns auch fragen: Wie kommt’s? Systematischer Betrug in der ehrenwerten Gesellschaft, damit stünden die betreffenden Fifa-Granden ja nicht allein auf dem weiten Rasen menschlicher Abgründe. Sollten wir nicht auch, wenn diese akademische Volte einmal gestattet ist, etwas gründlicher nach den Mechanismen und Wurzeln solcher sozialer Irrwege fragen? Nehmen wir die Irrationalitäten der edlen Wissenschaften. Was von ihnen in dem unüberschaubaren Wust an betrachtenswerten, rationalen Entdeckungen bei Außenstehenden hängen bleibt, ist oft wenig schmeichelhaft. Plagiate, Fälschungen, frisierte Daten, nicht reproduzierbare Sensationen, da kommt einiges zusammen. Es gebe, so hat Harald von Kalm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unlängst festgestellt, „Gefährdungsmomente aus dem System selbst heraus“, die Wissenschaft sei durch betrügerische Umtriebe in Gefahr, ihre Redlichkeit und Vertrauen zu verspielen. Was weiß man also über Motive und die Ursachen der sich häufenden Regelverletzungen?

Eine heiße Spur verfolgte man vor ein paar Tagen auf dem Symposium der deutschen Ombudspersonen, das von Kalm in Bonn einberufen hatte. Diese Spur war im innersten Zirkel des öffentlich eher unauffälligen DFG-Wächterrats gelegt worden. Es handelt sich um ein Wort, das vermutlich keinem der Betroffenen innerhalb oder außerhalb des Systems Blatter je zu Ohren gekommen sein dürfte: „Gier frisst Hirn!“ Der Jurist Wolfgang Löwer, seit vier Jahren Sprecher des „Omdudsman für die Wissenschaft“, einem zahlenmäßig ständig wachsenden Gremium für die gute wissenschaftliche Praxis, trägt diese griffige Betrugsformel inzwischen wie ein Menetekel auf dem Transparent der ehrenwerten Gelehrtengesellschaft vor sich her. In Bonn viel der Satz gleich mehrfach. Gier frisst Hirn – diese Formel führt mitten hinein ins gefährliche Dickicht von Betrug und Schwindel, sie verlegt die brüchige Verbindung zwischen Mensch und Moral geradewegs ins menschliche Gehirn. Aber bringt uns das weiter?

Die erste Frage, die da eigentlich zu stellen ist, lautet: Gier und Gehirn, was ist da Henne und was das Ei? Leidet das Hirn am gierigen Wesen, was auf die Persönlichkeit des Betreffenden und eine gegebenenfalls üble Kinderstube zurückfällt, oder ist der Gierige vielleicht doch das Opfer seines Hirns geworden, das alles anderes als eine ausgewachsene Raffkementalität und damit das Gute gar nicht zulässt? Mit anderen Worten: Trifft das Individuum die Schuld oder liegt die Ursache allein in der neuronalen Verdrahtung seines Gehirns? Sie merken: Wir bewegen uns auf dem schwankenden Grund jener neumodischen Neurotheorien, die das Gehirn und seine Schaltpläne ins Zentrum jeder sozialen Regung rücken – ob es um Erziehung geht (Neuropädagogik bis Neuroedukation) geht, um das große Einmaleins des Wirtschaftens (Neuroökonomie) oder um Schuld und Sühne (Neurojustiz).
Um nun Gier neurobiologisch einzuordnen, konnte man für das Treffen der Ombudsleute keinen geeigneteren Gewährsmann finden als den Bonner Neurologen und Mediziner Christian Elger. Er hat es in wenigen Jahren vom international bekannten Epilepsieforscher zum sprachmächtigen Neuro-Coach und Bestsellerautor gebracht. Verborgene und tief verwurzelte Hirnrissigkeiten zu finden und zu deuten, das ist sein Geschäft. Und davon jedenfalls ist Elger felsenfest überzeugt: Dass die Gier evolutionär gesehen tiefe Wurzeln ins Menschengeschlecht geschlagen hat. „Die Welt ist ein Heuhaufen, ein jeder pflückt davon, soviel er kann“, das Zitat des Hieronymus Bosch, mehr als ein halbes Jahrtausend alt, war für Elger freilich nur die aphoristische Girlande um sein eigentliches naturwissenschaftliches Thesengebäude, das er im Anschluss daran aufbaute.

Es ging um Moral und um Ehre und warum Störungen im Stirnhirn – eine einmalige neuronale Institution im gesamten Tierreich – uns ins soziale Verderben reiten. Ganz zentral freilich im Hinblick auf maßloses Verhalten ist und bleibt das Belohnungssystem. Es ist unser entscheidendes Motivationssystem. Und nicht nur unseres. Praktisch jedes bekannte Säugetier hat in der Tiefe des mesolimbischen Systems, ganz nah an der Stelle, an der sich der Hauptumschlagplatz unserer Emotionen und Triebe findet und das Glückshormon Dopamin seine Hauptrolle spielt, diese bemerkenswerten Schaltkreise, die unser Verlangen antreiben. Wenn das Belohnungssystem aktiviert wird, sagt Elger, „werden wir unkritisch“, auch uns selbst gegenüber. Kontrollverlust droht. Erfolg ist so ein Suchtmittel, das den Kontrollverlust begünstigt. Und Erfolg, das ist unstrittig, ist als Zwang heute praktisch überall eingebaut, zumal im wissenschaftlichen System. Impactfaktor, Hirschfaktor, Forschungsranglisten, befristete Stellen, leistungsorientierte Mittelverteilung – „wenn das Ergebnis auch nur ein bisschen mehr Erfolg verspricht, wird das Belohnungssystem aktiviert“, stellte Elger fest. Betrug und Schwindel sind nach dieser Lesart nur ein Verhalten mehr, um das Erfolgserlebnis weiter zu steigern. Und Schwindel als solcher ist sowieso eine zoologische Konstante.
Und wie dem Fehlverhalten entrinnen?
Beim Menschen freilich kommen für Elger dreierlei Erschwernisse hinzu, die ein soziales Entgleiten in die Gier befördern: Erstens, dass dieses Belohnungssystem direkt mit unseren mächtigen übergeordneten Entscheidungsinstanzen im Stirnhin eng verdrahtet ist, dass Geld offenkundig ein besonders mächtiges Suchtmittel ist, wie Experimente mit Bankern gezeigt haben, und dass drittens dieser Erfolgszwang von einem weiteren mächtigen Mechanismus der Gedächtnisbildung begünstigt wird, den die Neurologen als „Priming“ – Bahnung – bezeichnen. Gemeint ist damit ein Prozess, der sich noch weitgehend im neuronalen Dunkel unserer Hirnwindungen abspielt, dessen Alltagskonsequenzen sich aber eindrucksvoll belegen lassen. Es geht um die heimlich-dominante Rolle des Unterbewusstseins. Um Begriffe, die – ohne, dass wir darüber nachdenken oder sie auch nur wahrnehmen – heimlich unsere Einstellungen und Sehnsüchte verändern. Wer sich dauernd im Wettbewerb steigern muss und sich in einem Milieu zu behaupten hat, in dem man schon bei der Wahl der Begriffe nicht zimperlich ist, um Misserfolge den anderen in die Schuhe zu schieben, der wird auch eigenes Fehlverhalten eher dulden. Banker im Bankensystem, das hat beispielsweise der Schweizer Verhaltensökonom Ernst Fehr vor einem Jahr in „Nature“ gezeigt, neigen in ihrem Beruf und im Banken-System grundsätzlich eher zu Unehrlichkeit als im Privatleben. Und Wissenschaftler, so folgert Elger (bedauerlicherweise ohne belastbare Empirie), werden schon so früh in ein auf Publikationszwang angelegtes System eingebunden, dass man sich über gravierendes Fehlverhalten eigentlich gar nicht wundern dürfte: „Dass immer mehr junge Leute etwas publizieren, ohne die Inhalte eigentlich zu verstehen, das ist doch tragisch.“

Was also ist zu tun in Systemen, in denen mit den Worten Elgers, die Teilnehmer „umgeben sind von ganz viel archaischem Verhalten“? Ombudsmann Löwer hält schon die Neurothese in der biologistischen Ausprägung Elgers für fragwürdig. Individuell gesehen, wendete er ein, mag es natürliche Mechanismen geben wie das Belohnungssystem im Gehirn, das den Betrug begünstigt. Kollektiv dürfen „diese uns aber nicht entlasten“. Es gebe schließlich so etwas wie eine soziale, gleichsam moralische Verantwortlichkeit – Neurothesen hin oder her. Löwer: „Fehlverhalten ist kein unentrinnbares Geschehen.“
Vielleicht also doch eher Systemfehler?
Was dann folgte in der Auseinandersetzung um pragmatische Lösungen, ist heute leider immer noch meist auf kleine und feine integre Kreise wie der Bonner Ombudsversammlung beschränkt. Es ging um die „Entschleunigung“ des Publikationsbetriebs, die der Wissenschaftskultur insgesamt zuträglich wäre, um die Abkehr vom Erfolgszwang, um die Verringerung des Wettbewerbscharakters und schließlich um die Hoffnung, dass irgendwann auch die Angst vor einem gescheiterten Experiment unbegründet sei, weil dann endlich auch das Scheitern als Chance für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Thesen betrachtet würde. Nein, gab Löwer seinen sichtlich beeindruckten Ombudskollegen mit auf den Weg, „aus der Hirnforschung folgt nicht, dass wir moralisch wehrlos sind gegenüber Gier und Betrug“. Wäre die logische Konsequenz dann nicht, so ist zu fragen, dass die Reformer endlich aus der schützenden Mitte der ehrenwerten Gesellschaft heraustreten, dass sie die Wehrhaftigkeit gegen Betrug durch eine große öffentliche Debatte um Systemfehler und ein starkes politisches Votum stärken? Der aktuelle Befund, dass es der große Fußball womöglich auch diesmal wieder nicht aus eigener Kraft schafft aufzuräumen, sollte doch gewiss kein überzeugendes Argument gegen Reformen in der Wissenschaftslandschaft sein.
Ich fürchte, jeder ist ein Betrüger
… oder kann unter entsprechenden Umständen dazu werden. Das hat viel mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben. Nach der Wende fiel mir z.B. auf, dass im Osten Werbung eher als Betrug gesehen wird als im Westen. Offenbar hatten sich die Menschen im Westen daran gewöhnt, dass ihnen in der Werbung die Unwahrheit gesagt wird. Anderes Beispiel: Fragen Sie mal einen Griechen und einen Norweger wie sie zu Korruption und Vetternwirtschaft stehen. Die Gesellschaft macht den Unterschied. Gute Lügner sind meistens auch die intelligenteren Menschen. Denn Lügner und Betrüger müssen sich in ihr Opfer hineinversetzen können. Wer die Wahrheit sagt, braucht das nicht zu tun. Jetzt, Herr Müller-Jung, ahnen Sie vielleicht, warum hinter der FAZ angeblich immer ein schlauer Kopf steckt – in diesem Forum aber so viel Blödsinn verbreitet wird.
Ehre und moralische Integritaet als Selbstschutz
Dem menschlichen Bestreben nach eigener Belohnung kann und sollte nichts entgegen gesezt werden. Dabei ist eine gesellschaftliche Grenze nicht zu ueberschreiten. Wird diese Grenze erreicht, braucht es eine inneren Sperre, die das Ueberschreiten als Fehlverhalten bewusst macht. Ehre und Wahrhaftigkeit sind die notwendigen Massgroessen, um dem Belohnungsstreben eine Grenze zu sein. Eine Verletzung dieser Grenze fuehre zur Aechtung durch die Gesellschaft und damit zum notwendigen Korrektiv: menschliche Angst bei unehrenhaften Verhalten gesellschaftlich ausgegrenzt zu sein. Leider ist dieser Mechanismus der inneren Selbstreinigung in den vergangenen Jahrzehnten weiter abgeschmolzen und fuehrt selbst bei den politischen oder gesellschaftlichen Leitfiguren ein ausgesprochenes kuemmerliches Darsein.
„"Dass immer mehr junge Leute etwas publizieren, ohne die Inhalte eigentlich zu verstehen,
das ist doch tragisch”. Warum muss ich da spontan an die Genderforschung denken ?
Dopamin & Testosteron
Verhalten lässt sich immer nur über zugrunde liegende Motive (dem “wozu” des Verhaltens) erklären. Das sog. Belohnungssystem (Dopamin) ist ein Motivsystem das Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln auf das Ziel Lust/Genuss orientiert. Dieses Motivsystem alleine kann Raffgier, Betrug und sozialschädliches Verhalten nicht erklären, obwohl es meistens auch daran beteiligt ist. Entscheidend dafür ist das Motivsystem Macht/Einfluss (Testosteron). Dieses Motivsystem orientiert Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln auf egoistische Selbstdurchsetzung (auch gegen die Interessen anderer). Wenn man schon einen Übeltäter sucht, dann ist es das menschliche Streben nach Macht und Einfluss (siehe das Verhalten der FIFA-Opis).
"Belohnungssystem" was ist das?
“Belohnung” ist für jeden Menschen etwas Anderes. “Zufriedenheitssystem” wäre besser.
Wenn ich das Zauberwort “Verdrahtung” lese, dann denke ich immer daran, dass die alten Griechen das Gehirn als Kühlapparat für das Blut ansahen. Warum nicht? Hirntote ohne die geringste nachweisbare Gehirnaktivität können über rege Geistestätigket bzw Erleben berichten…