Pop-Anthologie

Worum geht es eigentlich in „Last Christmas“?

Das meistgehörte Weihnachtslied der jüngeren Musikgeschichte kennt angeblich jeder. Auf den Text hört aber kaum jemand. Dabei ist er voller Rätsel, von denen wir hier einige aufzulösen versuchen.

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wham3© Screenshot WhamVevo„Erkennst Du mich wieder? Wir haben uns im letzten Jahr einen Tag lang geliebt“ – so müsste man paraphrasieren, was George Michael im Video von „Last Christmas“ an dieser Stelle singt.

Blickt man zum ersten Mal auf den Songtext von „Last Christmas“, wird einem schnell klar, wie ungewöhnlich er ist. Das beginnt schon damit, dass sich der Refrain ganze sechseinhalb Mal wiederholt, wobei er jeweils doppelt gesungen wird:

Last Christmas

Last Christmas I gave you my heart
But the very next day you gave it away
This year, to save me from tears
I’ll give it to someone special

Last Christmas I gave you my heart
But the very next day you gave it away
This year, to save me from tears
I’ll give it to someone special

Once bitten and twice shy
I keep my distance, but you still catch my eye
Tell me baby, do you recognize me?
Well, it’s been a year, it doesn’t surprise me

„Happy Christmas“ I wrapped it up and sent it
With a note saying „I love you“, I meant it
Now I know what a fool I’ve been
But if you kissed me now, I know you’d fool me again

Last Christmas I gave you my heart
But the very next day you gave it away
This year, to save me from tears
I’ll give it to someone special

Last Christmas I gave you my heart
But the very next day you gave it away
This year, to save me from tears
I’ll give it to someone special

A crowded room, friends with tired eyes
I’m hiding from you and your soul of ice
My god, I thought you were someone to rely on
Me? I guess I was a shoulder to cry on

A face on a lover with a fire in his heart
A man under cover but you tore me apart
Ooh ooh now I’ve found a real love
You’ll never fool me again

Last Christmas I gave you my heart
But the very next day you gave it away
This year, to save me from tears
I’ll give it to someone special, special

Last Christmas I gave you my heart
But the very next day you gave me away
This year, to save me from tears
I’ll give it to someone special

A face on a lover with a fire in his heart (I gave you mine)
A man under cover but you tore him apart
Maybe next year I’ll give it to someone
I’ll give it to someone special

So long

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Die Hälfte des Liedes, das George Michael angeblich in einer halben Stunde niedergeschrieben haben soll, besteht damit aus Wiederholungen – was für alle Verächter von Wham! bereits deren Oberflächlichkeit unter Beweis stellen dürfte.

Vorbringen könnte man gegen „Last Christmas“ weiterhin, dass nicht einmal die berühmte Melodie des Refrains sonderlich originell ist. Was sich schon darin zeigt, dass Wham! Mitte der Achtziger einen Vergleich mit  Barry Manilow schließen musste, der geklagt hatte, Teile der Melodie seien aus seinem Song „Can’t smile without you“ abgekupfert.

Und die Reihe der Sonderbarkeiten, die sich um das am 3. Dezember 1984 als Single veröffentlichte Lied ranken, ließe sich noch fortsetzen. Ist „Last Christmas“ überhaupt ein richtiges Weihnachtslied? Außer dem Feiertag im Titel kommt kein einziges der gewöhnlichen Weihnachts-Utensilien vor: Schnee, Wärme/Kälte, Glockengeläute (zumindest nicht textlich) – ein Umstand der wohl für die Karriere der Behauptung gesorgt hat, dass „Last Christmas“ ursprünglich „Last Easter“ habe heißen sollen, bevor es, auf Wunsch der Plattenfirma, von George Michael kurzerhand umgedichtet wurde.

Doch das ist – nicht nur aus sprachrhythmischen Erwägungen – mit großer Sicherheit Unfug. Würde doch die gesamte Textkomposition ohne Weihnachten in sich zusammenfallen. Denn wann, wenn nicht an diesem obligatorischsten aller Feiertage könnte unter Zuhilfenahme einer verschneiten Hütte eine derartige Zwangslage entstehen, die es dem songlyrischen Ich partout nicht erlauben würde, der Begegnung mit seiner früheren Kurzzeit-Geliebten aus dem Weg zu gehen? Man muss sich nur anschauen, was das Video zu „Last Christmas“ alles auffahren muss, um diese Extremsituation wirklich realistisch erscheinen zu lassen: Eine Gruppe junger, intensiv gefönter Menschen wird hier in Saas Fee mit einer Gondel in ein eingeschneites Chalet auf 3500 Metern Höhe verfrachtet, aus dem heraus jede Flucht sinnlos wäre.

Eines ist gewiss: Bei „Last Christmas“ haben wir es mit einem Lied über Liebeskummer zu tun, wobei das Song-Ich die Angewohnheit zu haben scheint, sein Herz ausgerechnet an Weihnachten zu verlieren – das ist nämlich nicht nur „last Christmas“ geschehen, sondern ereignet sich auch „this year“, „now“, auf den Tag genau ein Jahr später. Dafür liefert zumindest das Video Anhaltspunkte, in dem auf der Hier-und-Jetzt-Ebene gerade der Weihnachtsbaum geschmückt und später ein Festmahl aufgetischt wird. Es ist eine bewusst unrealistische Märchenwelt des Pop, in die wir hier eintauchen und die ein wenig an „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ erinnert. Die Darsteller im Video sehen aus wie kostümiert und George Michael dreht sich leichtfüßig durch die Reihen wie ein Moriskentänzer. Die Musik erinnert insgesamt an die einer Spieldose, die man immer wieder neu aufziehen kann.

wham2© Screenshot WhamVevoIn diesem verschneiten Chalet auf 3500 Metern Höhe entflieht niemand einer verflossenen Liebe – eine weitere Szene aus dem Video.

Schaut man sich den Songtext nun im Detail an, stellt sich gleich zu Beginn die Frage nach der Funktion des doppelten Refrains (in welchem bekannten Popsong gibt es den eigentlich sonst noch?). Soll in „Last Christmas“ durch ihn eine einfache Wahrheit des Pop besonders intensiv untermauert werden: Liebeskummer lohnt sich nicht, mach‘ was aus deinem Leben?

Last Christmas I gave you my heart
But the very next day you gave it away
This year, to save me from tears
I’ll give it to someone special

Allerdings könnte man ebenso gut die These vertreten, dass der Refrain durch seine Wiederholung eher an Verbindlichkeit verliert als gewinnt. Will sich da vielleicht nur einer für die geplante Bereinigung des eigenen Gefühlshaushalts Mut ansingen?

Der Übergang zur ersten Strophe wirft für den Hörer weitere Fragen auf. In den hingeworfenen, assoziativen Liedzeilen muss er nach einer passenden Situation geradezu tasten. Das „you“, das man nach den ersten beiden Strophen als abwesend hätte ansehen können, wird dabei immer präsenter: „you still catch my eye“, heißt es, was dafür spricht, dass das „Ich“ seine frühere Geliebte, die es immer noch als „baby“ bezeichnet, direkt vor Augen hat, eine Tatsache, die das Video dann auch gleich zu Beginn ins Bild setzt. Und zugleich ist dieses „Du“ ein ungewöhnlich unzuverlässiges. „Do you recognize me?“ fragt das Song-Ich, um sich dann die Frage selbst in der Zeile „Well, it’s been a year, it doesn’t surprise me“ zu beantworten. Kann man diese Aussage eigentlich anders als ironisch oder als die totale Selbstverleugnung deuten?

wham4© Screenshot WhamVevoSchmachtender Blick am Weihnachtsabend

Auch der anschließenden zweiten Strophe, die übrigens musikalisch und gesanglich eine sich sehr interessant emporschaukelnde Struktur aufweist, müsste man sich rein assoziativ annähern, wenn es das Video nicht gäbe, in dem das eingepackte „it“, von dem im Text die Rede ist, wohl mit der Brosche identifiziert werden kann, die das „Ich“ im letzten Jahr dem „Du“ schenkte, und die jetzt am Revers eines gemeinsamen Freundes prangt – recht kompliziert das Ganze, auch im Video, das man mehrfach ansehen muss, um all die Kleidungswechsel zu bemerken, die jeweils für wichtige Zeitsprünge stehen. Nach dem Vertrauensbruch mit der Brosche versteht das „Ich“ jedenfalls endgültig, dass es ein „fool“ war, der überdies jederzeit rückfällig zu werden fürchtet: „But if you kissed me now, I know you’d fool me again“. Diese Foolhaftigkeit hat in ihrer Radikalität schon fast etwas Poetisches.

Nach der ersten und zweiten Strophe erscheint der jetzt wieder einsetzende doppelte Refrain in einem neuen Kontext: Mit dem ins Auge gefassten Neuverlieben wird es nicht so leicht werden, ahnt der Hörer. Der Refrain gibt sich als Autosuggestionsversuch zu erkennen – womit „Last Christmas“, dieser vermeintlich leichtgewichtige Weihnachts-Popsong, eine erstaunlich verwickelte Form des uneigentlichen Sprechens aufweist.

wham5© Screenshot WhamVevoDie Brosche im Video erklärt, was der Text offen lässt.

Eine Steigerung des Gefühls wird mit wenigen Strichen in der dritten Strophe beschrieben: “A crowded room, friends with tired eyes / I’m hiding from you and your soul of ice”, die dann in den gefühlvollen und durchaus eleganten Ausruf übergeht “My god, I thought you were someone to rely on / Me? I guess I was a shoulder to cry on” – eine Doppelzeile, die auch in ihrer Anrufung Gottes fast schon an die eifersüchtige Variante des mittelalterlichen Tagelieds erinnert.

Die vierte Strophe ist dann zunächst wieder schwer zu verstehen: „A face on a lover with a fire in his heart / A man under cover but you tore me apart“. Wer ist in der ersten Zeile gemeint, wer in der zweiten – sind beide identisch? In der zweiten Zeile treffen wir jedenfalls wieder auf das vertraute „me“, und dieses hält schon wieder einen neuen Gefühlsumschwung bereit, indem es behauptet: “Now I’ve found a real love / You’ll never fool me again”, was zum einen den Wunsch im Refrain nach einem „someone special“ einlösen würde, zum anderen aber im Widerspruch zur vierten Strophe steht, in der das „Ich“ sich noch als unverbesserlichen „fool“ dargestellt hatte.

Und abermals erscheint der anschließende Refrain, den George Michael im Lauf des Liedes immer klagender und souliger interpretiert, in einem neuen Zusammenhang. Jetzt klingt er wie eine zumindest halbverwirklichte Distanzerklärung, die im Video allerdings durch die Tatsache konterkariert wird, dass das Song-Ich, dargestellt von Geroge Michael, schon auf dem Weg zum Chalet mit einer neuen Freundin aufgekreuzt war, für die er aber kaum Augen hat.

wham6© Screenshot WhamVevoText-Video-Schere: Gerade hat das Song-Ich George Michael gesungen, dass er im nächsten Jahr vielleicht die große Liebe findet, da sieht man es turtelnd mit seiner aktuellen Freundin um die Ecke kommen.

Und auch die fünfte Strophe widerspricht dem zuvor Gesungenen, denn in ihr  lamentiert das Song-Ich nun plötzlich wieder darüber, sein Herz nicht von der früheren Geliebten lösen zu können, erklärt sich als zerrissen und setzt der Gefühlsverwirrung die Krone auf, indem es sich, den Refrain variierend, vornimmt: „Maybe next year I’ll give it to someone / I’ll give it to someone special“. Also war es mit dem „I’ve found a real love“ doch nicht so weit her, von dem noch in der vierten Strophe die Rede war.

Auf übergeordneter Ebene erhält das Lied durch den Beschluss „I’ll give it to someone special“ neben dem Vergangenheits- und dem Gegenwarts- auch einen Zukunftsaspekt, es vermehrt dadurch seine Anschlussmöglichkeiten und den Spieldoseneffekt, wie man überhaupt sagen kann, dass ein derartiger Variantenreichtum auf engem Raum in einem Songtext nur selten geboten wird. Er gipfelt in dem eigentlich nur zynisch zu verstehenden, langsam verklingenden „So long …“ am Schluss, das nichts weiter heißen kann als: selbst die Übergänglichkeit meiner Gefühle ist nur vorübergehend.

Wegen all dieser Untertöne ist das häufig gecoverte „Last Christmas“ wohl auch so schwer in eine andere Sprache zu übersetzen. Im Deutschen ist zum Beispiel Matthias Reim mit einer eindimensionalen Übertragung gescheitert, während die für ihre feinsinnigen Cover-Versionen bekannte Band Erdmöbel Zuflucht zu einer sehr poetischen, den Weihnachtsaspekt hervorkitzelnden Übersetzung genommen hat, in der viel Schnee, Geschenkpapier und sogar Silvester in den Text geschmuggelt wird. Doch so originell und stimmig die Übersetzung von Erdmöbel für sich genommen auch ist – man kann sie bei weitem nicht so oft hören wie das Original von Wham!. Es ist offenbar auch eine textliche Herausforderung, die Spieldosenhaftigkeit der „Last Christmas“-Melodie zur Geltung zu bringen.

Diese letzte Beobachtung wiederum könnte zu einem weiteren Merkmal der Popmusik führen. Denn entweder ist der echte Erfolgs-Pop weit komplexer und raffinierter gebaut als man ihm zutraut, oder aber man muss, gerade nach der erfolgten Exegese, die ja eigentlich im Pop nicht vorgesehen ist, vielleicht doch eher zu dem Schluss kommen, dass Popmusik eine höchst arrivierte Form der vermeintlich ausgestorbenen Kunstform „Lautmalerei“ ist, bei der es allenfalls auf Verständnisfetzen ankommt, die das Wiederhören erleichtern – und immer wieder neugierig machen, ohne dass man die Befriedigung seiner Neugier wirklich anstrebte.

Das Besondere an Whams! „Last Christmas“ scheint zu sein, dass  es beide Theorien zulässt.