Ein Freund ruft an.
Er sei auf den 8. Geburtstag seines Neffen eingeladen, und das Kind wünsche sich von seinem Onkel eine CD mit Musik, die der Onkel ganz toll findet. Nun stehe er im Saturn herum und frage sich, welche CD er denn einem 8jährigen schenken soll.
„Sportfreunde Stiller vielleicht?“, fragt er.
„Oh Gott, nein!“, höre ich mich brüllen.
„Warum nicht? Die sind doch nicht schlimm.“
„Wahrscheinlich sind die sogar höllisch sympathisch, und man kann ihnen sicher auch bedenkenlos die eigene Playmobilsammlung zur Beaufsichtigung anvertrauen. Aber darum geht es nicht. Sagtest du nicht, dein Neffe hätte sich Musik gewünscht, die du toll findest?“
„Ich finde, die Sportfreunde Stiller sind eine gute erste Band, mit der ein sehr junger Mensch auf den Weg gebracht werden kann“, sagt der onkelnde Freund onkelnd.
„Genau das ist wohl das Schlimme an den Sportfreunden Stiller“, murmele ich weltmürbe.
„Was genau?“
„Daß sie Musik für Menschen machen, die gerne noch minderjährig und nicht haftbar wären. Das ist Sesamstraßen-Rock.“
„Ok, wie wär’s dann mit Fettes Brot?“.
Ich lege auf.
Dann komme ich mir mies vor und rufe den Freund zurück. Ich entschuldige mich und verbringe noch etwa eine halbe Stunde damit, ihm am Telefon vermeintlich kindgerechte Musiker wie Wir sind Helden, Juli, Pohlmann, die Toten Hosen usw. auszureden.
Ich finde die Meinung, junge Menschen müssten, bevor sie echte Musik hören dürfen, zuvor durch das Portal der nichtsnutzigen Lümmelmusik schreiten und ihre Kinderzimmer mit angestrengtem Infantil-Gerocke bedudeln, sehr seltsam. Ich glaube nicht, daß man im Dienste junger Hörinteressen um die Ecke der kalkulierten Kindgerechtheit denken muss. Es ist ganz simpel: Man kann direkt mit richtiger Musik anfangen: Die Jackson 5, die Beach Boys, Abba, die Ramones, die Girl Groups der frühen Sechziger oder die Beatles haben Unmengen großartiger Musik aufgenommen, die jeder Mensch von 8 bis 88 – um mich der Ausdrucksweise von Ravensburger-Spiele-Verpackungen zu befleißigen – begeistert hören und dazu ekstatisch und unter feurigen Windungen die Tanzsohlen klappern lassen kann.
Am Ende rate ich meinem Onkel-Freund zu den Beatles. Generell rate ich der Welt zu den Beatles. Die Musik der Beatles ist wunderbare Erübrigungsmusik: Sie erübrigt fast jede andere Musik.
Im Zusammenhang mit dem Anruf meines auf dem glatten Parkett des strategisch motivierten Musikschenkerei gestrauchelten Freundes fiel mir wieder ein, daß ich mich tatsächlich brüsten kann, als erste Platte ein Beatles-Album besessen zu haben. Es war das so genannte „Weiße Album“, das ich circa achtjährig im größten Supermarkt (!) meiner Heimatstadt Bergisch Gladbach erstand. In der Platte befanden sich eine riesige Collage und vier Poster mit den Köpfen der damals in arge Haarexperimente verstrickten Musiker. Ich erinnere mich, daß ich damals Ringo am meisten mochte, der auf dem Poster wie ein italienischer Dandy aussah.
Drei Jahre nach dem „Weißen Album“ spielte Ringo Starr übrigens in einem bizarren Italo-Western namens „Blindman“ einen mexikanischen Bösewicht; der Held des Westerns, ein blinder Revolverschütze, der von Tony Anthony dargestellt wird, rennt den ganzen Film über durch die Gegend und sagt an wechselnden Orten immer wieder den Satz „Ich will meine 50 Weiber“, was sich dadurch motiviert, daß er beauftragt ist, fünfzig Frauen zu einer Bergarbeitersiedlung zu eskortieren, die ihm jedoch von mexikanischen Banditen gestohlen wurden. Ringos Rollenname lautet übrigens Candy.
„Candy“ lautete auch der Titel des Films, den Ringo Starr im Entstehungsjahr des „White Album“ mit seiner Anwesenheit verseltsamte. Auch dort gab er – an der Seite von Marlon Brando als Psycho-Guru – einen Mexikaner, genauer gesagt: einen mexikanischen Gärtner. Ich muss hier betonen, daß ich mir das alles nicht ausdenke. Die Welt sollte meiner Meinung nach besser über das Treiben Ringo Starrs ab 1968 im Bilde sein.
George Harrison, das weiß ich auch noch, mochte ich damals am wenigsten, was sich später, nach der Erkenntnis, daß von ihm einige der besten Beatles-Songs stammten, ändern sollte (Es darf jedoch auch nicht verschwiegen werden, daß Harrison ein paar der nervigsten Beatles-Songs geschrieben hat, vor allem die elenden Sitar-Zirpereien der um-1967-Phase). Was Lennon und McCartney anbelangt, wünschte ich mir damals, Lennon hätte das Gesicht von Paul McCartney und umgekehrt. Was das bedeutet, weiß ich nicht.
Meine erste Single aber war noch eindrücklicher als mein erstes Album. Nicht nur für mich.
Ich war im 3. Schuljahr, als meine Klassenlehrerin, eine mild-emanzipatorische, sichtlich linken Polit-Kuscheligkeiten zugetane Frau mit Jean Seberg-artiger Kurzhaarfrisur, alle Schüler bat, doch ihre Lieblingssingle mit in den Musikunterricht zu bringen.
An jenem Tag war die Stimmung entsprechend gut. Ein Kind nach dem anderen durfte seinen Lieblingshit auf den auf dem Lehrerpult platzierten Plattenspieler auflegen und der großäugig dreinblickenden Hörerschar das Stück präsentieren.
Zu Gehör gebracht wurden etwa Stücke wie Raceys „Boy Oh Boy“ oder „Gimme Gimme Gimme Gimme Gimme Your Love“ von den Teens.
Dann kam ich. Meine Wahl war auf „50 Tricks die Liebste loszuwerden“ von den Gebrüdern Blattschuß gefallen, die eingedeutschte Blödel-Version von Paul Simons „50 Ways To Leave Your Lover“. Wo aber bei Simon sanfte Ironie und gebrochene Bitterkeit regierten, wurde bei den Gebrüdern die Zoten-Keule geschwungen. Mir war das nicht so recht klar, mir gefiel vor allem der Schlagzeugpart. Doch als die Gebrüder Blattschuß zum ersten Refrain anhoben, verzog sich das Gesicht der freundlichen Jungsozi-Lehrerin zu einer Kathedrale der Abscheu. Der Refrain, in welchem die Blödel-Titanen, nachdem sie in der Strophe schlawinerisch eher schöngeistig verbrämte Töne angeschlagen hatten, die tatsächlichen Methoden des Loswerdens im Wechselgesang vorschlugen, ging so:
„Hau ihr aufs Maul, Paul
Gib ihr `nen Tritt, Pit
Beiß sie ins Bein, Hein
Mensch, seif sie ein
Vergrab sie im Forst, Horst
Schieß sie zum Mars, Lars
Sei mal brutal, Karl
– hart wie Stahl“
Die Ironie des Liedes ignorierend, wurde ich von der Lehrerin in unvergesslich erniedrigender Weise vor der Klasse gemaßregelt und galt in der Folge als Outlaw. Einen Schulhof-Desperado hatte die ehedem freundliche Lehrerin mit der feschen Frisur aus mir gemacht – und das nur, weil sie meine ironische Musik nicht verstanden hat.
So lernte ich schon früh die subversive Kraft der Popmusik kennen. Und wie sie verkrusteten Gesellschaften – um es mit einer häufig im Umfeld des Kabaretts verwendeten Phrase zu sagen – die Maske herunterzureißen, ach was, womöglich gar den Spiegel vorzuhalten vermag. Denn wichtig an oben geschilderter Episode ist doch vor allem dies: Nicht die Rockmusik hat mich von der Gesellschaft entfernt, sondern das Unverständnis eben dieser Gesellschaft gegenüber meinen Vorlieben.
Ansonsten wünsche ich mir ganz dringend einen möglichst unkindgerechtes deutsches HipHop-Stück, in dem der nur knapp der Kriminalität von der Ladefläche gefallene, im Herzen aber breiweiche Rapper Candy immer wieder fordert: „Ich will meine 50 Weiber“. Ach, gibt’s schon? Na gut.