Das Pop-Tagebuch

Das Pop-Tagebuch

Popmusik, so ist verstärkt zu hören, ist ein von der totalen Entwertung bedrohtes Kulturgut. Und wie fast alles, was keinen Wert mehr hat, ist auch

Bei der Sturmflut läuft kein Rock

Welche Platten werden im Frühsommer die Herzkranzgefäße erweitern? Wie wertet man einen langweiligen Fernsehfilm mit der falschen Musik enorm auf? Und wer ist Dent May?? Außerdem: knallharte Ausgeh-Recherche. Alles in Eric Pfeils aktuellem „Pop-Tagebuch“.

Indem ich hier neulich dem Silbermond-Gedisse etwas schnöselhaft die Tür wies und das Verfassen von Hass-Tiraden auf die Band als müdeste aller musikjournalistischen Disziplinen geißelte, habe ich mir viel Kritik von Kollegen eingehandelt. Tagelang wurde ich, sobald ich mich einer rauchend beisammen stehenden Musikjournalistengruppe näherte, übel gemobbt und getriezt. Größere und stärkere Musikjournalisten schubsten mich unter erniedrigenden Beschimpfungen hin und her, und die anderen klatschten Beifall dazu.

Trotzdem kann ich nicht umhin, daran festzuhalten, dass mir Silbermond zum Ärgern einfach zu doof sind. Ich ärgere mich lieber über interessantere Sachen. Zum Beispiel über den Schlagzeug-Sound auf der neuen Eels-Platte. Mir ist das unbegreiflich: Wie kann man nur eine so gute Platte aufnehmen, deren tolle Songs scheinbar mühelos zwischen verzärtelten Umdeutungen der späten Beatles und rüdem Blues-Punk oszillieren, die aber über  einen Trommelklang verfügt, der an den Tag zurückdenken lässt, an dem der nasse Pappkarton erfunden wurde.
„Hombre Lobo – 12 Songs Of Desire“ heißt die Platte und erscheint irgendwann im Mai. Da frage ich mich natürlich ein bisschen bange: Darf ich überhaupt schon etwas über die Platte schreiben – oder habe ich mit der allzu frühen Erwähnung gleich schon einen ganzen Arbeitsplatz eines Plattenfirmenmitarbeiters vernichtet? Ich gehe das Risiko einfach mal ein und erwähne hier auch noch gleich, dass die erst für Juni erwartete neue Turner Cody-Platte ebenfalls ganz vorzüglich ist: immer wieder derselbe Song, jedes Mal mit einem anderen schön gereimten Text. Zack! – und schon wieder habe ich der Plattenindustrie durch verfrühte Berichterstattung massiven Schaden zugefügt. Wie aber sonst soll man einem Pop-Blog einen progressiven, allem vorauseilenden cutting edge-Appeal verleihen als durch das frühe Ankündigen noch unveröffentlichter Spitzenprodukte? Vielleicht indem ich übers Ausgehen schreibe. Ausgehen und Pop, das gehört schließlich zusammen wie Doofgucken und Flip Flops.

Seit ich diesen aufreibenden Blog hier mit Inhalt fülle, muss ich natürlich viel mehr ausgehen. Um Trends aufzuspüren. Und um im Nachtleben wichtige Impresarios der Popkultur zu treffen, die mir durch den Nebel ihrer Zigaretten Szene-Geheimnisse zuraunen. Ich glaube, das erwartet man einfach von mir.
Gestern habe ich mir also mal wieder einen falschen Bart angeklebt und mich unauffällig unter das Publikum eines lokalen In-Ladens gemischt. Dort stand ich dann unter den  etwas angetagten It-Girls und It-Boys. Schon nach kurzer Zeit hörte ich jemanden das Wort „Krise“ sagen, ein anderer mir entfernt bekannter Hipster sprach gar über die  „Abwrackprämie“. Ich bestellte ein Bier und trank mich in milde Realitätsflucht.

Bei dem betreffenden Etablissement handelte es sich um das Kölner King Georg, ehedem tatsächlich ein Vergnügungslokal von freundlicher Anrüchigkeit. Heute die wohl schönste und verrauchteste Lokalität der ganzen Stadt. Zudem ein Laden mit erlesenem Programm: Oft finden hier auf engstem Raum Konzerte neuer Bands statt, deren  Charme sich nicht zuletzt auch aus einer partykellerhaften Nähe zum Publikum speist. An besagtem Abend trat Dent May auf, ein junger Mann, der mithilfe seines Signatur-Instruments, der Ukulele, sehr schönen Novelty-Pop macht.

Dent May sieht im Grunde aus wie ein Mad Scientist aus einem in den Fünfzigern angesiedelten Achtziger-Film. Allerdings eben wie ein Mad Scientist mit einer Ukulele. Musikalisch gemahnt vieles an den zu Unrecht vergessenen (besser: nie bekannt gewordenen) New Yorker Absurd-Folkie Dogbowl: Dent May rührt aus Fünfziger-Teenie-Songs, Doo Wop, Surf und Autokino-Knutschballaden äußerst mitreißende Novelty-Folksongs an und singt mit beherztem Schmelz übers Trinken, über Peru und über einen Herrn namens Howard, der laut Text eine One Man Show sein Eigen nennt.

May selbst ist nicht allein, neben ihm steht ein junger dezent bärtiger Herr des Typs „junger Mann zum Mitreisen gesucht“ mit allerhand Rasseln und Klöppelgeräten und singt enthemmt die zweite Stimme. „I love you more than I did when you were mine“, jauchzt der kluge Dent May; am Schluss herrscht echte Hauspartystimmung. Ein Abend, so erfreulich, dass ich mir sogar schon recht frühzeitig meinen angeklebten Bart abnehme; die meisten hatten mich ohnehin schon wegen meines funkelnden Umhangs erkannt.
Dent Mays Platte heißt übrigens „The Good Feeling Music of Dent May & His Magnificent Ukulele“. Es handelt sich um eine der besten untergegangenen Platten dieses Frühjahrs.

Apropos Untergehen:
Vor einigen Wochen spülte es mich beim Umherzappen mitten in eine Wiederholung der TV-Gruseligkeit „Die Sturmflut“ mit u.a. Nadja Uhl, Jan-Josef Liefers und Benno Führmann. Ebenfalls mit von der Partei war der eher mild begabte, jedoch umso langhaarigere Gil Ofarim (Sohn von Abi Ofarim), der Nadja Uhls Bruder darstellen sollte und als solcher mit seiner Band einen Auftritt auf der Hochzeitsfeier seiner Schwester zu bestreiten hatte.
Dieser Auftritt geriet zum unerwarteten Höhepunkt meines Fernsehabends. Und zwar deshalb, weil sich bei aller Authentizitätsfreude der Ausstatter offenbar niemand Gedanken über einen passenden Song gemacht hatte. Zur Erinnerung: Die titelgebende „Sturmflut“ trug sich im Jahr 1962 zu; in einer Zeit also, als die Beatles noch keinen Hit gelandet hatten und lange Männerhaare so undenkbar waren wie Porno-Rap. Entsprechend sah denn auch alles in dem TV-Film halbwegs nach den frühen Sechzigern aus: Einrichtung, Kleidung, Haare, sogar Benno Führmann.

Als Gil Ofarim und seine beiden Kameraden jedoch ihre Gitarren anschlugen, war es mit der schönen Nachstellerei des Jahres 1962 vorbei. Stattdessen suppte eine klebrige Neunziger-Jahre-Rockballade aus den Fernseher-Boxen: ein Stück, das klang, als hätten sich Bon Jovi, James Blunt und Bryan Adams auf eine gepflegte Selbstparodie im Fußballstadion verabredet. Ich weiß nicht, wer solche Fehler macht, ohne dafür zur Strafe alle Abi Ofarim-Alben auf den IPod geladen zu bekommen, aber die in derlei Produktionen rar gewordene unfreiwillige Komik feierte fröhliche Urständ und mein Abend war gerettet.
Dennoch muss man fragen: Wo ist Dent Mays Ukulele, wenn man sie braucht?