Ihren größten Erfolg hatten Wir sind Helden mit einem Lied, das mit einem nächtlichen Blick aus dem Fenster beginnt und in Trümmern endet. Dieses hier verharrt am Fenster und lässt die Nacht Nacht sein.
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Juli 2004, Ferienlager irgendwo in Brandenburg. Diskoabend. „Denkmal“ von Wir sind Helden. Und zum ersten Mal so was wie ein Kloß im Hals, der sich nicht mit Heimweh oder den Alltagssorgen eines Achtjährigen erklären ließ. Am Nachmittag hatte eines der anderen Kinder erzählt, dass Philipp Hindemith weint. Philipp Hindemith war ein, zwei Jahre älter als ich und in Swantje Kühnert verliebt, die aber nicht in ihn verliebt war. Deshalb weinte er. Abends im Gemeinschaftsraum liefen Wir sind Helden, und Swantje Kühnert tanzte dann doch mit Philipp Hindemith.
Die Mischung aus Deutschpop – Musik, die ich im Gegensatz zu englischen Liedern verstand, auch wenn ich nicht wusste, was „Sprayer“ waren – und überwundenem Secondhand-Liebeskummer genügte, um mich für Wir sind Helden zu gewinnen. Ich interessierte mich noch nicht für Musik. Aber fortan für diese Band.
Um „Denkmal“, noch immer ihr bekanntester Song, soll es hier aber nicht gehen, sondern um die Tageszeit, in der er spielt, die Nacht, also: „Die Nacht“, dem letzten Song auf „Die Reklamation“ (2003), dem Debütalbum von Wir sind Helden. Nicht nur die Zeit, auch der erste Schauplatz ist in beiden Songs identisch. „Komm mal ans Fenster, komm her zu mir / Siehst du da drüben, gleich da hinterm Wellblechzaun“ lauten die oft gehörten ersten Zeilen von „Denkmal“. In „Die Nacht“ heißt es: „Stell dich zu mir hier ans Fenster / Und schau in die Nacht hinaus“. In dieser Nacht aber wird niemand Trümmer beschmier’n. Wir bleiben am Fenster stehen, blicken hinaus und die Nacht blickt zurück.
Mach die Lichter aus
-nahmsweise mal nicht aus
Stell dich zu mir hier ans Fenster
Und schau in die Nacht hinaus
Siehst du, der Mond hat sich ein Fernglas gebaut
Mit dem er nachts in unser Schlafzimmer schaut
Wer hätte das gedacht?
Dass der Mond so etwas macht?
Wir sind Helden hatten immer eine starke Neigung zu Wortspielen, mitunter konnte Judith Holofernes, die die Texte schrieb, der Seltsamkeit der deutschen Sprache wohl einfach nicht widerstehen (zuletzt hat sie einen Band mit kalauernden Tiergedichten veröffentlicht). „Mach die Lichter aus / -nahmsweise mal nicht aus“ ist kein Zauberwerk. Als Song-Opener ist es wunderbar, weil der leere Takt nach dem angetäuschten Satzende einen schon zum Lichtausmachen verleitet hat. In einer späteren Strophe wird dieser Trugschluss leicht variiert wiederholt.
Auch diese Verspieltheit war es, die ein bestimmtes Publikum, die mich anzog. Es war etwas peinlich, Hits gut zu finden, und noch peinlicher, deutsche Hits gut zu finden. Silbermond und Juli waren solche Bands. Auch deren Songs „Geile Zeit“ oder „Das Beste“ liefen, ich bin mir sicher, Mitte der 2000er in Brandenburger Ferienlagern. Die Texte handelten von Superlativen, von großen und größten Gefühlen, von Regen und Meer. Taten keinem weh. Wir sind Helden waren anders. Die Lieder hatten sprachliche Intelligenz, es bestand keine Verwechslungsgefahr mit Rosenstolz. Später, als Classic-Rock-versnobter Jugendlicher, verstand ich erst beim erneuten Durchören der ersten drei Helden-CDs, dass „Pop“ kein Schimpfwort ist und dass weiche Melodien und radiotaugliche Ohrwürmer auf eine gründliche Art schön sein können. Der Refrain von „Die Nacht“ zum Beispiel.
Die Nacht dreht sich um dich
Die Nacht dreht sich um dich allein
Sie will am Tag noch bei dir sein
Die Nacht dreht sich um dich allein
Und du schläfst einfach trotzdem ein
Das Slowdance-Tempo, die Indie-Uuhs im Hintergrund, ein denkbar einfaches Drum-Fill zum Einstieg, dann die absteigende Basslinie hinter vier Gitarrenakkorden, die alle nicht weit von Zuhause gestreut sind. Das ist repetitiv, aber wen stört das schon in stiller Nacht?
Das Lied entwirft ein schlafzimmerzentrisches Weltbild, das jeder Nachtmensch kennt, der schon mal länger als zwei Minuten aus dem Fenster gestarrt hat. Die Nacht, diese Nacht zumindest, gibt Zeit und Schutzraum für emotionale Konzentration. Zugleich beschreibt der Text eine Liebe zwischen zweien, die sich schon so gut kennen, dass sie nicht nur die utopischen „Denkmal“-Nächte miteinander verbringen. Alles will irgendwie mit rein, zu „uns“: der Mond, der Wind, der „so zahm“ ist wie der ganze Song und mit langen Atemzügen die Nachtluft ins Zimmer trägt.
Und wusstest du, dass das Sternenlicht
Kurz bevor es in den Himmel aufbricht
Auf deiner Nase sitzt und lacht
Dann erst springt es in die Nacht
Die Nase des oder der Liebsten im Verbund mit den Elementen war schon 2003 kein unriskantes Bild im deutschsprachigen Pop, wenn es ums Vermeiden von Kitsch geht („Sag mal, weinst du, oder ist das der Regen, der von deiner Nasenspitze tropft?“). Holofernes’ Worte fallen – auch ohne Nachtbonus, der einen übermäßig Gefühliges oft mit Kulanz entgegennehmen lässt – nicht in dieses Honigfass. Vielleicht liegt es an der Vortragsweise, vielleicht daran, dass der Song nicht aus vollem Hals spielt und deshalb nicht so stürmt und drängt. Man stelle sich obigen Vierzeiler in einem Bilderbuch vor, das man einem Kind zum Schlafengehen vorliest. Funktioniert.
Nicht zuletzt ist „Die Nacht“ eine Ode an eine Art Butterfly-Effekt, der durch eine innige Beziehung fassbar wird. Die Nacht dreht sich um dich, „und wenn du seufzt, gerät die Welt aus dem Lot / Motoren stottern, jede Ampel wird rot“. Dem nokturnalen Stadtkind, das ich war, ging das ins Herz. Und auch, dass die Nacht am Ende jedes Refrains „einfach trotzdem“ mit dem Einschlafen endet, war gerade richtig für einen Jugendlichen mit Hang zu Schwermut und Zulangeaufbleiben. „Du bist vom Herzklopfen der Nacht / Noch nicht einmal aufgewacht“: Wer doch Kitsch in diesen Zeilen findet, dem sei nicht widersprochen. Musik, die man jung hört, beurteilt man auch später noch mit alten jungen Ohren.
2012 lösten sich Wir sind Helden auf. Als Erwachsener hörte ich mehrere Jahre lang gar keine Helden-Songs. Womöglich auch, weil die Musik so offensichtlich aus meinem Milieu und für mein Milieu war. Es waren Songs für die großwerdenden Kinder eines linksliberalen Bildungsbürgertums. Keine Pforte zur Welt, sondern ein Fenster zu dem, was nahe lag. Gymnasiastenmusik? Auf meinem Abiball lief jedenfalls nichts von Wir sind Helden. Schade eigentlich. Vielleicht ja auf dem von Philipp Hindemith und Swantje Kühnert.
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„Die Nacht“
Mach die Lichter aus
-nahmsweise mal nicht aus
Stell dich zu mir hier ans Fenster
Und schau in die Nacht hinaus
Siehst du, der Mond hat sich ein Fernglas gebaut
Mit dem er nachts in unser Schlafzimmer schaut
Wer hätte das gedacht?
Dass der Mond so etwas macht?
Die Nacht dreht sich um dich
Die Nacht dreht sich um dich allein
Sie will am Tag noch bei dir sein
Die Nacht dreht sich um dich allein
Und du schläfst einfach trotzdem ein
Lass die Nacht doch rein
Aus Vorsicht mal nicht rein
Der Wind tut so zahm, aber wenn du ihn lässt
Nistet er sich bei uns ein
Und wusstest du, dass das Sternenlicht
Kurz bevor es in den Himmel aufbricht
Auf deiner Nase sitzt und lacht
Dann erst springt es in die Nacht
Die Nacht dreht sich um dich
Die Nacht dreht sich um dich allein
Sie will am Tag noch bei dir sein
Die Nacht dreht sich um dich allein
Und du schläfst einfach trotzdem ein
Und wenn du seufzt, gerät die Welt aus dem Lot
Motoren stottern, jede Ampel wird rot
Du bist vom Herzklopfen der Nacht
Noch nicht einmal aufgewacht
Die Nacht dreht sich um dich
Die Nacht dreht sich um dich allein
Sie will am Tag noch bei dir sein
Die Nacht dreht sich um dich allein
Und du schläfst einfach trotzdem ein
Die Nacht dreht sich um dich allein
Sie will am Tag noch bei dir sein
Die Nacht dreht sich um dich
Genau wie ich