Das Pop-Tagebuch

Das Pop-Tagebuch

Popmusik, so ist verstärkt zu hören, ist ein von der totalen Entwertung bedrohtes Kulturgut. Und wie fast alles, was keinen Wert mehr hat, ist auch

Wegen HipHop heult man nicht

Thema diesmal: Wenn es Köln wird in der deutschen Popmusik. Außerdem: Minderjährige unter der Knute des HipHop, der korrekte Umgang mit den Hörgewohnheiten jugendlicher Kinder, alles über die Zukunft des Death-Rap und die brennende Frage: Wie viele Musiker braucht man um eine Gruppe zu sein? Eric Pfeils Pop-Tagebuch klärt auf.

Mit dem Ansinnen, die Konjunktur durch den gezielten Kauf einer Luis de Funès-DVD anzukurbeln, trat ich vor ein paar Tagen durch das Tor eines großen Kölner CD- und DVD-Fachhandels. Dort ereignete sich etwas Merkwürdiges.

Beim Umherschleichen durch die Gänge wurde ich der durch den weitläufigen Laden dudelnden Musik gewahr. Ungute Musik, wie ich fand. „Nanu, ist denn schon wieder Karneval?“, dachte ich wohl, und wenn ich zu solchen Missfallensbekundungen neigen würde, hätte ich wohl die Stirn gerunzelt und mit den Augen gerollt (oder umgekehrt). Ich hörte eine Quetschkommode (wie man in Köln das Akkordeon nennt), einen jovial rumpelnden Rhythmus, und einen Sänger, der mit kratziger Stimme dazu sang und auf Theken-Raubein machte. Alles klang schlimm nach Kölner Mundartgerumpel – nach Tränen im Kölsch, nach schnurrbärtiger Sentimentalität, lederner Weste und nach dickem Bauch. Es war keine klassische Karnevalsmusik, die da spielte, aber doch zweifelsohne rheinisches Mundartgedudel. Vor Jahren trieb in Köln eine Band ihr Unwesen, die der Meinung erlegen war, Tom Waits-Songs auf Kölsch darzubieten, sei eine durchaus verfolgenswerte Idee. „The Piano Has Been Drinking“ hieß die Band, und sie hat dem Begriff „fieses Kunsthandwerk“ etliche weitere Facetten hinzugefügt. So in etwa klang auch die Musik, die da nun durch das große Fachgeschäft nüddelte.
Dann erschrak ich. Wie angewurzelt blieb ich plötzlich stehen. Mir wurde nämlich schlagartig klar, dass es sich bei der Musik, die meine Missfallensreflexe reizte, um die neue CD meines Helden Bob Dylan handelte, die an eben jenem Tag erschienen war. Ich brach den DVD-Kaufversuch ab und verließ strammen Schrittes den Laden, vermutlich augenrunzelnd und stirnrollend.

Ich mag Bob Dylan immer noch sehr. Aber die Tatsache, dass ich meinen Lieblingsmusiker für ein in eine Lederweste gehülltes Kölschrock-Urgestein halten konnte, hat mich nachhaltig verwirrt. Noch heute sitze ich in Gesprächen oft abwesend da, starre ins Leere, und Freunde müssen mich erst mühsam aus meinen Gedanken reißen. Es sind weniger Gedanken, die um Bob Dylan kreisen, als vielmehr um Populärmusik aus Köln.

Die Verbindung „Köln und Popmusik“ ist als problematisch zu bezeichnen – nicht nur zur Karnevalszeit, wo hier im Schatten des Doms ja Menschen, die sich vorher noch nie gesehen haben, nach diversen Bieren bereitwillig ein Zebrakostüm teilen. Der Grund für die explosive Verbindung liegt darin, dass  Brauchtum und Folklore in Köln nicht wie andernorts von kauzigen Bewahrungsvereinen geschützt werden müssen, sondern sich einer frappierenden Gesundheit erfreuen. Soll heißen: Sogar jene Kölner, die nicht täglich ihre Höhner-Schnauzbärte striegeln und sentimentalen Blickes in ihrer Willy Millowitsch-Autogrammkartensammlung blättern, haben in der Regel kein Problem damit, zu närrischer Musik und lokalen Brauereiprodukten kostümiert durch die Gegend zu springen und Kumpelhaftigkeit zu demonstrieren.
Man ist hier so. Mehr noch: Selbst wenn man hier nicht so ist, wird man irgendwann so.

Auch gibt es Sachen, die so nur in Köln passieren können.
Oft schon musste ich etwa miterleben, wie alternde Showgrößen über die Bühne der Kölner Lanxess-Arena schlichen und routiniert irgendetwas Ranschmeißerisches über die Stadt sagten. „Cologne, you are a great audience“, so etwas in der Art. Häufig wurde ich Zeuge, wie alleine eine solche Erwähnung des Stadtnamens durch den Künstler dafür sorgte, dass das tobsüchtige Publikum sofort mit dem vieltausendkehligen Absingen des Köln-Schlagers „Viva Colonia“ begann. Selbst meine sechsjährige Tochter hörte ich das Lied kürzlich singen. Ich habe ihr sofort Stubenarrest gegeben und ihr mehrere ihrer liebsten Spielzeuge weggenommen.

Wann immer der Kölner – auch außerhalb der Karnevalszeit – unter Zuhilfenahme brauchtümelnder Popmusik die Möglichkeit hat, so zu tun, als sei Karneval, tut er dies auch. In jeder größeren Stadt gibt es bekanntlich alljährliche Laufwettbewerbe, gemeinhin Marathon genannt. Auch in Köln. Allerdings passiert es nur hier, dass die Hälfte der Mitlaufenden Karnevalsorden umhängen hat, als großes Kölschglas oder Flickenclown verkleidet ist oder doch zumindest einen Maikäferhut trägt. Der Sport rückt so ein wenig in den Hintergrund. Köln kölnt, wo es nur kann.

Dass meine Tochter „Viva Colonia“ singt, stimmt übrigens überhaupt nicht. Das habe ich nur erfunden, um den Text persönlicher zu gestalten. Ich bin inzwischen bereit einzuräumen, dass das unseriös war. Meine Tochter schätzt bislang vor allem Abba, Adriano Celentano und die Neo-Swing-Teenager Kitty, Daisy & Lewis. Damit kann ich leben. Was aber werde ich tun, wenn sie in ein paar Jahren damit beginnt, gewaltverherrlichenden Death-Metal oder frauenverachtenden Berlin-Rap (oder umgekehrt) zu hören. Da werden mir die ollen Dylan-CDs wenig nützen.

Ich werde nachsichtig sein müssen. Aufgeschlossener Musik-Fan, der ich bin, werde ich mit ihr die Texte ihrer Lieblingskünstler studieren, ungelenk, aber begeistert auf die Musik tanzen, gemeinsam mit ihr Artikel über ihre Bands lesen, alle Namen der Musiker auswendig wissen und gelegentlich (zumindest bei den gewaltverherrlichenden Death-Metal-Bands) ein besonders keck exikutiertes Gitarrensolo loben.
Gestern brachte ich meine Tochter zur Schule. Als ich sie am Tor verabschiedete, stand da auch eine Mutter mit einem hysterisch weinenden Kind. „Aber Annika“, sagte die Mutter in nervig verständnisvollem Ton, „jetzt wein doch nicht so, du weißt doch, dass du Mittwochnachmittags immer HipHop hast“. Dieser Satz hat meinen Tag gerettet. Es ist alles doch nicht so schlimm. Ich habe vor lauter Begeisterung erstmal eine Death-Rap-Band gegründet, mir die neue Dylan-Platte gekauft, mich in drei Karnevalsvereinen angemeldet und meine Nachbarn zum gemeinsamen Absingen von „Viva Colonia“ in den Garten gebeten.

Nachtrag zum Bart-Blog von vor ein paar Wochen:
Auch Jarvis Cocker, der in den letzten paar Jahren aussah wie eine französische Romanautorin, trägt jetzt einen Bart. Womöglich wird hier es beim nächsten Mal um sein neues Album gehen. Oder um bayrischen Mundart-Pop.

Noch ein Nachtrag:
Soeben kaufte ich mir den neuen Rolling Stone. Beigelegt ist eine CD des Neo-Liedermachers Gisbert zu Knyphausen. „Ach, was ist das denn“, sagt die Kassiererin im Zeitschriftenladen mehr zu sich selbst als zu mir, „Hubert von Goisern?“. Eine Kollegin, die gerade die Zigarettenschachteln hinter ihr einsortiert, dreht sich um: „Hubert von Was? Wer ist das denn?“.
„Ach“, antwortet die Kassiererin, „auch so ne Gruppe, aber die gibt’s nicht mehr, deshalb hat mich das interessiert“.