Das Pop-Tagebuch

Unrasierte Rockhörer beim Beobachten unbärtiger Raphörer

Als mein bester Freund Stietenroth und ich vor Tagen mal wieder ziellos und weltmürbe durch unser Viertel streiften, drang plötzlich Lärm an unser Ohr. Ich sage Lärm, und muss doch direkt präzisieren: Es war aus einem portablen Gerät lautstark müllender Para-HipHop, der von uns beiden ohne langes Nachdenken als Musik des wandelnden Brennpunkts und besserverdienenden Sorgenkinds Bushido identifiziert werden konnte. Irgendjemand, wir konnten ihn noch nicht sehen, kam da offenbar mit einem mobilen Musikabspielgerät die Straße entlang gelümmelt und hörte brüllend laut schlechten Außenseiter-Rap-Ersatz. Wir tauschten einen wissend-kulturpessimistischen Blick und dachten vermutlich gleichzeitig:
„Na, da kommt dann wohl gleich so ein grimmig dreinschauender Bursche mit rasierten Schläfen in Unterhemd und Bomberjacke um die Ecke, dem man lieber keine Beule in den portablen CD-Player laufen möchte. Möglich auch, dass er eine dieser blondierten Neo-Kajagoogoo-Frisuren spazieren führt, deren Tragen unter juvenilen Raufbolden derzeit so unerklärlich beliebt ist.“ Zumindest ich dachte dies.

Aber was staunten wir, als wir sahen, was das für ein Zeitgenosse war, der da mit einem, wie wir früher sagten, Ghettoblaster um die Ecke bog. Es war ein eher langzeitstudentisch gekleideter Mann, irgendwo zwischen Mitte und Ende Dreißig. Ein Typ, so schoss es uns durch die Köpfe, der seinem Erscheinungsbild nach zu urteilen ohne weiteres in unseren Kreisen hätte herumlungern können. Da standen wir nun und guckten dümmer, als es Menschen unseres Typs gut tut. Was hatten wir nicht schon alles erlebt: Liebgewonnene Musikgenres hatte man uns entrissen, alte Helden hatten sich zu schlimmen Schandtaten hinreißen lassen, Frauen, denen wir unsere besten Witze erzählt hatten, waren unserer überdrüssig geworden. Doch nichts vermochte unsere Welt je so sehr aus den Angeln zu heben wie dieser Mensch, bei dem Erscheinung und in rücksichtloser Offenherzigkeit zur Schau gestellte Musik-Präferenz auf verstörende Art und Weise auseinanderklafften. Doch während ich noch mühevoll um Fassung rang und versuchte, das soeben Erlebte in mein wankendes Gesellschaftsbild einzusortieren, hatte Stietenroth bereits die einzig mögliche Erklärung parat. „Klare Sache“, sagte er. „Der Typ hat eine Wette verloren“.

Ich glaube, mir ist schon länger nicht mehr so sehr klar gemacht worden, dass sich seit meinem Ausstieg aus der Welt der Wetten die Zeiten offenbar massiv verändert haben. Besser: dass sich die Art des Wetteinsatzes geändert hat. Zu meiner aktiven Wettzeit pflegte man als höchsten Einsatz im Fall eines Wettverlusts das lange zermürbende Stehen lassen und spätere einwöchige Tragen eines Schnurrbartes anzubieten.
„Wetten, dass es WOHL stimmt, dass Angus Young kleiner ist als Kylie Minogue!“, sagte beispielsweise einer. Man hielt dagegen – und Zack! – lief man mit Schnurrbart herum.
Dass aber inzwischen das öffentliche lautstarke Hören erniedrigender Musik als Wetteinsatz gilt, finde ich gut. Denn mit Bartträgerei ist heute niemand mehr zu quälen, da Gesichtsbehaarung längst dem Ruch des Uncoolen entrissen ist.

Kürzlich fragte mich mein 16jähriger Neffe angesichts irgendeiner Rockstar-Fotografie, warum ich mir denn nicht auch mal so einen richtig schönen prallen Bart stehen ließe. Nachdem mein Blick über seinen mir bis dahin an ihm nicht aufgefallenen milden Gesichtsflaum geglitten war, den ich einer seit kurzem in ihm aufflackernden Begeisterung für amerikanische Neo-Hippie-Songschreiber zuschreiben möchte, fand ich recht rasch zu einer Antwort, der es – wie ich fand – nicht an Schnittigkeit fehlte. Ich sagte ihm,  dass ich Bärte nur dann akzeptieren könne, wenn sie der Zwangsläufigkeit eines langen Insel- oder Gefängnisaufenthalts geschuldet seien. Ansonsten fände ich Bärte doof. Ein Bart, so sprach ich weiter, dürfe nicht Ergebnis einer angestrengten modischen Überlegung sein, er müsse schon von Zwangsvernachlässigung in Edmond Dantès-artigen Ausmaßen künden; so eine diffuse Toskana-Unrasiertheit sei also tabu. Aber genau so eine Unrasiertheit trüge ich doch selbst zur Schau, wand mein Neffe ein. Nein, das sei etwas ganz Anderes, gab ich patzig zur Antwort, und bis heute überlege ich angestrengt, worin genau diese Andersartigkeit denn nun genau besteht.

Die beste Erklärung eines Musikers für seinen Bart gab mir vor Jahren mal der rauschebärtige Sänger Devendra Banhart. Er trage einen Bart, weil er eigentlich eine Frau sei und so seine männliche Seite etwas mehr betonen könne. Vielleicht ist das bei mir ja auch so.

Nachtrag:
Wer früher, warum auch immer, einer Eselsbrücke bedürftig war, um sich den Namen des ZZ Top-Schlagzeugers zu merken, der konnte auf den Satz vertrauen: „Der Schlagzeuger von ZZ Top ist der einzige der drei Musiker, der keinen Bart hat, aber Beard mit Nachnamen heißt.“
Eben sah ich eine Anzeige, in der nebst eines aktuellen Fotos eine Deutschlandtournee der Band für den frühen Sommer beworben wird. Und siehe da: Auch Frank Beard trägt jetzt Bart – allerdings einen recht bescheidenen. Künftig muss der Merksatz also lauten: „Der Schlagzeuger von ZZ Top ist der einzige der drei Musiker, der nur einen vernachlässigenswerten Bart trägt, aber so heißt wie die anderen beiden zusammen aussehen“. Wobei es wahrscheinlich popkulturell inzwischen von eher minderem Interesse ist, wo bei ZZ Top die Bärte hängen.

Die mobile Version verlassen