Pop-Anthologie

Van Morrison: „In the Garden“

Im feuchten Grün der irischen Natur findet Van Morrison die mystische Einheitserfahrung. Wie geht das vor sich? Versuch, seinen Song „In The Garden“ mit Goethe, Wittgenstein und Jiddu Krishnamurti zu verstehen.

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Van Morrison im Jahr 1988

Der Grundgedanke der Mystik ist ja eigentlich ganz einfach: Die Sprache und die Begriffe reichen nicht hin zur Erkenntnis des Wesentlichen. Dieses ist unaussprechlich. Vor allem Wittgenstein hat das in seinen Werken immer wieder hervorgehoben, das Unaussprechliche nannte er „das Mystische“.

Will man sich aber mit dieser fatalistisch wirkenden Gleichung nicht zufriedengeben, und Wittgenstein war dazu nicht bereit, wird es kompliziert. Kann man das Mystische anderweitig als begrifflich erfassen, soll man es überhaupt? Und wie könnte man dazu anleiten, da begriffliche Sprache ja offenbar als Medium ausfällt? Wittgenstein schreibt in seinem „Tractatus logico-philosophicus“ (TLP): „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Dieses anschauliche „Zeigen“ ist sein Hebel. Am Ende des „Tractatus“ präzisiert er mit einer paradoxen Denkfigur: „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)“ (TLP 6.54)

An anderer Stelle, in den „Vermischten Bemerkungen“, heißt es dann noch folgerichtig: „Ich glaube meine Stellung zur Philosophie dadurch zusammengefaßt zu haben, indem ich sagte: Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten“.

Doch neben der Dichtung gibt es natürlich noch eine andere Kunstform, die auf mystische Erfahrungen Anspruch erhebt: die Musik. Und der vielleicht größte und erklärteste Mystiker der populären Musik ist Van Morrison. Auch wenn er sich für eine andere, eine persönlichere Form der Unaussprechlichkeit interessiert als Wittgenstein, so teilt er dessen Grundproblem.

Der wortkarge Interview-Verweigerer aus Belfast ist im Privaten so etwas wie die Verkörperung des Wittgenstein-Zitats „Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen“. Er ist ein bekennender Feind des Überanalysierens seiner Lieder, aus seinem Leben erzählt er kaum etwas. Nicht zu verleugnen ist seine religiöse, spirituelle Prägung. Als Kind hat er seine Mutter wiederholt zu den „Zeugen Jehovas“ begleitet, hat die unterschiedlichsten Meditationstechniken ausprobiert und die Platte „Inarticulate Speech Of The Heart“ L. Ron Hubbard gewidmet, dem Gründer der Scientology-Sekte, deren Einfluss auf sein Leben und seine Musik er jedoch stets herunterspielt.

Seit Jahrzehnten zelebriert Morrison in der Musik seine spirituelle Bedürftigkeit, wobei zu seinen Lieblingswörtern „gipsy“, „soul“, „healing“ „mystic“, „magic“ und „way back home“ gehören.

© Caroline InternationalCover des neuen Albums von 2018

Seine Mittel scheinen gesanglich vor allem die folgenden zu sein: erstens beschwörende Repetitionen à la John Lee Hooker, der es in dem Song „Going down“ mit Morrisons Hilfe auf 37 Wiederholungen der Titelzeile bringt. Zweitens sind da Lautmalereien wie in dem Song „Caravan“, in dem nicht nur die aufhellende Wirkung des Radios besungen, sondern auch durch ein fröhliches „La-la-lala-la-la-la-la“ nachgeahmt wird. Drittens ein manchmal herrischer, manchmal einflüsternder Predigergestus, der sich im Grunde aber (siehe Wittgenstein) in einer Paradoxie verfängt. Das macht sich auch in Morrisons neuestem Album bemerkbar – „The Prophet Speaks“, in dessen Titelsong einerseits bedauert wird, dass keiner dem Propheten zuhört, andererseits wird kein einziges Wort darüber verloren, wie denn die unwiderstehliche Botschaft des Propheten lauten soll. Hier ist beim späten Morrison wohl gar (Selbst-)Ironie im Spiel, auf die auch das Cover-Bild hindeutet. Und hatte Morrison in seinem Song „In The Garden“ aus dem Jahr 1986 nicht noch die Losung ausgegeben: „No guru, no method, no teacher“?

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Den Text von „In The Garden“ kann man als Morrisons vielleicht ehrgeizigsten Versuch interpretieren, dem Hörer eine mystische Einheitserfahrung zu vermitteln, in der sich irdische Liebe mit Naturempfinden und religiöser Erfahrung verbindet.

Das Setting: Eine Frau steht im Garten, der „wet with rain“ ist, wobei diese Formulierung in  Morrisons Gesamtwerk häufig vorkommt („Sweet Thing“, „In Tir Na Nog“) und stets mit positiven Assoziationen an die irische Heimat verbunden ist.

The fields are always wet with rain
After a summer shower when I saw you standin’
In the garden in the garden wet with rain

Jetzt wird es im Song ein bisschen kitschig, wobei der Kitsch in Morrisons Texten immer ein wenig verzweifelt wirkt, davon abgesehen, dass er durch die selbstbewusst-soulige Darbietung stets in den Hintergrund tritt. In der zweiten Strophe fließen jedenfalls die Tränen und die Blätter fallen, zwei Liebende sitzen nebeneinander (auch dies ein Leitmotiv bei Morrison), Melancholie steht im Raum.   

You wiped the teardrops from your eye in sorrow
As we watched the petals fall down to the ground
And as I sat beside you I felt the great sadness that day
In the garden

And then one day you came back home
You were a creature all in rapture
You had the key to your soul and you did open
That day you came back to the garden

The olden summer breeze was blowin‘ against your face
The light of God was shinin’ on your countenance divine
And you were a violet colour as you
Sat beside your father and your mother in the garden

In diesen letzten beiden Strophen drückt sich Morrison auffällig gewählt aus, ein hoher Ton hält Einzug in den Songtext: „You were a creature all in rapture”, ein Wesen in Verzückung, mit „countenance divine“ gesegnet, einem göttlichen Antlitz. Beeindruckend in ihrer gedanklich-emotionalen Mischung sind vor allem die Verse: „You had the key to your soul / And you did open“.

In der folgenden Strophe verfestigt sich für den deutschen Leser dann erstmals eine Art „Werther“-Gefühl; Erinnerungen an das Roman-Kapitel „16. Junius“ mit seinen empfindsamen Szenen und dem „Ball auf dem Lande“ werden wach:

The summer breeze was blowin’ on your face
Within your violet you treasure your summery words
And as the shiver from my neck down to my spine
Ignited me in daylight and nature in the garden

Es gibt sie also in Morrisons Kosmos, die wirksame, mitreißende Sprache, die „summery words“. Und sie erfahren bei Morrison sogar noch eine Steigerung in der „trance“, gefolgt von einer Berührung, die schließlich in ein religiöses Gefühl mündet.

And you went into a trance
Your childlike vision became so fine
And we heard the bells inside the church
We loved so much
And felt the presence of the youth of
Eternal summers in the garden

And as it touched your cheeks so lightly
Born again you were and blushed and we touched each other lightly
And we felt the presence of the Christ
Within our hearts in the garden

Auch dieser letzte Handlungsverlauf erinnert an Goethes „Werther“: die junge Frau (Lotte) im elterlichen Garten, der Regen, die Tränen, die Berührung und schließlich, wie in einer Übersprungshandlung, eine sakrale Symbolik. Zwar hatten sich Lotte und Werther im Anblick des Gewitters „auf dem Lande“ noch über einen Autorennamen, nämlich „Klopstock“, verständigt:

sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: »Klopstock!« – Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrug’s nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen.

Die Ode, von der die Rede ist, „Die Frühlingsfeier“, ist aber ein religiös grundiertes Gedicht, in dem es um eine Sakralisierung der Natur geht. Der junge Goethe, der auch durch den Pietismus beeinflusst wurde und sich im „Werther“ von dem nordischen Fake-Barden „Ossian“ beeindrucken ließ, zeigt hier eine erstaunliche Nähe zu Van Morrison.

Und dieser nimmt in der folgenden Strophe, ganz im Sinne des „Werther“ wiederum, die Religiosität etwas zugunsten eines allumfassenden Pantheismus zurück:

And I turned to you and I said
No Guru, no method, no teacher
Just you and I and nature
And the father in the garden

© dpaJiddu Krishnamurti in den dreißiger Jahren

Die berühmt gewordene Zeile „No guru, no method, no teacher“ stammt dabei, das hat Morrison bestätigt, von Jiddu Krishnamurti, jenem indischen Philosophen, der 1910 als Teenager von der „Theosophischen Gesellschaft“ zum künftigen Weltlehrer auserkoren worden war, bevor er sich in den zwanziger Jahren von allen Erwartungen an seine Person lossagte und hinfort die an Wittgenstein erinnernde Losung ausgab, die Wahrheit sei „nicht zu organisieren“: „Hören Sie auf niemanden – vor allem nicht auf den Redner“, womit er sich selbst meinte.

Morrison reichert Krishnamurtis Credo in der letzten Strophe nun noch durch weitere Beschwörungsformeln an, die bis zum „heiligen Geist“ hin reichen. Der Gesang ist dabei besonders einfühlsam.

No Guru, no method, no teacher
Just you and I and nature
And the Father and the Son and the holy ghost
In the garden wet with rain
No Guru, no method, no teacher
Just you and I and nature and the Father and the son and the holy ghost
In the garden, in the garden, wet with rain
No Guru, no method, no teacher
Just you and I and nature
And the Father in the garden

Mehr kann man in einem Pop-Song für die Mystik dann aber auch textlich nicht mehr tun. Folgerichtig verebbt der Song recht abrupt. Wie weit die Wittgensteinsche Leiter in Morrisons Songtext ihren Dienst für das Mystische getan hat, hängt vom einzelnen Hörer ab. Morrison ist in ihm ein großes Risiko eingegangen, hat eine erhebliche Fallhöhe nicht gescheut. Humorvolle, auflockernd unpathetische Formulierungen wie bei Wittgenstein und Krishnamurti fehlen bei ihm gänzlich. Ein nüchterner Hörer könnte den Song mit den Worten „Muss man vielleicht dabei gewesen sein“ eiskalt kontern, ohne dass sich der Text, der auf „Alles oder Nichts“ zielt, dagegen wehren könnte.

Alles in allem ist es erstaunlich, mit welch großem, oft heiligem Ernst Morrison als „mystischer Musiker“ auf den Songtext setzt. Kann er sich von bestimmten Pop-Konventionen nicht lösen – oder ist ihm die Musik allein zu augenblickhaft? Hat Morrison ausgeprägtere dichterische Ambitionen, als man dächte? In den wenigen Interviews verblüfft er mit großer Belesenheit.

Aber es gibt durchaus auch die Tendenz zum Verstummen und bewussten Sprachverzicht in seiner Musik. Besonders anschaulich zeigt das eine Version von „Gloria“, die Morrison auf dem Album „Too Long in Exile“ 1993 mit John Lee Hooker einspielte und in der Hooker am Schluss gerade anhebt, zum fünften Mal hintereinander ekstatisch „She’s a sender“ zu singen, als Morrison mit großer Bestimmtheit in den Song hinein die Anweisung gibt: “Play guitar, John, play guitar”. Das anschließende Solo des damals wohl 75 Jahre alten John Lee Hooker, in das Morrison irgendwann einstimmt, muss man gehört haben. In Wort lässt es sich schlecht fassen.