Die Frau singt „Happy New Year“, der Mann schaut die ganze Zeit nur aus dem Fenster – was ist da los? Eine elegische Betrachtung zum Jahreswechsel mit Abba.
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Abba, die Band der großen Melancholie. Gibt es eigentlich ein einziges Lied von dieser Gruppe, dem nicht ein Hauch von Wehmut eingeschrieben ist? Oft ist es sogar tiefer Schmerz, allen Disco-Rhythmen und Synthesizer-Fanfaren zum Trotz. Gefühlt die Hälfte ihrer Lieder sind Trennungslieder. Knowing me, knowing you – aha! Und dann schaffen sie es doch wirklich, ausgerechnet aus einem Lied namens „Happy New Year“ das schmerzhafteste Trennungslied zu machen. Wie konnte es dazu kommen?
Um das zu erklären, müssen wir zurück ins Jahr 1979. Ganz ans Ende, denn um diesen Jahreswechsel nach 1980 geht es – vordergründig – im Lied. Das Setting ist schon gleich traurig. Denn mit den Siebziger Jahren endete auch die Ehe von Agnetha Fältskog und Björn Ulvaeus. Die von Benny Andersson und Anni-Frid Lyngstad wurde 1981 geschieden, und wenig später war auch die Band am Ende – eine Band, die über lange Zeit aus zwei Liebespaaren bestanden hatte.
Im Januar 1980 flogen Benny und Björn zusammen nach Barbados, in ein Haus, in dem man früher schon einmal Paul McCartney besucht hatte, um Songs zu schreiben. Auch hier also Trennung: Die eine Hälfte der Gruppe in der Karibik, die andere zuhause im winterlichen Schweden. Dort saßen die beiden Frauen bereits an den Aufnahmen fürs nächste Album im Studio. Der Band-Biograph Carl Magnus Palm beschreibt den Übergang Abbas in die Achtziger so, dass aus dem, was zuvor auf Liebe und Freundschaft gebaut war, nun für alle Beteiligten ein bloßer Job wurde.
Die Männer im Exil waren immerhin produktiv. Schon im Flugzeug, so heißt es, hatten sie die Idee für ein Lied mit Neujahrsthematik. Genauer gesagt sollte es ein ganzes Musical werden, und auf Barbados dann kamen sie – jetzt wird es kurios – darauf, dass John Cleese von der britischen Komikergruppe Monty Python dazu den Text schreiben sollte. Ihn nämlich trafen sie auf der Insel, und versuchten ihn bei einem Abendessen zu überreden. Allerdings sagte er nach kurzer Zeit ab. Von der Musical-Idee blieb schließlich nur das eine Lied.
Dass Cleese daran mitgewirkt hätte, ist nicht überliefert. Aber wenn man so will, dann hat auch der Song „Happy New Year“ ein bisschen etwas vom zynischen Effekt des am Kreuz gesungenen „Always Look on the Bright Side of Life“. Denn dieses Neujahrslied beginnt, denkbar uneuphorisch, mit dem Ende der Party und derber Katerstimmung:
No more champagne
And the fireworks are through
Here we are, me and you
Feeling lost and feeling blue
It’s the end of the party
And the morning seems so grey
So unlike yesterday
Now’s the time for us to say
Happy New Year
Zum Refrain, der vom Sterben handelt, kommen wir gleich noch. Davor vertiefen wir die Katerstimmung. In der zweiten Strophe weitet sie sich von einer zwischen „me“ und „you“ zu einer der ganzen Menschheit aus, die mit tönernen Füßen ein elendes Sisyphos-Dasein fristet:
Sometimes I see How the brave new world arrives And I see how it thrives In the ashes of our lives Oh yes, man is a fool And he thinks he’ll be okay Dragging on, feet of clay
Never knowing he’s astray Keeps on going anyway
Immerhin, der Mensch strampelt und schuftet weiter. Aber wiederum klingt das „Happy New Year“, das auch dieser Strophe folgt, zynisch, so nach dem Motto: „Muss ja“. In der dritten Strophe wird es schließlich ganz bitter:
Seems to me now That the dreams we had before Are all dead, nothing more Than confetti on the floor It’s the end of a decade
In another ten years time Who can say what we’ll find What lies waiting down the line In the end of eighty-nine
Der ausgreifende Rückblick auf die ganze Dekade der siebziger Jahre ist doppelt bemerkenswert. Denn die Siebziger waren das Jahrzehnt des Aufblühens von Abba, das ihres weltweiten Siegezugs mit teilweise verrückten Ausmaßen. Wenn jetzt also der Abgesang auf dieses Jahrzehnt erfolgt, ist das auch schon einer auf die Band selbst? Darüber hinaus könnte es freilich ein gesamtgesellschaftlicher Abgesang sein, der die Utopien der Siebziger betrifft, die in vieler Hinsicht schon gescheitert waren: Konfetti auf dem Boden der Geschichte. Die Frage am Ende der Strophe – wer weiß, was uns 1989 erwarten wird? – klingt im Nachhinein auf unheimliche Weise prophetisch, bedenkt man dieses große Wendejahr. Aber das ist doch nur eine Fußnote in diesem Text, denn im Kern scheint „Happy New Year“ eben doch nicht von der Weltgeschichte zu handeln, sondern von der zwischen zwei Menschen.
Und damit kommen wir zum Refrain. Wie öfter bei Abba scheint seine Stimmung jener der Strophe entgegenzustehen. Zum Vergleich etwa „Super Trouper“: In der Strophe heißt es „I was sick and tired of everything“, im Refrain „Feeling like I’m number one“. Dass es sich bei „Happy New Year“ ähnlich verhält, könnte man zunächst denken. Denn immerhin handelt der Refrain ja von Visionen, von Brüderlichkeit und Eintracht, fast wie eine Hymne:
Happy New Year
Happy New Year
Happy New Year
May we all have a vision now and then Of a world where every neighbor is a friend
Happy New Year
May we all have our hopes, our will to try If we don’t we might as well lay down and die You and I
Aber was für ein seltsamer Satz ist denn „May we all have a vision now an then“? Den Wunsch nach Visionen mit der Einschränkung „dann und wann“ zu verbinden, klingt merkwürdig demotiviert – nun gut, vielleicht ist das auch einfach nur die entspannt schwedische Haltung („lagom“) gegenüber großen Plänen, eine Art geistige Mittellage in allen Dingen. Dann folgt der Teil, in dem es ums Sterben geht. Immerhin, auch wenn die ganze Formulierung negativ wirkt („Wenn wir keine Hoffnung mehr haben, können wir ja auch gleich sterben“), so folgt daraus doch der Schluss, dass man die Hoffnung nie verlieren darf. Und zwar wer nicht? „You and I“. Von den Geschicken der ganzen Menschheit kommt das Lied hier wieder zurück zu seiner Keimzelle, den zwei ganz speziellen Menschen. Wenn die sich keine Mühe geben, kann auch alles andere nichts werden, so darf man es vielleicht deuten – und dabei offen lassen, was genau damit gemeint ist für diese beiden.
Ob man die Grundbotschaft des Liedes für optimistisch oder pessimistisch hält, hängt schließlich ganz maßgeblich davon ab, wie man den Satz deutet, der den Refrain zum ersten Mal einleitet: „Now’s the time for us to say Happy New Year“. Beim ersten Hören klingt das nach Sarkasmus: Die Party ist vorbei, alle Träume sind zerplatzt, und ausgerechnet jetzt sollen wir uns auch noch ein frohes neues Jahr wünschen! Aber das ist nicht die einzige Art, es zu verstehen. Es könnte auch bedeuten: Gerade jetzt ist die Zeit, in der das Wünschen wieder hilft. Wann, wenn nicht jetzt?
Die Ambivalenzen des Liedes werden nicht zuletzt auch im zugehörigen Musikvideo deutlich. Zunächst fällt daran auf, dass das Ende der Dekade für Abba auch ein Ende der extravaganten Kostüme bedeutet. Schluss mit den goldenen Spandex-Anzügen, bizarren Tierblusen und Katzen-Kleidern – stattdessen alles weiß, sowohl die Wohnung als auch die Garderobe der Protagonisten. So zeitgebunden vieles andere an Abba scheint – dieses Weiß gibt dem Video und seinem Thema eine kühle Überzeitlichkeit.
Das Video liefert ansonsten eine häufig bildliche Übersetzung des Textes: Die Wohnung zeigt noch Spuren der verflossenen Party, es ist der graue Morgen danach, und übrig sind nur You and I, Björn und Agnetha. Zumindest nimmt man an, dass es Björn ist, denn der Mann im Video steht – sehr bemerkenswerterweise – die ganze Zeit nur mit dem Rücken zur Kamera und schaut am Ende des Raumes aus dem Fenster, als ob er der Vergangenheit nachsinne. In die Kamera, in die Zukunft schaut und singt dafür Agnetha. In der Gesamtkomposition ergibt das ein Sinnbild des Elegischen, also der vermischten Empfindung.
Die Essenz des Liedes hat der gealterte Benny Andersson erst vor kurzem noch einmal ganz neu herausgeschält – in einer der instrumentalen Klavierversionen von Abba-Songs, die er aufgenommen hat. Eine gewisse Claydermanhaftigkeit ist dem Ganzen nicht abzusprechen, aber es ist kaum möglich, sich dieser Elegie zu entziehen. Der Gesichtsausdruck, mit dem sich Andersson ganz am Ende noch zur Kamera wendet, eine Art verschmitztes Grinsen, ist unglaublich vielsagend, als ob Jahrhunderte darin aufgehoben wären.
Der Fensterseher im alten Musikvideo dagegen verharrt unerschütterlich in seiner Pose bis zum Schluss, während die Flashbacks der vergangenen Jahreswechsel, der vergangenen Partys vorüberziehen. Wie zu Stein erstarrt wirkt er – vielleicht, weil er eben so erschüttert ist. Die Frau, die „Happy New Year“ gesungen hat, steht am Ende auf und geht zu ihm, schaut mit aus dem Fenster – und ein ganz bisschen wirkt es, als wende sie sich schließlich in seine Richtung und spreche ihn an.