Der Platz für Tiere

Tierversuche: Des Menschen Fortschritt ist des Tieres Leid

Sie stehen zu acht in einer Fußgängerpassage in Wolfsburg. Eine Frau trägt Sträflingskleidung und eine Affenmaske. Neben ihr steht ein Auto der Marke Volkswagen, ein Mann mit Statistenrolle in dieser Inszenierung hält einen Plastikschlauch mit trichterförmiger Öffnung, der vom Auspuffrohr zum Affenmaul führt. Jeder der übrigen Tierrechtsaktivisten von Peta hält sich ein Schild vor den Bauch mit der Aufschrift: „VW – Stoppt alle Tierversuche“. Passanten laufen an diesem trüben und tristen Tag unbeeindruckt an der kleinen Gruppe vorbei. Ein mickriges Aufgebot gegen die Herren der größten Autowerkstatt der Welt, dem Volkswagenwerk in Wolfsburg. Jeder kennt solche Begegnungen mit Demonstranten auf offener Straße, an denen der Großteil von uns versucht unbehelligt vorbeizukommen.

Umso erstaunlicher ist, was die international tätige Tierrechtsorganisation Peta vor einigen Tagen auf der eigenen Homepage zur Schau stellen kann. Sie habe bereits mehr als 30.000 Unterzeichner für ihre Unterschriftenaktion gewonnen, mit der Forderung, VW soll verbindlich erklären, nie wieder Tierversuche zu machen. Außerdem sei die dazugehörige Pressemitteilung zur Petition gar 20.400-mal auf Facebook geteilt worden. Obwohl die Demonstranten im Alltag wie Aussätzige wirken, haben die Tierschützer, unabhängig vom VW-Skandal, längst eine überzeugte Fangemeinde. Fotos und Videoaufnahmen, die von unendlichen Tierqualen erzählen, haben sich in der Vergangenheit in unser Gedächtnis gebrannt. Vor diesem Hintergrund erscheinen die „Likes“ und „Shares“ ganz und gar nicht mehr ungewöhnlich.

Diese schaurigen Geschichten wurden in der Vergangenheit erzählt: Im Jahr 2003 zeigte das ZDF-Politmagazin „Frontal21“ Undercover-Videoaufnahmen, die im privaten Forschungsinstitut „Covance“ aufgezeichnet wurden. Covance führt noch heute im Auftrag der Arzneimittelindustrie klinische Studien an Affen durch. Der Reporter Friedrich Mülln, der sich, damals noch im Auftrag des ZDF, als Tierpfleger ausgab, hielt die Kamera dorthin, wo Affen unfassbar grob und unwürdig von ihren Pflegern behandelt wurden. Verfremdete Pflegerstimmen lassen den Zuschauer fassungslos zurück: „Kann mal jemand dieses verfickte Äffchen festhalten!“ Das Äffchen turnt wild in der Luft herum, während ein Pfleger versucht, es zu bändigen. „Du verdammter Bastard, deine Seuchen kannst du bei dir behalten.“ Covance findet in einem schriftlichen Statement zu dem Vorfall eine Sprache, wie für einen Beipackzettel: Hinweise auf eine „unsachgemäße“ Behandlung der Tiere gibt es nicht. Dieser Widerspruch in Wort und Bild schürt pure Verzweiflung.

Heute arbeitet Mülln als allseits gefürchteter Undercover-Reporter für die im Jahr 2013 eigens gegründete „Soko Tierschutz“. Zum „Opfer“ fallen ihm regelmäßig Landwirte, aus deren Schweine- oder Geflügelställen der Soko Tierschutz entsprechendes Videomaterial zugespielt wird. Auch Schlachthöfe, im Dezember war es eine Fabrik, die McDonalds mit Fleisch beliefert, gehören dazu. Vor einigen Jahren wählte die Soko das Hirnforschungslabor am Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik in Tübingen als Ziel für eine Undercover-Geschichte aus. SternTV, ausgestrahlt vom privaten Sender RTL, zeigte die Reportage der Soko Tierschutz. Damit erreichten Bilder von kleinen Äffchen mit Schädelimplantaten, die sich unwissenden Außenstehen kaum erklären lassen, die breite Öffentlichkeit. Eine Sequenz finde ich besonders schwer erträglich, sie ist gleichzeitig Dreh- und Angelpunkt, um entweder die Glaubwürdigkeit von den Reportern oder den Wissenschaftlern anzuzweifeln: Ein frisch operierter Affe versucht sich das im kahlen Kopf steckende Implantat zu entfernen. Die Schädeldecke ist blutrot verschmiert. Bevor sich überhaupt ein Wissenschaftler dazu äußern kann, bin ich wie vom Schlag getroffen. Die Stimme der Wissenschaft ist leise. Doch es gibt sie: Das „Blut“ sei schlichtweg Desinfektionsmittel, teilweise Wundsekret als normale physiologische Reaktion nach einer OP. Die Aufnahmen wurden zurechtgeschnitten und mit dramatischer Musik unterlegt, damit der Anschein entsteht, es arbeiteten dort Tierquäler und nicht Wissenschaftler. Außerdem merken die Tiere von den Elektroden im Gehirn nichts, da dieses völlig  schmerzunempfindlich ist. Hinweise, die im Video nicht zu hören und vor allem nicht zu sehen sind. Die Geschichten, die Mülln erzählt, sind unvollständig. Mülln gibt den einzelnen Tieren eine Stimme, das sagt er selbst. Das ungute Gefühl bleibt trotzdem.

Aber auch die „böse Wissenschaft“ kann Bilder erzeugen, wenn sie denn wollte. Der Leiter der Covance-Toxikologie nutzte deren Macht einmal überaus geschickt. Er zeigte einem Journalisten einen konservierten Affenfötus mit kurzen, missgebildeten Ärmchen. „Contergan. Hätte man damals schon Versuche an trächtigen Affenweibchen gemacht, wäre Contergan vielleicht nicht passiert.“ Folgender Satz hört sich auf einmal nicht mehr allzu fürchterlich an: Nach dem deutschen Gesetz gelangt kein tierversuchsfreies Medikament auf den Markt.

In den Tagen nach dem VW-Skandal um Affenversuche sucht nicht nur Peta nach neuen Sympathisanten, auch der Deutsche Tierschutzbund wiederholt seine alte Forderung nach einem Ausstiegsszenario hin zu einer tierversuchsfreien Forschung auf Twitter. Sonderlich viel Anklang findet es erstaunlicherweise nicht, der erste reagiert genervt, unreflektiert und herablassend: „Nehmt doch Veganer, anstatt Tiere.“ Die übrigen schlagen sich allerdings  auf die Seite der Tierschützer. Ebenso wird das Video von Stern TV auf YouTube heute immer noch kommentiert. Scheinbar in größter Hetze oder ohne sich viel Mühe zu geben: „also jetzt nal ganz im ernst das ist keine forschung das is einfach nur sinlnlose quälerei.“ Ist die Wissenschaft tatsächlich gänzlich unnütz oder fehlt den Mitleidenden, mangels Information, nur der Sinn für die Realität?

Derweil war die Max-Planck-Gesellschaft nicht untätig. Akribische Ausführungen zu Tierversuchen in der deutschen Forschungslandschaft kann jeder auf deren Homepage nachlesen. Selbst Neurowissenschaftler haben in Interviews zuhauf erklärt, warum sie an Nervenbahnen von Affen oder anderen Tieren forschen und warum Zellkulturen oder Kernspintomografen keine Alternativen zu ihren Messungen sind. Sie sprechen von Puzzleteilen, die irgendwann ein Bild formen. Doch die Stimme der Wissenschaftler ist sachlich, vernünftig, erzeugt keine schönen, sich ins Gedächtnis festsetzende Bilder, welche die schrecklichen von gequälten Tieren verjagen könnten. Und sie ist so schrecklich langsam, noch dazu ewig ergebnislos. In Erklärungen zum Umgang mit Tierversuchen beruft sie sich auf das 3R-Prinzip „Refine, Reduce, Replace“, nach deren Vorgehensweise möglichst wenig Versuchstiere für maximal viel Forschungsergebnis beansprucht werden. Wissenschaftler reagieren so wie jede Berufsgruppe, die angegriffen wird: „Die Diskussion muss versachlicht wird.“ Obwohl mich dieses Argument meistens nervt, weil ein gewisser Unterton mitschwingt, man selbst habe die Wahrheit gepachtet, während andere ihren Gefühlen erliegen, finde ich es in diesem Fall nur zu verständlich. Wissenschaftler sind das Gegenteil von Werbefachleuten. Sie bauen ungern Luftschlösser, sie mögen weder Schwarz- noch Weißmalerei, sie sind eher balanciert in ihren Sichtweisen. Verkopft begegnen sie der Wucht der Gefühle von Tierschützern und sonstigen Außenstehenden. Nach dem Motto: Es geht eben nicht anders, wenn wir der Menscheit etwas Gutes tun wollen. Ich glaube sogar, Neurowissenschaftler müssen ihre Emotionen und Gewissensbisse verdrängen, abstumpfen. Nur dann können Ehrgeiz und Neugierde Oberhand gewinnen. Immerhin sind die Neurowissenschaften aus meiner Sicht eines der spannendsten Forschungsfelder. Deswegen wählte ich im Laufe meines Biologiestudiums selbst diesen Forschungsschwerpunkt. Das erste Mal, als ich Fotos von Affen mit Schädelimplantaten sah, war ich zutiefst geschockt. Es war während eines Vortrags, zu dem mich ein Postdoc mitnahm. Nach dem Vortrag sagte ich zu ihm: „Das sind ja wirklich heftige Versuche.“ Er zuckte leicht mit den Schultern, nach dem Motto, diese Bürde muss man in Kauf nehmen.

Das MPI für biologische Kybernetik in Tübingen, das seine Affenversuche im vergangenen Frühjahr unter Druck der Öffentlichkeit aufgegeben hat, zeigt auf seiner Homepage noch ein Relikt aus alten Zeiten: „Schnappschüsse“ vom Sozialleben der Rhesusaffen am Forschungsinstitut. Die Affen wirken auf den Bildern nicht geschunden, dennoch wie Zootiere. Direkt daneben zeigt das MPI Plakate, die Tierschützer für ihre Kampagnen gegen Tierversuche nutzen. Das ungute Gefühl kriecht wieder empor.

Also schließe ich lieber mit der Empörung der Twitter-Gemeinde über die Dreistigkeit der Autoindustrie, die Affenversuche lediglich zu Werbezwecken und als Verkaufsargument für die eigenen Produkte in Auftrag gab und nicht für den Fortschritt der Menschheit. Ich empfehle die erste Folge der neuen Dokumentarserie „Dirty Money“ auf Netflix. Ab Minute 60 zeigen die Filmemacher Szenen, wie sie sich mutmaßlich im Labor am „Lovelace Respiratory Research Institute“ abgespielt haben. Ich bin derweil bereits abgestumpft, mit SternTV können diese nicht mithalten.

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