Pop-Anthologie

Blur: „For Tomorrow“

Mit der Psychogeographie der Stadt London hat die Band Blur sich immer wieder beschäftigt: So auch im retrofuturistischen Song „For Tomorrow“. Kriegt man ein Herz aus Beton, wenn man ihn hört?

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Wir haben es mit der ersten Single aus dem zweiten Album einer Band zu tun, die vorankommen will. Das erste Album war ganz nett, bezeugte aber als Nachzügler der neo-psychedelischen Welle ca. 1989 keinen dezidierten eigenen Stilwillen und führte kommerziell und künstlerisch in eine Sackgasse. Nun aber – voran. „For Tomorrow“ heißt die Single, doch das Album, das vier Wochen später, im Mai 1993, herauskam, schien mit dem Titel Modern Life is Rubbish eine gegenläufige Botschaft zu vermitteln. Nun gut, könnte man einwenden: Das unbefriedigende Heute überwinden zugunsten eines besseren Morgen, das mag angehen – aber mit den „Spitfire“-Jägern auf dem Cover der Single und der „Mallard“-Schnelldampflok aus den 1930er Jahren auf jenem des Albums? Der Zukunft entgegen im Waggon der behäbig dahinrumpelnden „District Line“ mit ihrem alten Holzfußboden, in dem ein Gemälde im Inneren des Booklets die Band sitzend zeigt? Eine Band überdies, deren Kleidung sie als mindestens zweite Nachfolgegeneration der „Mods“ der frühen 1960er Jahre ausweist, die sich der Zukunft in Form erst des Modern Jazz und dann des Rhythm & Blues zugewandt hatten, die von The Who auf den Gipfel geführt, begraben und in „Quadrophenia“ verklärt wurden – Pete Townshend war damals, 1973, noch keine 30 und schien schon ein ganzes Leben hinter sich zu haben. Keine fünf Jahre später nähten sich Paul Weller und seine Kameraden von The Jam von neuem die Kokarde der Royal Air Force auf den Parka und machten schnelle Lieder über ein London, das binnen 15 Jahren vom Aufbruch in die Endzeit übergegangen zu sein schien.

Der Futurismus, dem in „For Tomorrow“, gehuldigt wird, ist also bereits „retro“ in mehrfacher Spiegelung. Und Blur bewegen sich doch, zu Lande, zur Luft und anscheinend auch zu Wasser. Letzteres jedenfalls der Protagonist des Songs, der als „twentieth-century boy“ eingeführt wird und sich seekrank an die Reling klammert. Doch täuscht dieser Einstieg ebenso sehr wie das schwarzweiß gedrehte Video, in dem Sänger Damon Albarn – „hanging on for dear life“, immerhin – sich von der Plattform eines der klassischen Londoner „Routemaster“-Doppeldeckerbusses in den Fahrwind schwingt. „For Tomorrow“ ist ein Lied über das Autofahren, jedenfalls für diesen Hörer, der sich in der nervösen Rhythmik von Graham Coxons Gitarrenspiel nicht an hohen Seegang erinnert fühlt, sondern an das Stop-and-Go des innerstädtischen Autoverkehrs.

Unter dem Westway in London

Am Steuer – „with her hands on the wheel” – sitzt das weibliche Pendant, das „twentieth-century girl“. Wir befinden uns am Ende des Jahrhunderts des Automobils in London, einer Stadt, die ab Anfang des 21. Jahrhunderts zunehmend Anstalten machte, das Auto aus seinem Zentrum zu verdrängen. Das Auto ist die Zukunft von gestern und ist doch nicht wegzudenken. Immer wieder für tot erklärt, erweist es sich doch als unverzichtbar, und die autogerechte Stadt ist sein Denk- und Mahnmal. Nun wurde die autogerechte Stadt in London genauso wenig konsequent umgesetzt wie je ein anderer Masterplan, doch zu ihren Denkmälern gehört eine Straße, die im ersten Teil des Songs – dem gesungenen, nicht dem eher gesprochenen – neben London selbst die einzige topographische Bezeichnung darstellt: Die „Westway“, jene als Stadtautobahn ausgebaute Ausfallstraße, die auf Betonpfeilern den Londoner Westen durchzieht.

Musikvideo: Under the Westway

„We’re lost on the Westway“ heißt demnach mehr, als sich verfahren zu haben. Wir stecken auch nicht bloß im Stau, sondern stecken anders fest, haben uns verrannt. Es gibt kein Jenseits der Westway, wie auch der Protagonist des Romans Concrete Island von J. G. Ballard (1974; dt. Betoninsel) feststellen muss, der nach einem Autounfall zwischen den Fahrbahnen strandet und inmitten der Zivilisation zum neuen Robinson wird. Die Westway erscheint bei Ballard als dystopischer Zukunftsort, als Menetekel des Fortschritts, ohne an sich bemerkenswert zu sein, wie Ballard an anderer Stelle schreibt. Dafür biete sie einen Ausblick über „einige der tristesten Wohnbauten Londons“. Darunter befindet sich der zu trauriger Berühmtheit gelangte Grenfell Tower ebenso wie der einen gewissen Kultstatus genießende brutalistische Wohnblock Trellick Tower am oberen Ende der Portobello Road. Von dessen Architekten Ernő Goldfinger lieh sich Ian Fleming den Namen für einen Schurken – und wiederum Ballard die Gestalt eines ebensolchen für High Rise (1975), eine Art Herr der Fliegen im Hochhaus.

Traurige Domspitze Westlondons: Der Trellick Tower

Den Trellick Tower sollten auch Blur besingen, im Song „Best Days“ auf dem übernächsten Album (The Great Escape, 1995), wo er als traurige Domspitze Westlondons figuriert, als Gegenpol zu den „Bow Bells“ des Ostens, die wie kein anderer Turm für das urtümliche London stehen. Noch in einem ihrer letzten Songs, der Single „Under the Westway“ (2012) kehren Blur an diesen kuriosen Sehnsuchtsort zurück. „For Tomorrow“ steht damit am Anfang einer Reihe von Blur-Songs, die Skizzen der Londoner Psychogeografie geben – das große Vorbild dafür ist natürlich „Waterloo Sunset” von den Kinks. Ihrerseits ist die Westway ein Erinnerungsort der Londoner Musikszene, die nicht nur ein subkulturell so fruchtbares Quartier wie Notting Hill durchkreuzt, sondern zwischen deren Pfeilern auch bedeutende Aufführungsorte untergebracht waren.

In der Psychogeographie der sich wandelnden Stadt spielte die Westway eine im wahrsten Sinne einschneidende Rolle. Sie definierte London im Innern neu, wie es zwanzig Jahre später die Ringautobahn M25 von außen tun sollte. Lesen wir abermals J. G. Ballard: „Von Le Corbusier stammt die Bemerkung: ‚Die Stadt, die über Geschwindigkeit verfügt, verfügt über den Erfolg’. Doch die Westway ist, wie Angkor Wat, ein steinerner Traum, der niemals erwachen wird. Wer über diese Betonfläche rast, gehört vorübergehend dem zwanzigsten Jahrhundert an und wird Bürger eines virtuellen Staates, der vom Rauschen der Gürtelreifen getragen wird.“ In Ballards Formulierung klingt die Dialektik von Statik und Dynamik an, die Paul Virilio in die Formel vom „rasenden Stillstand“ gefasst hat.

Mit Kindern des zwanzigsten Jahrhunderts haben wir es nun in „For Tomorrow“ zu tun, und daran ändert auch die Aussicht auf das „End of the Century“ (ein Songtitel vom nächsten Album) nichts. Gehen wir einmal davon aus, dass es immer noch dieselben Protagonisten sind, die im zweiten, gesprochenen oder skandierten Teil des Songs die passenden Allerweltsnamen Jim und Susan erhalten und die auf Vorschlag Susans – denn sie ist es, die das Steuer in der Hand hält – eine gemeinsame Ausfahrt unternehmen, und zwar von ihrer Wohnung in Emperor’s Gate (einer Straße in Kensington, in der Albarns Eltern einst als Nachbarn John Lennons wohnten) nach Primrose Hill, einem beliebten Ausflugsziel im Norden, wo – wie man ohnehin schon wusste, was aber seit „For Tomorrow“ als geflügeltes Wort gelten darf – „the view’s so nice“. (Der Weg dorthin führt übrigens nicht über die Westway, allenfalls darunter.) Die zentrumsnahe Anhöhe bietet ein Panorama weiter Teile Londons. Doch bleibt zum Schluss nur die Feststellung, dass man von dort auch die Riesenstadt in ihrer sprichwörtlichen Kälte und Gleichgültigkeit erfasst, die einem durch den Wind umso gegenwärtiger ist. Bleibt nur, sich aneinander fest- und miteinander durchzuhalten – nicht um der Zukunft, sondern um des nächsten Tages Willen, „For Tomorrow“. Für Jim und Susan geht es weiter, nicht voran. Für Blur aber stand der große Erfolg mit allen seinen Fährnissen noch bevor.

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For Tomorrow

He’s a twentieth century boy
With his hands on the rails
Trying not to be sick again
And holding on for tomorrow
London ice cracks on a seamless line
He’s hanging on for dear life
So we hold each other tightly
And hold on for tomorrow

CHORUS:
Singing
La la, la la la
La la la la la la la la (x3)
Holding on for tomorrow

She’s a twentieth century girl
With her hands on the wheel
Trying not to make him sick again
Seeing what she can borrow
London’s so nice back in your seamless rhymes
But we’re lost on the Westway
So we hold each other tightly
And hold on for tomorrow

REPEAT CHORUS

Trying not to be sick again
And holding for tomorrow
She’s a twentieth century girl
Hanging on for dear life
So we hold each other tightly
And hold on for tomorrow

REPEAT CHORUS

[skandiert]

Jim stops and gets out the car, goes to a house in Emperor’s gate, through the door and to his room, then he puts the TV on, turns it off and makes some tea, says modern life is rubbish I’m holding on for tomorrow, then Susan comes into the room, she’s a naughty girl with a lovely smile, says let’s take a drive to Primrose Hill, it’s windy there and the view’s so nice, London ice can freeze your toes like anyone I suppose I’m holding on for tomorrow