Der Platz für Tiere

Der Platz für Tiere

Denn wir haben sie zum Fressen gern. Henrike Schirmacher schreibt über possierliche Tierchen und die Welt ringsherum.

Tierversuche: Des Menschen Fortschritt ist des Tieres Leid

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Sie stehen zu acht in einer Fußgängerpassage in Wolfsburg. Eine Frau trägt Sträflingskleidung und eine Affenmaske. Neben ihr steht ein Auto der Marke Volkswagen, ein Mann mit Statistenrolle in dieser Inszenierung hält einen Plastikschlauch mit trichterförmiger Öffnung, der vom Auspuffrohr zum Affenmaul führt. Jeder der übrigen Tierrechtsaktivisten von Peta hält sich ein Schild vor den Bauch mit der Aufschrift: „VW – Stoppt alle Tierversuche“. Passanten laufen an diesem trüben und tristen Tag unbeeindruckt an der kleinen Gruppe vorbei. Ein mickriges Aufgebot gegen die Herren der größten Autowerkstatt der Welt, dem Volkswagenwerk in Wolfsburg. Jeder kennt solche Begegnungen mit Demonstranten auf offener Straße, an denen der Großteil von uns versucht unbehelligt vorbeizukommen.

Umso erstaunlicher ist, was die international tätige Tierrechtsorganisation Peta vor einigen Tagen auf der eigenen Homepage zur Schau stellen kann. Sie habe bereits mehr als 30.000 Unterzeichner für ihre Unterschriftenaktion gewonnen, mit der Forderung, VW soll verbindlich erklären, nie wieder Tierversuche zu machen. Außerdem sei die dazugehörige Pressemitteilung zur Petition gar 20.400-mal auf Facebook geteilt worden. Obwohl die Demonstranten im Alltag wie Aussätzige wirken, haben die Tierschützer, unabhängig vom VW-Skandal, längst eine überzeugte Fangemeinde. Fotos und Videoaufnahmen, die von unendlichen Tierqualen erzählen, haben sich in der Vergangenheit in unser Gedächtnis gebrannt. Vor diesem Hintergrund erscheinen die „Likes“ und „Shares“ ganz und gar nicht mehr ungewöhnlich.

Diese schaurigen Geschichten wurden in der Vergangenheit erzählt: Im Jahr 2003 zeigte das ZDF-Politmagazin „Frontal21“ Undercover-Videoaufnahmen, die im privaten Forschungsinstitut „Covance“ aufgezeichnet wurden. Covance führt noch heute im Auftrag der Arzneimittelindustrie klinische Studien an Affen durch. Der Reporter Friedrich Mülln, der sich, damals noch im Auftrag des ZDF, als Tierpfleger ausgab, hielt die Kamera dorthin, wo Affen unfassbar grob und unwürdig von ihren Pflegern behandelt wurden. Verfremdete Pflegerstimmen lassen den Zuschauer fassungslos zurück: „Kann mal jemand dieses verfickte Äffchen festhalten!“ Das Äffchen turnt wild in der Luft herum, während ein Pfleger versucht, es zu bändigen. „Du verdammter Bastard, deine Seuchen kannst du bei dir behalten.“ Covance findet in einem schriftlichen Statement zu dem Vorfall eine Sprache, wie für einen Beipackzettel: Hinweise auf eine „unsachgemäße“ Behandlung der Tiere gibt es nicht. Dieser Widerspruch in Wort und Bild schürt pure Verzweiflung.

Heute arbeitet Mülln als allseits gefürchteter Undercover-Reporter für die im Jahr 2013 eigens gegründete „Soko Tierschutz“. Zum „Opfer“ fallen ihm regelmäßig Landwirte, aus deren Schweine- oder Geflügelställen der Soko Tierschutz entsprechendes Videomaterial zugespielt wird. Auch Schlachthöfe, im Dezember war es eine Fabrik, die McDonalds mit Fleisch beliefert, gehören dazu. Vor einigen Jahren wählte die Soko das Hirnforschungslabor am Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik in Tübingen als Ziel für eine Undercover-Geschichte aus. SternTV, ausgestrahlt vom privaten Sender RTL, zeigte die Reportage der Soko Tierschutz. Damit erreichten Bilder von kleinen Äffchen mit Schädelimplantaten, die sich unwissenden Außenstehen kaum erklären lassen, die breite Öffentlichkeit. Eine Sequenz finde ich besonders schwer erträglich, sie ist gleichzeitig Dreh- und Angelpunkt, um entweder die Glaubwürdigkeit von den Reportern oder den Wissenschaftlern anzuzweifeln: Ein frisch operierter Affe versucht sich das im kahlen Kopf steckende Implantat zu entfernen. Die Schädeldecke ist blutrot verschmiert. Bevor sich überhaupt ein Wissenschaftler dazu äußern kann, bin ich wie vom Schlag getroffen. Die Stimme der Wissenschaft ist leise. Doch es gibt sie: Das „Blut“ sei schlichtweg Desinfektionsmittel, teilweise Wundsekret als normale physiologische Reaktion nach einer OP. Die Aufnahmen wurden zurechtgeschnitten und mit dramatischer Musik unterlegt, damit der Anschein entsteht, es arbeiteten dort Tierquäler und nicht Wissenschaftler. Außerdem merken die Tiere von den Elektroden im Gehirn nichts, da dieses völlig  schmerzunempfindlich ist. Hinweise, die im Video nicht zu hören und vor allem nicht zu sehen sind. Die Geschichten, die Mülln erzählt, sind unvollständig. Mülln gibt den einzelnen Tieren eine Stimme, das sagt er selbst. Das ungute Gefühl bleibt trotzdem.

Aber auch die „böse Wissenschaft“ kann Bilder erzeugen, wenn sie denn wollte. Der Leiter der Covance-Toxikologie nutzte deren Macht einmal überaus geschickt. Er zeigte einem Journalisten einen konservierten Affenfötus mit kurzen, missgebildeten Ärmchen. „Contergan. Hätte man damals schon Versuche an trächtigen Affenweibchen gemacht, wäre Contergan vielleicht nicht passiert.“ Folgender Satz hört sich auf einmal nicht mehr allzu fürchterlich an: Nach dem deutschen Gesetz gelangt kein tierversuchsfreies Medikament auf den Markt.

In den Tagen nach dem VW-Skandal um Affenversuche sucht nicht nur Peta nach neuen Sympathisanten, auch der Deutsche Tierschutzbund wiederholt seine alte Forderung nach einem Ausstiegsszenario hin zu einer tierversuchsfreien Forschung auf Twitter. Sonderlich viel Anklang findet es erstaunlicherweise nicht, der erste reagiert genervt, unreflektiert und herablassend: „Nehmt doch Veganer, anstatt Tiere.“ Die übrigen schlagen sich allerdings  auf die Seite der Tierschützer. Ebenso wird das Video von Stern TV auf YouTube heute immer noch kommentiert. Scheinbar in größter Hetze oder ohne sich viel Mühe zu geben: „also jetzt nal ganz im ernst das ist keine forschung das is einfach nur sinlnlose quälerei.“ Ist die Wissenschaft tatsächlich gänzlich unnütz oder fehlt den Mitleidenden, mangels Information, nur der Sinn für die Realität?

Derweil war die Max-Planck-Gesellschaft nicht untätig. Akribische Ausführungen zu Tierversuchen in der deutschen Forschungslandschaft kann jeder auf deren Homepage nachlesen. Selbst Neurowissenschaftler haben in Interviews zuhauf erklärt, warum sie an Nervenbahnen von Affen oder anderen Tieren forschen und warum Zellkulturen oder Kernspintomografen keine Alternativen zu ihren Messungen sind. Sie sprechen von Puzzleteilen, die irgendwann ein Bild formen. Doch die Stimme der Wissenschaftler ist sachlich, vernünftig, erzeugt keine schönen, sich ins Gedächtnis festsetzende Bilder, welche die schrecklichen von gequälten Tieren verjagen könnten. Und sie ist so schrecklich langsam, noch dazu ewig ergebnislos. In Erklärungen zum Umgang mit Tierversuchen beruft sie sich auf das 3R-Prinzip „Refine, Reduce, Replace“, nach deren Vorgehensweise möglichst wenig Versuchstiere für maximal viel Forschungsergebnis beansprucht werden. Wissenschaftler reagieren so wie jede Berufsgruppe, die angegriffen wird: „Die Diskussion muss versachlicht wird.“ Obwohl mich dieses Argument meistens nervt, weil ein gewisser Unterton mitschwingt, man selbst habe die Wahrheit gepachtet, während andere ihren Gefühlen erliegen, finde ich es in diesem Fall nur zu verständlich. Wissenschaftler sind das Gegenteil von Werbefachleuten. Sie bauen ungern Luftschlösser, sie mögen weder Schwarz- noch Weißmalerei, sie sind eher balanciert in ihren Sichtweisen. Verkopft begegnen sie der Wucht der Gefühle von Tierschützern und sonstigen Außenstehenden. Nach dem Motto: Es geht eben nicht anders, wenn wir der Menscheit etwas Gutes tun wollen. Ich glaube sogar, Neurowissenschaftler müssen ihre Emotionen und Gewissensbisse verdrängen, abstumpfen. Nur dann können Ehrgeiz und Neugierde Oberhand gewinnen. Immerhin sind die Neurowissenschaften aus meiner Sicht eines der spannendsten Forschungsfelder. Deswegen wählte ich im Laufe meines Biologiestudiums selbst diesen Forschungsschwerpunkt. Das erste Mal, als ich Fotos von Affen mit Schädelimplantaten sah, war ich zutiefst geschockt. Es war während eines Vortrags, zu dem mich ein Postdoc mitnahm. Nach dem Vortrag sagte ich zu ihm: „Das sind ja wirklich heftige Versuche.“ Er zuckte leicht mit den Schultern, nach dem Motto, diese Bürde muss man in Kauf nehmen.

Das MPI für biologische Kybernetik in Tübingen, das seine Affenversuche im vergangenen Frühjahr unter Druck der Öffentlichkeit aufgegeben hat, zeigt auf seiner Homepage noch ein Relikt aus alten Zeiten: „Schnappschüsse“ vom Sozialleben der Rhesusaffen am Forschungsinstitut. Die Affen wirken auf den Bildern nicht geschunden, dennoch wie Zootiere. Direkt daneben zeigt das MPI Plakate, die Tierschützer für ihre Kampagnen gegen Tierversuche nutzen. Das ungute Gefühl kriecht wieder empor.

Also schließe ich lieber mit der Empörung der Twitter-Gemeinde über die Dreistigkeit der Autoindustrie, die Affenversuche lediglich zu Werbezwecken und als Verkaufsargument für die eigenen Produkte in Auftrag gab und nicht für den Fortschritt der Menschheit. Ich empfehle die erste Folge der neuen Dokumentarserie „Dirty Money“ auf Netflix. Ab Minute 60 zeigen die Filmemacher Szenen, wie sie sich mutmaßlich im Labor am „Lovelace Respiratory Research Institute“ abgespielt haben. Ich bin derweil bereits abgestumpft, mit SternTV können diese nicht mithalten.


8 Lesermeinungen

  1. AnnaSchulze sagt:

    Strafbefehl gegen drei MPI-Mitarbeiter erlassen wegen Affenquälerei
    Sehr geehrte Frau Schirmacher, in Ihrem Blog haben sie die Wissenschaftler (u.a. auch die des MPI) als sachlich und vernünftig beschrieben und die Tierschützer bedauerlicherweise als halbe Drama Queens dargestellt, die sich blind von ihren Emotionen leiten lassen, da geht prompt eine Meldung durch die Presse : Tübinger Staatsanwaltschaft erlässt Strafbefehl gegen drei MPI-Mitarbeiter. Sie sollen Affen unnötig gequält haben. Ist vielleicht auch die Staatsanwaltschaft zu emotional?

    Kein einziges Tier sollte als Versuchsobjekt eingesperrt und oder gequält werden. Es gibt tierfreie Methoden. Und wo es sie nicht gibt, sollten sie erforscht werden. Sich auf Tierversuchen auszuruhen ist unethisch, altmodisch und nicht gerade erfolgreich. Das ist meine rationale Meinung. PS: Ab und zu soll es auch ganz gut sein, auf sein Bauchgefühl zu hören.

  2. Ronald65 sagt:

    Don Alphonso
    verfolgt eine klare Linie – man mag sie mögen oder nicht – doch entsprechend viele Kommentatoren fühlen sich eingeladen, darauf zu reagieren. Hingegen ist, bei allem notwendigen Abwägen, der obige Beitrag ein „hüh und hott.“

    Natürlich werden Medikamente, bevor sie allgemein zugelassen werden, zuvor an Tieren und Menschen getestet. Was denn sonst? Pflanzen und Zellkulturen besitzen kein Hirn. Also man muss wohl auch mit Tieren experimentieren, wenn man Grundlagenforschung am Gehirn sinnvoll findet.

    Kurz gesagt: Es gibt klare rationale Gründe für Tierversuche und die Wissenschaft legt diese auf den Tisch. Die „Gegenargumente“ sind vor allem emotional, das Gros sogar bewusst emotionalisierend. Dies zu thematisieren und fair abzuwägen hätte sich gelohnt. Doch die Autorin springt auf den emotionalen Zug auf und spekuliert sogar über die Gefühle von Forschern (verdrängen, abstumpfen,…)

    Das nächste Mal bitte weniger Gesinnung und mehr Information.

    • hschirmacher sagt:

      Gefühle spielen in dieser Debatte doch die tragende Rolle. Sonst würde es sie gar nicht geben. Am Ende ist es ein ethisches Dilemma, darüber sind sich Wissenschaftler sehr bewusst.

  3. Syntaxa sagt:

    Schmerzvolles Blog-Thema...Mensch first?
    Wir opfern im Namen von Menscherfolg…Mensch-Flora-Fauna-Klima-…
    am Ende alles…bis das Gleichgewicht der Erd-Leben-Kreisläufe kollabiert?
    Der Krug geht so lange zum Brunnen…?
    „R“folg=“R“(atio)volk…Gene“RATIO“nenvolk…
    strebe behutsam danach glücklich, „R“(atio)folgen-REICH…zu sein?
    Wir leben über unsere Verhältnisse weil wir unter unseren
    („R“volk „R“leben-)Möglichkeiten bleiben…
    der „ewige Jugend Gesundheitstraum“?
    Vielleicht „speist“ die „R“Evolution ihr „Menschen-Kind“ noch…
    Nöte wendend…Horizont erweiternd, um den Satz zu widerlegen:
    „Die Revolution frißt ihre Kinder“?…s. Weltgegenwartgeschehen.
    In der Bibel steht geschrieben:…neue Erde, neuer Himmel?
    Neue Geistbasis, Lebenbasis…“Auf „R“(atio-)Stehung“ des Geistes…
    neuer Human-Horizont?
    Mir bleibt nur…
    Zitat: „Gott gebe mir die Gelassenheit Dinge hinzunehmen die ich
    nicht ändern kann, die Not wendende Kraft Dinge zu ändern die ich ändern kann und die Weisheit das eine vom anderen zu unterscheiden.

  4. deterle sagt:

    "Mülln gibt den einzelnen Tieren eine Stimme."
    Das ist es doch, es muß Menschen geben, die sich für die Tiere einsetzen,sozusagen den Advokaten machen,ihnen eine „Stimme geben,die sie ja leider selbst nicht haben, Tiere schweigen. Dadurch glauben viele Menschen, sie können mit Tieren machen, was sie wollen und sie haben Recht damit, wenn es ihnen nutzt, Ethik gälte dann plötzlich nicht mehr für Tiere.

  5. Petras sagt:

    Alternativen möglich - aber bislang noch verlachlässigt!
    Ihr Artikel zweifelt Aussagen der Wissenschaftler nicht an, obgleich auch jene etliches beschönigen, oft, um sich selbst zu beruhigen. Wenn auch das Gehirn selbst keinen Schmerz empfinden mag, so war doch allein schon die Fixierung im Primatenstuhl für Studenten, die diese testeten, eine solche Qual, dass sie diese schnell wieder verließen – was die Affen nicht können. Auch eine Operation bleibt eine OP – mit allen negativen Folgen. Es ist ferner durch Schmerzforschung belegt, dass ein intelligentes Individuum, das die Abläufe versteht, besser mit ihnen umgehen kann als ein unwissendes Tier, das oft Todesangst verspürt und Schmerzen daher viel stärker wahrnimmt!

    Alternativmethoden vieler Art haben sich in letzter Zeit stark entwickelt und sie sind besser auf Menschen übertragbar als Tierversuche. Gerade Contergan war intensiv im Tierversuch getestet worden und wirkte fatal.

    Die vielversprechenden Alternativen sollten endlich mindestens ebenso gefördert werden, wie die Tierversuche.

  6. einGlasRotwein sagt:

    Abgestumpft?
    Erfordern Tierversuche Abstumpfung? „Abstumpfung“ impliziert irgendwie, dass man sich gar keine Gedanken mehr über sein Handeln macht und nur die Augen verschließt. Es ist sicher richtig, dass man ein dickes Fell braucht, wenn man (invasive) Tierversuche durchführt. Wie auch jeder (Tier-)Arzt, der Tiere/Menschen regelmäßig aufschneiden muss – ihnen also erst Leid zufügt, um damit in letzter Instanz zu helfen.
    Im Idealfall reißt man sich zusammen, solche Prozeduren durchzuführen – behält aber im Auge, dass man damit Lebewesen (je nach Versuch) Leid zufügt und wägt ab, bis wohin dieses Leid tragbar ist. Eine persönliche ethische Entscheidung.

    Darauf läuft es hinaus: Die nackte moralische Frage. Die Aussage „Es gibt aber Alternativen/es wird bloß nicht genug daran geforscht“ ist nämlich zu einfach. Oft gibt es Alternativen. Aber nicht überall. Gerade in den Neurowissenschaften (Kausalzusammenhänge). Wir müssen ersetzen, wo wir können – und eingestehen, wo wir das (noch) nicht können.

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