Dass ich länger nichts geschrieben habe, hat einen schlichten Grund:
Die Bloggerei verlangt mir einiges ab.
Ich zeige nur noch geringe Anzeichen von Durchblutung.
Auch das mich betreuende Ärzte-Team sagt, ich müsse kürzer treten. Ich dürfe mich nicht länger so im Dienste der Popkultur verschwenden.
Doch obwohl es im maroden Gebälk der Musikindustrie bedrohlich knirscht und man allerorts in alte Weezer-Promotassen aus den Neunziger Jahren weint, wird weiterhin veröffentlicht und gefeiert, dass es nur so dampft. Und auch mein berichterstatterisches Pflichtgefühl kennt keine Grenzen.
Den Mittwochabend verbringe ich damit, auf dem Radiokonzert der Nervenzusammenbruch-Popper Placebo interessierten Menschen im Weg herumzustehen.
Seinen Höhepunkt erreicht der Abend allerdings schon um halb neun. Doch niemand sonst interessiert sich für die drei Männer, die zu jener Stunde die Bühne des Gloria-Theaters in Köln betreten und sich an Gitarre, Bass und Schlagzeug platzieren. Dabei gibt das Trio ein prachtvolles Bild ab: Der Gitarrist ist ein kräftiger Metal-Koloss, dem man lieber keine Schramme ins Instrument machen möchte; der Schlagzeuger trägt eine Rockabilly-Frisur, die er mit einem beachtlichen Rauschebart kombiniert, und der Bassist ist ein grauhaariger Herr mit Kassengestell, über dessen Bauch sich ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Die Rebel Scum“ spannt. Schade eigentlich, dass die drei gar keine Musik machen, sondern nur ein bisschen an den Instrumenten herumdrehen und – im Saal kaum hörbar – Laute wie „Tscha!“ oder „Sssssssst“ ins Mikro zischen. Und schade, dass nicht traditionell einfach die Roadies der jeweiligen Band vor dem Konzert zwei, drei Stücke ungezwungener Freizeitmusik spielen dürfen. Statt einer Vorband zum Beispiel. Man sollte das dringend überdenken. Zumindest im vorliegenden Fall hätte es interessant werden können, was die drei Männer zuwege gebracht hätten. Auf jeden Fall etwas Besseres als der übliche Vorgruppen-Mumpitz. Um drei nach neun kommt dann die echte Band auf die Bühne, spielt ihren geschminkten Effektgeräterock, und das Geschrei ist groß.
Eine Woche zuvor weile ich undercover auf der Comet-Verleihung. Um nicht erkannt zu werden, habe ich mich als das Schlagerduo Rosenstolz verkleidet.
Bei der Sitzsuche auf der Tribüne stelle ich zunächst erstaunt fest, dass sich mein Platz gleich neben der „transsexuellen Entertainerin“ (wikipedia) Lorielle London befindet, die aussieht, als würde sie heute Abend noch in einem italienischen Endzeitfilm mitspielen, was vermutlich nicht ganz auszuschließen ist. Meine Aufmerksamkeit ist jedoch schon bald völlig von dem großartigen Anheizer mit der Glitzerjacke gefesselt, dessen hörbares Begehren darin besteht, den Saal in die totale Hysterie zu peitschen: „Ihr seid me-ga-geil, aber nachher müsst ihr noch lauter sein“, brüllt er, und seine Stimme überschlägt sich. Manchmal kreischt er auch „Hammergeil macht ihr das!“. Ich wusste gar nicht, dass junge Menschen noch altertümliche Neunziger-Jugendfloskeln wie „hammergeil“ verstehen – aber die vor der Bühne eingepferchten Kinder krakeelen, als würden sie mit kaltem Wasser abgeduscht.
Vorne, am Rand der Absperrung, stehen einige, die keine Hand fürs Handy frei haben, weil sie ein Transparent halten müssen. „Jimi, wenn du da bist ist alles perfekt“, steht auf einer an den charismatischen Lauselümmel Jimi Blue Ochsenknecht adressierten Pappe. „Wir sind nur wegen Tokio Hotel hier“, erklärt eine andere. Auf einer dritten steht „Oliver Pocher hat einen kleinen Schwanz“.
Der erste Laudator ist H.P. Baxxter. Er beginnt seine Rede mit den Worten „De-de-dep-de-de-de-de-de“ und endet mit „Hier sind die Nominierten – wicked“. Siegreich hervor geht der entweder von sich selbst oder verschnittenem Juxpulver berauschte Schlangenmensch Mark Medlock, der so seltsam und unkontrolliert herumzappelt, dass ich vom Zuschauen seekrank werde. Baxxter zeigt Verständnis und wagt eine Umarmung. Glockenhelles Gekreische.
In der Werbeunterbrechung drückt der blondierte Pausen-Zampano wieder massiv auf die Puderquaste. Er zerrt einen Typen aus Berlin auf die Bühne, der irgendwo gewonnen hat, dass er heute abend hier seine human beatbox-Künste verramschen darf. Wo er schon mal da ist, muss er auch gleich noch als Lichtdouble herhalten – denn: Der Aufgangsapplaus muss noch mal geübt werden. Das war zwar gut eben, das ginge aber sicher noch besser. Der Anheizer hat aus unerfindlichen Gründen eine Aufblasgitarre im Arm, es könnte aber auch ebenso gut eine Sexpuppe sein.
Als nächstes gewinnt die Mädchenanhäufung Monrose irgendetwas; bei der Dankesrede wirken die drei Kinder, als hätten sie soeben einen Erdrutsch und drei Entführungen überlebt.
Auftritt Jeanette Biedermann, die – hierin Heinz Rudolf Kunze nicht unähnlich – mal wieder aussieht wie sie heißt. Sie singt ein Lied über einen Boy, der „material“ ist, derweil unzureichend bekleidete Tänzer mit Leuchtstangen herumfuchteln. Von dem Geld, das in die Leuchtstäbe investiert wurde, so schießt es mir durch den Kopf, könnte ich mir so viele Rosenstolz-Kostüme kaufen, dass es bis ans Ende meiner musikjournalistischen Tage reichen würde.
Ich bin gerade dabei einzunicken, als irgendjemand den Comet in irgendeiner Kategorie an die von mir für einige ihrer Lieder durchaus geschätzten Tokio Hotel verleiht. Die sind allerdings nicht da, ebenso wie Peter Fox und Silbermond. Es scheint, als hätten alle kommerziellen Hochkaräter mutwillig das Land verlassen, um hier nicht dabei sein zu müssen. Immerhin: Es gibt eine Video-Grußbotschaft von Tokio Hotel, die von der halben Halle mit dem Handy mitgefilmt wird.
Im Wegsacken nehme ich noch wahr, wie der Ich & Ich-Sänger die Zeilen „Alle hier sind auf der Flucht/Die Tränen sind aus Eis“ singt. Dann schlafe ich wirklich ein.
Am Schluss rappele ich mich noch mal hoch, nicht nur, weil die transsexuelle Entertainerin“ (wikipedia) Lorielle London Antoß daran nimmt, dass mein Kopf auf ihre Schulter gesackt ist, sondern vor allem, weil der Rapper Snoop Dogg angekündigt wird. Der ist dann aber so zubetoniert, dass er während seines Playbacks vergisst, das Mikro zum Mund zu führen und stattdessen lieber mit dem Rücken zum Publikum eierig umherwippt und die halbnackten Tänzerinnen begafft. Wie sang schon der große Philosoph Mark Knopfler: „Money for nothing and the chicks for free“.
Auf der Aftershow-Party werde ich von einem alternden Elektrotrash-Produzenten mit dem Schlagersänger Michael Wendler verwechselt, was mich – obwohl definitiv dem Umstand geschuldet, dass ich nun zu Tarnungszwecken einen Motorradanzug trage – ein wenig trifft. Es kommt zu einem kurzen Handgemenge, aus dem ich mich durch geschicktes Weglaufen befreien kann.
Ich lerne ein paar interessante Leute kennen, vor allem ältere Männer mit blondierten Iros und Ed Hardy-Klamotten und diverse in teure Lederjacken oder Anzüge geklemmte Techno-Greise (wobei die meisten davon sicher auch nur getarnte Undercover-Autoren wie ich sind). Eine Frau im orangefarbenen, hinten ausgeschnittenen Kleid trägt einen auf den Rücken tätowierten Satz spazieren: „Jede Veränderung beginnt in uns“.
Das Catering auf der Party wird von McDonalds (!) besorgt, was man konsequent, peinlich oder „hammergeil“ finden kann. Auf dem Dancefloor läuft ununterbrochen der Faithless-Hit „Insomnia“. Womöglich läuft er in Wirklichkeit kein einziges Mal, aber alles, was die DJs hier an Afterwork-Genüddel auffahren, klingt wie „Insomnia“.
Um zwei Uhr rutscht mir der Kopf aufs Kinn, ich bin müde und will, dass meine Eltern mich abholen. H.P. Baxxter begrüßt immer noch strahlend allerhand Leute, die er womöglich gar nicht kennt. Ich gehe. Beim Verlassen des Saals läuft „Insomnia“ von Faithless. Am Ausgang warten immer noch großbrüstige F-Prominenten auf mitleidige Fotografen. Die Tränen sind aus Eis. Doch jede Veränderung beginnt in uns.
Auch morgen werde ich wieder nicht zur Ruhe kommen. Da spielen die Roadies der berühmten Cholerikerband Metallica irgendwo das Lebenswerk von Stefanie Heinzelmann nach. And you don’t stop.