Das Pop-Tagebuch

Das Pop-Tagebuch

Popmusik, so ist verstärkt zu hören, ist ein von der totalen Entwertung bedrohtes Kulturgut. Und wie fast alles, was keinen Wert mehr hat, ist auch

John, Paul, George und Ingo

Jugend fotografiert – aber warum immer auf Konzerten? Dazu die Frage: Wird der Applaus auf Live-Alben immer leiser? Außerdem in Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Wie die Gründung einer Band aus gesellschaftskritischen Motiven gelingen kann, ohne von Rockstars verklagt zu werden, die mit Nachnamen Anderson heißen.

So langsam werde ich zu jung für den ganzen Quatsch mit der Rock- und Popmusik.
Eine Erkenntnis, die mich beim vom Radiosender 1Live veranstalteten Kölner Clubkonzert der Stadion-Punker Green Day im E-Werk befällt. Und zwar weniger anlässlich des allzu muskulösen und sichtlich Fitness-Studio-gestählten Rock-Handwerks der Band, sondern aufgrund all der Menschen in Rock-am-Ring- und Metallica-T-Shirts, die den Abend damit verbringen, unentwegt zu fotografieren und zu filmen, als gelte es den ersten Schultag seiner Kinder einer desinteressierten Nachwelt zu erhalten. Schlimmer noch: Nicht nur, daß die ganze Konzertzeit mit Filmerei und Knipserei verbracht wird –  jedes Bild wird auch sogleich ausgiebig begutachtet und herumgezeigt, während vorne  munter weiter musiziert wird. Auch beliebt ist es, den Partner so vor der im Hintergrund umherspringenden Band abzulichten, als handele es sich bei dieser um einen dekorativen Wasserfall, eine Baulichkeit, einen bronzefarbenen Stillsteh-Artisten in der Fußgängerzone oder einen lustig geformten Gesteinsklumpen.
Selbst aus dem munter durch die Gegend fliegenden Pogo-Mob recken sich noch filmende Arme empor, aber irgendein Depp wird sich das verwackelte Zeug schon anderntags auf youtube anschauen. Mich wundert das: Wie wenig kann man bitte im Moment sein wollen? Ich finde es zugegebenermaßen auch spannender, während eines Green Day-Konzerts die Wand anzugucken oder an Polynomdivision zu denken (was ich nicht tue, da ich mich berufsbedingt dazu nicht berechtigt fühle). Aber diese jungen Filmamateure hatten doch schließlich im Gegensatz zu mir Eintritt bezahlt, nur um hier nichts mitzukriegen.

Gegenüber im Palladium konzertiert zeitgleich zum Green Day-Konzert der durch nächtliche Dauerwerbesendungen gefürchtete Kirmesschlagersänger Michael Wendler (Downloadtipp: „Sie liebt den DJ“). Gedankenverloren streiche ich mir durch meinen langen schlohweißen Bart. „Ob bei Wendler auch soviel fotografiert und gefilmt wird?“. Wahrscheinlich nicht. Aus irgendwelchen Gründen habe ich das Gefühl, daß die Fans des Stimmungssängers dem Auftritt ihres Idols eine höhere Wertschätzung entgegenbringen.
Wenn ich die irre systemfeindliche und konsumkritische Arena-Rockband Green Day wäre, würde ich meine Zuschauer auffordern,  auf der Stelle alle Handys und Digitalkameras auf den Boden zu schmeißen und als Zeichen der Selbstbestimmung zu zertrampeln. Aber zum Glück bin ich nicht Green Day, denn dann wäre ich über und über mit Quatsch tätowiert. Hierin dürfte vermutlich – neben des geringeren Fotografieraufkommens – auch der Hauptunterschied zum Michael Wendler-Publikum gegenüber liegen: Volksnahe Kirmesmusik macht der auch, aber er hat weniger Tätowierungen.  

Die irre punkigen und sicherlich auch ganz toll auf dem Boden gebliebenen Green Day aber nehmen keinerlei Anstoß an der elenden Filmerei. Da muss ich wohl selbst eine Band gründen, denke ich mir, während ich zum bauchigen Gerocke von „American Idiot“ von meinem Zivildienstleistenden gestützt langsam mit meiner Gehhilfe zum Ausgang schiebe. Und wenn es nur ist, um meinem Publikum das Geknipse zu untersagen.
Notgedrungen müsste ich mit dieser Band aber auch Musik machen, das versteht sich. Einen Song habe ich gerade schon geschrieben, vermutlich wird es eine B-Seite. Das Stück heißt „Josie, wir können unsere Liebe nicht auf unserer gemeinsamen Begeisterung für Autos aufbauen“. Mir ist nämlich aufgefallen, daß es früher im deutschen Pop tollere Namensnennungen gab. Heute heißen Leute in deutschsprachigen Popsongs meistens „Bettina“. Früher, in den Siebziger Jahren etwa, hatten die Menschen in Schlagern Namen wie „Josie“ oder „Rocky“. Dem Alltag entsprach das zwar nicht unbedingt, aber warum bitte sollte Pop-Musik auch dem Alltag gerecht werden?

Natürlich müsste die Band auch einen Namen haben. Nichts zu Kompliziertes, das mag ich nicht bei Bandnamen. Ich denke momentan an so etwas wie „The No“. Ist aber vielleicht etwas negativ. „The Yes“ geht aber nicht, weil ich es mir derzeit unmöglich leisten kann, wegen Namensähnlichkeit von Jon Anderson oder sonst irgendeinem Altstar des Progressive Rock verklagt zu werden (Auch „Jethro Tull“ scheidet aus, denn von dem notorisch auf einem Bein herumstehenden IAN Anderson, mit dem ich JON Anderson häufig verwechsle, möchte ich auch nicht verklagt werden).
Dann vielleicht besser „The Ja“ – in England gelten deutsche Wörter ja immer noch als chic. Auf jeden Fall müsste es ein simpler, aber auch etwas dämlicher Name sein. Als ich vor anderthalb Wochen beim Konzert der sympathischen Werftarbeiter-Popband Glasvegas stand, fiel mir nämlich auf, daß erfolgreiche Bands meistens unglaublich dämliche Namen haben: The Beatles, The Rolling Stones, Oasis, Glasvegas, Silbermond, die Flippers. Allzu interessante Namen wirken dagegen oft studentisch.

Apropos The Beatles. Eben begegnete ich mit meiner sechsjährigen Tochter einem gemeinsamen Bekannten namens Ingo.
Als wir uns von ihm nach kurzem Gespräch wieder verabschiedet hatten, fragte meine Tochter: „Der hieß ja wie der von den Beatles.“
„Nein“, sagte ich. „Nicht Ringo – der gerade hieß Ingo“.
„Ach, ist doch fast dasselbe“.

Ich finde, der zuletzt nur noch selten an Kinder vergebene Name Ingo wird durch diese klangliche Ähnlichkeit tatsächlich enorm aufgewertet. Ich habe sogleich eine A-Seite zur bereits erwähnten B-Seite geschrieben: „Ingo, du und ich können, wenn wir ganz fest daran glauben, diesem Unsinn mit der Knipserei auf Konzerten ein Ende machen“.

Wird eigentlich auf Konzerten weniger geklatscht, seit alle die ganze Zeit mit technischem Gerät herumhantieren? Ich werde mir zu diesem Zweck mal zwei Live-Alben im Direktvergleich – eins aus den frühen Achtzigern und eins von heute – anhören und demnächst darüber berichten. Sie werden mit mir übereinstimmen, daß es enorm wichtig ist, daß endlich mal jemand so etwas recherchiert. Außerdem ist auf diese Art – wenn auch nur vorübergehend – ein weiterer alternder Musikjournalist weg von der Straße

Nachtrag:
Meine Band heißt seit gerade und bis zum nächsten Blog-Eintrag  „Die Ingo Anderson Band“. Ich glaube, wir machen Bluesrock.