Das Pop-Tagebuch

Deutschrock im psychedelischen Herbst: Westernhagen, Dschinghis Kahn, Udo Jürgens und die Flaming Lips

Der Herbst gibt sich schamlos. Sprühregen benetzt grimmige Gesichter, allenthalben bilden sich gefährliche Schmierfilme, und übergroße Laublappen wehen tolldreisten Fahrradfahrern hinter die Brillengläser. Letzteres freilich nur, sofern besagte Radfahrer Brillen tragen.

Solch trivial-jahreszeitliche Betrachtungen sind als Einstieg in einen Text natürlich nur dann zu dulden, wenn sie irgendwohin führen. Diese hier führt in die schützende überdachte Wärme eines Ausgehclubs. Im so schummrigen wie schönen King Georg zu Köln spielen Nite Jewel aus Kalifornien – zwei Frauen, die beide ungefähr je anderthalb Meter groß sind und – als wollten sie diesen Eindruck noch unterstreichen – übergroße Keyboard-Burgen vor sich errichtet haben. Die Musik der sympathischen Damen hört sich an, als hätte David Lynch ein Achtziger-Pop-Duo gegründet, was womöglich gar keine so schlechte Idee wäre. Der Gesang spukt hallbeladen durch entlegene Zauberwälder, und die Synthesizer zirpen wie Insekten aus Ländern, die man wohl ohne Impfschutz besser nicht bereisen sollte.

Nach dem Konzert falle ich vor die Tür und begegne Marius Müller-Westernhagen, beziehungsweise seinem übergroßen Konterfei, das im Rahmen einer Werbung für die Bildzeitung auf einer Säule prangt. Westernhagen macht dort mal wieder das, was er seit einigen Jahrzehnten meistens macht, nämlich alles falsch. „Bild, kritikfähig? Oder ist das hier nur Werbung“, dichtet er diffus für die aktuelle Kampagne des Blattes. Welche Kritik er genau äußern möchte, schreibt er nicht, aber das öffentliche Auftauchen auf zig Litfasssäulen nimmt er natürlich gerne als Vorab-Promo für sein demnächst erscheinendes neues Album mit. Deutsche Synergie.
Da Westernhagen ja so etwas wie das überdimensionierte Wattepad unter den weichen Zielen der Popkritiker-Häme darstellt, möchte ich hier  ein zartes Länzlein für seine mittlere Phase (die erste Hälfte der Achtziger) brechen: Damals spielte er recht gut den unseriösen Lederjacken-Schwerenöter und sang mitunter hübsch zotige Lieder, in denen zu robustem Proll-Rock allerhand Frauen mit schon damals altertümlichen, wenngleich schönen Namen aufliefen: „Rosi“, „Margarete“, Hilde“ oder „Lulu“ hießen die Frauen bei Westernhagen. Ein Stück nannte er gar „Gieselher“, es ging wohl um Homoerotik. Einmal machte er sogar mit allerhand Drumcomputern und dem Trio-Gitarristen Kralle Krawinkel ein richtig gutes, weil völlig exzentrisches Pseudo-New-Wave-Album namens „Die Sonne so rot“. Dann redete ihm jemand ein, daß es womöglich eine gute Sache sei, Deutschlands oberster SPD-Rockstar zu werden. Und wie es der SPD heute geht, ist ja bekannt.
Nebenbei: Den albernsten Frauennamen, der je in einem Deutschrocksong erwähnt wurde, leistete sich übrigens der in den letzten Jahren erfreulich zurückhaltende Klaus Lage. „Tante Lu“ nannte er einen Song seines Albums „Schweißperlen“ (ja, so hießen damals in den Achtzigern erfolgreiche deutsche Platten). Das Stück handelte von seiner Masseurin und gipfelte in der Zeile „Deine Massage ist der Clou/Tante Lu“ Ich denke mir das nicht aus!

Von so viel Deutschrock im öffentlichen Raum verängstigt, betreibe ich aktiven Rückzug ins Private und werfe in der Sicherheit meiner Wohnung den Fernseher an. Auch dort kennt man vor lauter Pop kein Halten mehr: Udo Jürgens feiert im ZDF seinen 75. Geburtstag. Leider lässt es sich neben Alfred Biolek und Genscher auch die wandelnde Unbegreiflichkeit Dr. Eckardt von Hirschhausen nicht nehmen, meinem ersten popkulturellen Helden zu gratulieren. Und so muss sich Udo Jürgens von dem TV-Shootingstar erklären lassen, daß er ja gar kein Schlager-, sondern ein Chansonsänger sei. Jürgens nickt.
In der ARD wiederum bejubelt man in einer seltsamen Mischung aus Bildzeitungspatriotismus und RTL-Chartshow-Enthemmung „Die schönsten Hits der Deutschen“: Kim Fischer und Jan Hofer staksen zu diesem Zweck mit einer Jukebox im Schlepptau durch hiesige Kulturlandschaften und spulen eine eindrückliche Voting-Liste ab. Ich schalte ein bei Platz 12: „Über den Wolken“ von Reinhard Mey. In kurzen Einspielfilmchen äußern sich kompetente Auskunftsgeber zu den jeweiligen Liedern, darunter Friederich Nowottny, schon wieder Genscher, der mit Märchenonkelstimme parlierende Norbert Blüm, aber auch Dieter-Thomas Heck und Götz Alsmann.

Die Plätze 11 – 5 seien hier im Schnelldurchlauf wiedergegeben:

11. „Männer“ – Herbert Grönemeyer
10. „Wind Of Change“ – The Scorpions
9: „Ein Stern (der Deinen Namen trägt)“ – DJ Ötzi
8. „Viva Colonia“ – De Höhner
7. „Dschinghis Kahn“ – Dschinghis Kahn
6. „Du hast mich tausendmal belogen“ – Andrea Berg
5. „54-74-90-2006″ – Die Sportfreunde Stiller

Als Bernd Stelter zu letztgenanntem Song der Ausruf „Ein geiles Lied!“ aus dem Mund purzelt, muss ich wegschalten. Lustiges Land, dieses Deutschland, mal im Auge behalten. Unvergesslich bleiben jedoch die Kommentare zweier anderer Prominenter. So zeigte sich Uta Ranke-Heinemann (!) anlässlich Grönemeyers „Männer“-Song sichtlich entrüstet: Sie verstehe nicht, wie „im Land der Dichter und Denker so etwas Erfolg haben kann“. Ich schon. Der verlässliche Karl Dall wiederum sagte zum selben Song: „Herbert Grönemeyer – wir lieben ihn. Bei uns im Heim ist er der Größte!“.

Nun, da der Fernseher verloschen ist, könnte man ja glatt Musik auflegen. Wie gut, daß es Neues von der Lieblingsband gibt: Die Flaming Lips, die mich seit etwa 1990 erfolgreich bei meinen Wanderungen durch das Laub des Lebens begleiten, bringen am kommenden Freitag ein neues Album heraus. Beim ersten Hören bin ich halbwegs verstört, denn die Platte bricht mit dem überstrahlten Psychedelic-Pop der letzten Alben, zu dem die Gruppe bei Live-Auftritten mit Konfetti und Luftballons um sich zu werfen pflegte. Stattdessen klingen sie nun, als hätte die Band Can den Soundtrack zu einem depressiven tschechischen Science Fiction-Film aufgenommen. Böse Synthesizer, scheppernde Trommeln, brüllende Epik, monströse Verzerrung, verzagter Gesang und die Untiefen des ganzen Weltraums im Herzen. Da hat sich jemand etwas getraut.

Vor lauter Begeisterung habe ich daraufhin glatt am Sonntagabend den Gastauftritt der Höhner im „Tatort“ verpasst. Nicht schlimm, denn weitere TV-Glanzlichter werfen ihre Schatten längst unter die Augen. Jetzt schon angekreuzt sind die folgenden Termine:

„Jan Hofer und Tante Lu präsentieren: 100 Jahre Gerhard Schröder (Laudatio: Marius Müller-Westernhagen)“.

„Die Flaming Lips und das Kika-Puppenensemble zeigen: Die 20 schönsten tschechischen Science-Fiction-Soundtracks zum Nachbasteln – ein quirliger Kinderthementag für das Balg im Psychedeliker“

und

„Die Band für Afrika singt unter der Leitung von Dr. Eckard von Hirschhausen die schönsten in Vergessenheit geratenen deutschen Frauennamen“

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