Als dieser Hit 1984 fast an die Spitze der deutschen Charts kletterte, werden die wenigsten über den Text nachgedacht haben. Lohnt sich aber, denn er spielt auf eine aufregende literarische Vorlage an.
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Talk Talk ist eine der wenigen Bands in der Musikgeschichte, deren stärkste Aufnahmen nicht am Anfang, sondern am Ende liegen. Sie ist graduell waghalsiger und interessanter geworden. Weitsichtige Fans werden vielleicht schon circa 1986 erkannt haben, auf welcher Reise das Londoner Quartett war. Wer sich zum Beispiel den Live-Mitschnitt des Konzerts im Schweizer Montreux auf dem Videokanal Youtube ansieht, merkt schnell, wie gut die Mitglieder damals zusammengespielt haben, wie stark das Material inzwischen war und wie weit aus dieser oberflächlichen Zeit der Popgeschichte – den Achtzigern – diese Band gefallen war.
Doch der Eskapismus und die Abwendung von der Popwelt, der die späteren Meisterwerke „Spirit of Eden“ und „Laughing Stock“ ausmachten, war noch nicht erkennbar. Das Vermächtnis dieser einzigartigen Band liegt in diesen Alben und den leider viel zu wenigen Aufnahmen, die ihre Mitglieder nach dem Ende von Talk Talk 1991 noch hinterließen: Die nach ihm selbst benannte Solo-LP von Mark Hollis, ein nie zuvor gehörtes Fest der Stille, „Out Of Season“ von Portishead-Sängerin Beth Gibbons mit Rustin Man (alias Talk-Talk-Bassist Paul Webb), überwältigender Kammer-Pop, oder die Low-Fi-Platten, die Produzent Tim Friese-Green als Heligoland veröffentlicht hat.
Anachronistisch klingende Keyboards
Vor allem lässt sich, wenn man die Geschichte vorwärts erzählt, nicht verständlich machen, wie die späten Platten von Talk Talk die Saat für das legten, was später unter dem unbeholfenen Namen Post Rock in die Geschichte einging. Bands wie Bark Psychosis, Sigur Ros oder Mogwai (weniger dagegen die großen Postrock-Meister Tortoise, die von House, Jazz, amerikanischem Indierock und vielen anderen Quellen kamen) haben gut zugehört, wie Talk Talk mit Stille und Dynamikveränderungen umgingen. Viele Hörer, die erst die Radiohead-Platten nach der Jahrtausendwende kannten und dann die Talk-Talk-Aufnahmen, haben hier ebenfalls eine Inspirationsquelle offengelegt.
Doch selbst wenn es die zwei späten Platten und das 1986 erschienene, ebenfalls sensationelle Album „The Colour of Spring“ nicht gegeben hätte, wäre Talk Talk nicht in Vergessenheit geraten. Dafür sorgten ihre Hits aus dem Jahr 1984. Und wenn man in die Erzählung über Talk Talk in eben diesem Jahr einsteigt, ist da eine Band, die sich nahtlos in den aktuellen Elektro-New-Wave-Synth-Pop dieser Epoche einsortiert, der man aber anmerkt, dass irgendwie noch mehr dahintersteckt. „It’s My Life“ ist eine starke Single, die nicht umsonst Jahre später von der amerikanischen Ska-Pop-Band No Doubt (erfolgreich) gecovert wurde. „Dum Dum Girl“ ist ein netter Popsong, der sich in das bisherige Schaffen von Talk Talk einreihte, dem allerdings auf der ersten Platte „The Party’s Over“ noch die Hits fehlten.
Den Unterschied auf der zweiten Platte machte vor allem „Such A Shame“, das in vielen Ländern Europas in die Top-Ten der Charts kam und erstmals das Potential andeutete, das im Zusammenspiel von Songschreiber Hollis mit dem neuen Produzenten Friese-Green lag. Hollis ist 1955 geboren und kam aus dem Londoner Punk-Umfeld. Als sich der Erfolg mit Talk Talk einstellte, war er also schon Ende 20 und kein naiver Newcomer mehr. Friese-Green hatte sich als Toningenieur einen Namen gemacht und viele aktuelle Bands unterstützt. Seine Leidenschaft war der Progressive Rock mit Bands wie Caravan und King Crimson. Von dort aus hatte er Komponisten wie Strawinsky für sich entdeckt. Wenn man das weiß, hört man „Such A Shame“ und vor allem den Einsatz der zum Teil anachronistisch klingenden Keyboards in dem Stück anders. Hollis und Friese-Green nahmen von diesem Ausgangspunkt aus später den gemeinsamen Weg in ein ungemein jazziges Oeuvre, das sich spürbar anderer Quellen bediente als andere Popmusik dieser Zeit.
Auf der lyrischen Seite steht hinter „Such A Shame“ eine ideelle Vorlage. In dem Song verarbeitet Hollis den Kultroman „The Dice Man“ (deutsch: „Der Würfler“) , den der amerikanische Schriftsteller George Cockcroft 1971 unter dem Pseudonym Luke Rhinehart veröffentlicht hat. In dem in Teilen autobiographischen Werk geht es um einen vom Leben gelangweilten Psychiater, der sich auf das Experiment einlässt, wichtige Lebensfragen durch einen Würfel entscheiden zu lassen. Das reicht von Sexualpraktiken, über Mord bis zum Ausbruch von Psychiatriepatienten. Der Roman ist vielfach in der Popkultur verarbeitet worden, in der Musik zum Beispiel fünf Jahre vor Talk Talk von der aus Manchester stammenden Kultband The Fall („Dice Man“ auf ihrer Platte „Dragnet“ von 1979). Im Vergleich zu diesem frühen New-Wave-Song sticht „Such A Shame“ allerdings musikalisch heraus. Wohl auch ohne dass der Hintergrund verstanden worden wäre, stieg der Song damals in vielen Ländern in die Top Ten auf, in der Schweiz sogar auf Platz 1. Nur in Großbritannien zündete er nicht so wie die beiden anderen Singles des Albums „It’s My Life“.
Der Text ist sprachlich wenig komplex und besteht aus nur zwei Strophen und einem mehrfach wiederholten Refrain:
Such a shame to believe in escape
A life on every face
And that’s a change
Til I’m finally left with an eight
Tell me to relax, I just stare
Maybe I don’t know if I should change
A feeling that we share
It’s a shame
(Such a shame)
Number me with rage, it’s a shame
(Such a shame)
Number me in haste (such a shame)
This eagerness to change
It’s a shame
The dice decide my fate
And that’s a shame
In these trembling hands
My faith tells me to react, I don’t care
Maybe it’s unkind that I should change
A feeling that we share
It’s a shame
(Such a shame)
Number me with rage, it’s a shame
(Such a shame)
Number me in haste (such a shame)
This eagerness to change
Such a shame
Tell me to relax, I just stare
Maybe I don’t know if I should change
A feeling that we share
It’s a shame
(Such a shame)
Number me with rage, it’s a shame
(Such a shame)
Number me in haste
(Such a shame)
Write it across my name, it’s a shame
(Such a shame)
Number me in haste (such a shame)
This eagerness to change
Such a shame
Hollis sinniert über die Gefühle und Gedanken, die der Psychiater gehabt haben muss, nachdem er sich zu dem Würfelspielexperiment entschlossen hatte. Es sind höchst ambivalente Emotionen: Einerseits gesteht er ein, dass es eine Schande ist, sich auf diese Weise aller Verantwortung zu entziehen, und dass das Würfellos eine sehr starke Veränderung gegenüber seinem vorherigen Leben darstellt. Jede Würfelseite stehe für ein Leben. Irgendwann aber wird der Würfel eine Acht, und damit die Todeszahl anzeigen. Entspannung kann der Protagonist nicht finden, auch wenn der Würfel ihn dazu aufruft. Stattdessen starrt er nur auf dessen Laufbahn. All das ist eine Schande.
Im Refrain fordert er den Würfel auf, ihm schnell eine neue Zahl entgegenzuschleudern. Es sei eine Schande, im Veränderungsdrang liege eine Besessenheit. Die zweite Strophe ist eine Variante der ersten. Der Würfel soll das Schicksal Rhineharts entscheiden. In seinen zitternden Händen liege das Schicksal. Sein Vertrauen oder sein Glaube (Faith) rufe ihn zwar auf, sich nicht dem Zufall des Würfelspiels zu überlassen, aber ihm sei das egal aus einem Gefühl heraus, das er (mit dem Würfel?) teile: dem Gefühl der Schande. Im weiteren Verlauf des Textes werden einzelne Zeilen variiert.
Ein Klang wie ein Elefantenruf
In einer seiner nicht allzu häufigen Einlassungen hat sich Mark Hollis zu Cockcrofts Roman als einem guten Buch geäußert, das aber einen Lebensstil beinhalte, den er nicht empfehle. Bevor er professioneller Musiker wurde, hat Hollis Psychologie im Londoner Vorort Muswell Hill studiert, um Kinderpsychologe zu werden. Das hat er aber schnell abgebrochen, um in der Londoner Musikszene der mittleren siebziger Jahre abzutauchen. Ein Grundinteresse für psychologische Themen dürfte aber geblieben sein. Der Text von „Such A Shame“ betont die Ambivalenz des Würfelexperiments, die Musik unterstreicht das. Sie beginnt mit einem rätselhaften Synthesizer-Klang, der wie ein Elefantenruf klingt, Percussion und ein zeittypischer Keyboardteppich setzen ein, die Klavierakkorde kurz vor dem Refrain erinnern daran, dass Talk Talk schon damals sehr feine Musiker waren. Am Ende des Refrains kommt dann der Orgelsound, der eher an Progrock erinnert. Gitarren fallen in den Strophen und im Refrain kaum auf, das Schlagzeug ist extrem fett produziert und der Bass (ebenfalls zeittypisch) im Slapping-Stil. Erst nach dem zweiten Refrain folgt ein sehr gut gespieltes Gitarrensolo. Nimmt man Text und Musik zusammen, ist „Such A Shame“ wohl eine der eindrucksvollsten Radiosingles aus der Zeit Mitte der achtziger Jahre, wurde von der deutschen Pop-Chanteuse Sandra (ziemlich schlecht) und von der französischen Indiepop-Band Nouvelle Vague (sehr originell) gecovert.
Zu einem regelrechten Kunstwerk wird der Song in Verbindung mit dem Video, das die Band mit dem berühmten Videofilmer Tim Pope drehte. Auch hier versteht der unbedarfte Zuschauer nicht, was die Botschaft sein soll. Hollis, in wechselnden dunklen Mänteln und Mützen, gibt den Würfelspieler, dessen Minenspiel permanent entgleitet: von lachend zu wütend, von ängstlich zu selbstgewiss, von aufgewühlt zu durchgeknallt. Kaum merklich interagiert Hollis dabei von Zeit zu Zeit mit einem per Trickfilm eingeblendeten Würfel. Ab und zu wird die Band eingeblendet. Das Video sei der Versuch gewesen, den 500 Seiten langen Roman „The Dice Man“ in vier Minuten pantomimisch darzustellen, sagte Hollis einmal.
Mark Hollis zog sich nach seinem ersten Soloalbum 1998 aus der Öffentlichkeit zurück, zog aufs Land und später wieder zurück, um seinen Söhnen ein Leben in kosmopolitischem Umfeld zu ermöglichen, wie er in einem seiner sehr raren Interviews verriet. Ansonsten erfährt man, dass er den britischen Progrock-Musiker Robert Wyatt seit langem schätzt, sich aber nicht mehr mit Pop- und Rockmusik beschäftigt, sondern vielmehr mit zeitgenössischer klassischer Musik und dass er nach den Erfahrungen von 1986 nicht mehr gedenke, live vor Publikum aufzutreten. Von den Tantiemen seiner Hits konnte er eine längere Zeit gut leben. „It’s My Life“, die andere bekannte Nummer dieser Band, hat Produzent Tim Friese-Greene ko-produziert. Als ihn faz.net vor einigen Jahren für das Buch „Sound of the Cities“ in einem bescheidenen Tonstudio in seinem heutigen Wohnort Totnes in Südengland besuchte, stellte er am Anfang klar, dass er jede Interviewanfrage zu Talk Talk ablehne, weil sich Musiker weiterentwickeln sollten. Gegen ein Gespräch über seine musikalischen Wurzeln, das auch die Zeit von Talk Talk beinhaltete, hatte er dann aber nichts einzuwenden. Die Band ist und bleibt also ein Geheimnis und vor allem untypisch für Popmusik, die so viel auf Inszenierung gibt, insbesondere im MTV-Jahrzehnt der achtziger Jahre. Wie das Video zu „Such A Shame“ zeigt, fehlte es Mark Hollis und seiner Band beileibe nicht an Talent dazu. Aber offenbar hatten sie etwas anderes zu erzählen, als das, was großen Teilen der Plattenindustrie und des Publikums zumutbar war. Dem Werk, das dabei entstanden ist, hat das nicht schlecht getan.