Das Pop-Tagebuch

Komm, wir werfen ein Schlagzeug in den Schnee!

Manch‘ sensible Seele hat es schon beklagt: Nie läuft in wichtigen Momenten die richtige Musik. Andererseits: Mit ein bisschen Mühe kann man dem abhelfen –  indem man selbst singt. So tanzte ich vor Jahren einmal mit einer Dame einen folgenschweren Kennlerntanz zu einer nur von uns beiden a cappella gesungenen Version des Beach Boys-Songs „God Only Knows“ – und das,  obwohl wir uns in einem prall gefüllten Club befanden, in dem laut dröhnend irgendwelcher Britpop-Schmonz das akustische Zepter schwang.
Bei einer Trennung wäre das natürlich so nicht möglich:
„Schatz, lass uns bitte, während du mit den Vasen wirfst und mich einen Versager schimpfst, doch gemeinsam „By The Time I Get To Phoenix“ singen.“ Solch einen Wunsch zu äußern wäre ebenso töricht, wie ein Trennungsgespräch zu unterbrechen, indem man sagt:
„Merk dir bitte was du sagen wolltest, ich will nur rasch die traurige Portishead-CD dazu einlegen“.

Das Gute an oben beklagtem Missstand ist: Es handelt sich nur um ein Schein-Problem. Tatsächlich ist Musik ja eben nicht zur vervollkommnenden Untermalung einschneidender Momente da; vielmehr findet sie ihren Einsatz meist eben an undramatischem Orte. Musik sollte funktionsfrei sein und selbstzweckhaft gehört werden, weshalb ich auch situationsorientierte Kompilationen und Dateien („Songs zum Kochen“, „Musik zum Joggen“, „Lieder zum Staubsaugen“) ablehne. Gerade erst so – durch Nichtzugeschnittenheit und Unbedingtheit – kann sie nichtige Alltagsangelegenheiten transzendieren und in Zustände höherer Kostbarkeit dudeln. Als akustische Gelenkschmiere in Lebensaugenblicken von besonderer Tragweite muss Musik jedoch zwangsläufig versagen.

Anders ist es im Kino, wo Musik dem Zuschauer meist vorschreiben soll, was er zu empfinden hat. Gehen Menschen in Kinofilmen auseinander, so hören wir meist Pompöses und Geigenlastiges in Moll (Ich meine hier nicht das „Auseinandergehen“ im Sinne der Gewichtzunahme). Verfolgt eine Person eine andere, so wird in der Regel perkussives Musikmaterial verwendet. In Momenten der Spannungserzeugung wiederum sind häufig experimentelle oder dissonante Klänge zu vernehmen.
Entscheidend zu häufig finden seit den Neunzigern anstelle eines echten Scores auch einfach nur irgendwelche in Vergessenheit geratenen ollen Popsongs Verwendung, die sich hernach häufig einer gewissen Wiederentdeckung – vor allem in den Auflege-Sets mittelorigineller Kneipen-DJs – erfreuen. Allerdings sind mir Kneipen-DJs, die vor kurzem durch einen Filmeinsatz der Vergessenheit entrissene Popsongs abfeuern, immer noch lieber als solche, die nur dissonante Spannungsmusiken auflegen, die beim genüsslichen Bierkonsum eine Stimmung aufkommen lassen, als würden sich Bernard Herrmann und Michael Small gegenseitig durch den Orkus jagen. Hier in Köln gibt es Kneipen, in denen derart überambitionierte Schrägmusikabende verbreiteter sind, als man sich vorstellen mag.

Da ich gerade in Preisverleihungslaune bin, will ich mir an dieser Stelle rasch einen Smoking überstülpen und den Eric Pfeil-Award für den besten zuletzt gehörten klassischen Filmscore an die Sofa Surfers für ihre Musik zu Wolfgang Murnbergers „Der Knochenmann“ verleihen. Gerade in den spannenden Momenten begeistert die Kunst der österreichischen Atmosphäriker durch Präzision und ihre zurückhaltende Stiefschwester Reduktion: Zumeist ist nur eine simple, in die Schneelandschaft des Films geworfene Schlagzeug-Figur zu hören.

Interessant scheint mir in diesem Zusammenhang der neue Jonathan Demme-Film „Rachel Getting Married“ zu sein: Demme (hinter dessen Namen in Klammern meist „Das Schweigen der Lämmer“ steht, ein Brauch, mit dem auch hier nicht gebrochen werden soll) ist ein Mann, der schon häufig das Thema Musik in den Mittelpunkt seiner Filme stellte. Die Talking Heads hat er abgefilmt, Neil Young – und meinen ganz persönlichen Lieblingsmusiker Robyn Hitchcock.
In seinem famosen neuen Film „Rachel Getting Married“ nun denkt er den Dogma-Ansatz unter anderem dahingehend um die Ecke, daß er keinen klassischen off-Soundtrack verwendet, sondern die zu hörende Musik stets im on entsteht. Simpel gesagt: Wenn Musik zu hören ist, wird diese von einem im Film (=auf der Hochzeit) anwesenden Musiker hergestellt. Bei der Hochzeit steht eben eine Hochzeitsband in der Nähe der Torte herum und musiziert quasi live on film. Ein zumindest interessanter Einfall, den man derzeit im Kino bestaunen kann.
Der Bandleader der Hochzeitskapelle ist übrigens wieder Robyn Hitchcock, dessen Platten man alle kaufen sollte, wenn man diese Welt zu einem besseren Ort machen will.

Ach, wenn Jonathan Demme doch meinen letzten Gang zum Supermarkt zu den Klängen der Musik von Robyn Hitchcock verfilmt hätte – es wäre so viel spannender gewesen. So ist nicht viel dabei herumgekommen. Ich werde jetzt den Versuch unternehmen, das Leertrinken eines Wasserglases mit Richard Wagners Walkürenritt irgendwohin zu transzendieren.

Nachtrag: Wenn Sie ein paar Euro für eine hervorragende lebenskluge Songwriter-Pop-Platte übrig haben, investieren Sie das Geld beruhigt in Robyn Hitchcocks neues Album „Goodnight Oslo“.

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