Are we there yet? Mit „Tiny Dancer“ haben Elton John und Bernie Taupin dem Autofahren eine Hymne geschenkt. Sie handelt von Geduld, Scheinwerfern und den Frauen von Los Angeles.
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Es gibt ein Video, in dem Elton John über das Komponieren spricht. 1970 ist das, kurz nach der Entstehung einer frühen Version von „Tiny Dancer“. Zunächst nimmt er die Blätter zur Hand, die er von seinem Texter Bernie Taupin bekommt. Genaue Lektüre ist nicht gefragt. Stattdessen: Schnelle Suchbewegungen in den Lyrics. Welche Formulierung, welches Wort fällt auf? Im Fall von „Tiny Dancer“ ist es die „Ballerina“. Sie inspiriert zu grundlegenden musikalischen Entscheidungen: Weich und zart soll das Lied werden, eher langsam. Also keine quirlige Pirouettendreherin oder kleine Tänzerin aus der Spieldose, sondern eine anmutig auf Sand tanzende Frau, vielleicht von einwiegenden Meereslüften („pretty-eyed, pirate smile“) umgeben. Oft ist es für die Nerven von Textern besser, nicht so genau zu wissen, was die Musiker da beim Vertonen mit ihren Worten treiben. Taupin aber bewunderte Elton John von jeher für dessen schnelle und resolute Arbeitsweise.
Zumal der Song vielleicht gar nicht so privat und intim ist, wie man lange dachte. Geht man nach der Widmung im Artwork des zugehörigen Albums „Madman Across the Water“ von 1971, ist der Song eine Liebeserklärung an Taupins damals frisch angetraute Frau Maxine Feibelman. Sie war maßgeblich an der modischen Selbstfindung Elton Johns beteiligt („seamstress for the band“). Viele Jahre und einige Scheidungen später relativierte Taupin ihre Bedeutung. Er habe damals an gar keine bestimmte Frau gedacht, sondern bloß seinen Aufenthalt in Los Angeles verarbeitet. Dieser war Teil jener legendären Konzertreise, inklusive Auftritt im „Troubadour“, die Elton John in den Vereinigten Staaten zum Durchbruch verhalf. Das Andenken habe Taupin in der im Text besungenen „L.A. Lady“ versinnbildlichen wollen. Und die Liebe zu Kalifornien und den Vereinigten Staaten wurde erwidert: „Madman Across the Water“ performte hier wesentlich besser als in Großbritannien.
Man spürt, dass die britischen Musiker das goldene kalifornische Herbstlicht tief in sich aufnahmen. Die Insignien Amerikas sind „Tiny Dancer“ schon textlich angeheftet: Blue-Jeans, Strand und Entertainment. Sogar die „Jesus Freaks“ auf den Gehwegen erinnern hier an Ticketverkäufer für Rockkonzerte. Von Jim Morrisons quasi zeitgleich angeröhrter „L.A. Woman“ unterscheidet sich die ziemlich distinguierte „L.A. Lady“ deutlich. Amerikanisch wirkt der Song trotzdem: Und das liegt vor allem an dem Raum, den er beschreibt. „Tiny Dancer“ ist ein, vielleicht sogar der Song über das Fahren in Autos. Boulevard und Auditorium – sie ziehen bloß vorbei, bleiben Fassade. Für Menschen, die in Bewegung sind, wird das Auto zum Ort der Ruhe und Intimität. Und natürlich ist Los Angeles die Stadt des Autofahrens: egal ob Gridlock oder Roadtrip.
Dem „Tiny Dancer“ wird ein merkwürdiges Begehren entgegengebracht. In einem Interview sagte Taupin über die Frauen in L.A.: „They’d mother you and sleep with you“. Vielleicht erklärt diese zurecht aus der Mode gekommene Perspektive den Wunsch, sich von der Tänzerin zudecken zu lassen („Lay me down in sheets of linen“). Die geradezu kindliche Aufforderung, die Scheinwerfer zu zählen, übersetzt Elton John ansatzlos in Streifen ziehende Klavierakkorde („Count the headlights on the highway“). Es ist der Knotenpunkt des Songs: weil man als Zuhörer jetzt weiß, dass man sich auf der Fahrt befindet und weil das Lied nun zum Lied über das Zuhören selbst wird. Denn Popmusik hat ihre Orte. Und das Auto ist, vielleicht muss man auch sagen war einer der wichtigsten – neben Disko, Konzerthalle und dem Teppichboden vor dem Plattenspieler.
Das hat auch der Regisseur Max Welland verstanden. Als Elton John 2017 anlässlich von 50 Jahren künstlerischer Partnerschaft mit Taupin dazu aufrief, Videos für die großen 1970er-Jahre-Hits zu drehen, gewann seine Ode an Los Angeles. Die ganze Stadt sitzt hier im Auto und hört „Tiny Dancer“: von der einsamen Oma bis zum betrunkenen Pärchen, sogar Marilyn Manson ist mit dabei. Welland war nicht der erste, der diesen Bezug herausstellte. Der Film „Almost Famous“ von Cameron Crowe führte im Jahr 2000 zur eigentlichen Renaissance des Songs. „Tiny Dancer“ läuft hier, während eine Band nach einem Riesenkrach schweigend im Tourbus sitzt und die Fahrt dazu nutzt, sich nicht mehr in die Augen zu schauen. Der extrem langsame Aufbau des Songs lässt Raum für lautes, lautes Schweigen. Dass schlussendlich der ganze Bus mitsingt, versteht sich von selbst.
Für einen Popsong öffnet sich „Tiny Dancer“ geradezu unverschämt spät. Zweieinhalb Minuten nimmt sich Elton John Zeit, bevor er den Refrain präsentiert. Vielleicht macht das den Song zur Sing-Along-Hymne. Gerade weil es nicht nur beim Autofahren, sondern auch beim Hören des Lieds zur allseits bekannten Frage kommen kann: „Sind wir schon da?“. Für manche macht das den Reiz aus. Es ist kein Zufall, dass kürzlich ein Video der Youtuberin und Vine-Ikone Chloe Woodard viral ging. Es trägt den Titel „guy at a party who only knows one line of tiny dancer“. Mit Drink in der Hand lauert der parodierte Mann vom ersten Takt an auf das Kommando zum Mitgrölen. Bis dahin kommt es allerdings zu etlichen voreiligen Einsätzen.
In Wirklichkeit ist der Song natürlich glasklar strukturiert und eine Lehrstunde in musikalischer Ökonomie. Ein grandioser Spannungsbogen überwölbt die sechs Minuten: Zunächst hört man nur Elton John und sein Klavier. Zum Ende der ersten Strophe kommt B.J. Coles Steelguitar hinzu. Die zweite Strophe breitet sich mit zurückhaltender Perkussion und Bass aus, schließlich setzt der Chor ein. Erst im Refrain werden die von Paul Buckmaster arrangierten Streicher aus dem Ärmel gezaubert und auf einmal merkt man, dass man es hier mit üppigem orchestralen 70s-Rock zu tun hat.
Vielleicht ist es ein Glück, dass „Tiny Dancer“ eine ganze Zeit lang etwas im Schatten anderer, noch größerer Elton-John-Hits stand. In Großbritannien wurde das Lied gar nicht erst als Single veröffentlicht, in den Vereinigten Staaten floppte es zunächst. Vielleicht ist dieser Refrain aber auch einfach unverwüstlich. Man möchte ihm zurufen: Komm nochmal und halt mich kurz fest.
„Tiny Dancer“
Blue jean baby, L.A. lady
Seamstress for the band
Pretty-eyed, pirate smile
You’ll marry a music man
Ballerina, you must’ve seen her
Dancing in the sand
And now she’s in me, always with me
Tiny dancer in my hand
Jesus freaks out in the street
Handing tickets out for God
Turning back, she just laughs
The boulevard is not that bad
Piano man, he makes his stand
In the auditorium
Looking on, she sings the songs
The words she knows, the tune she hums
But, oh, how it feels so real
Lying here with no one near
Only you, and you can hear me
When I say softly, slowly
Hold me closer, tiny dancer
Count the headlights on the highway
Lay me down in sheets of linen
You had a busy day today
Hold me closer, tiny dancer
Count the headlights on the highway
Lay me down in sheets of linen
You had a busy day today
Blue jean baby, L.A. lady
Seamstress for the band
Pretty-eyed, pirate smile
You’ll marry a music man
Ballerina, you must’ve seen her
Dancing in the sand
And now she’s in me, always with me
Tiny dancer in my hand
Oh, how it feels so real
Lying here with no one near
Only you, and you can hear me
When I say softly, slowly
Hold me closer, tiny dancer
Count the headlights on the highway
Lay me down in sheets of linen
You had a busy day today
Hold me closer, tiny dancer
Count the headlights on the highway
Lay me down in sheets of linen
You had a busy day today