Wer glaubt, ein Pop-Tagebuch zu schreiben, bedeute in erster Linie, die Kerze des Hedonismus beherzt an beiden Enden anzuzünden, der irrt. Seit ich diesen Blog hier mit Inhalt fülle, habe ich praktisch jeder Form der Lebensfreude die Tür gewiesen und jage wehenden Haares nur noch von Termin zu Termin. Auch in dieser Woche erzwangen wieder mehrere Großereignisse meine Anwesenheit.
Da war zum einen das Konzert der Felice Brothers am Mittwoch in der Kölner Kulturkirche. Die Felice Brothers sind eine zutiefst von Dylan und The Band beatmete junge Trinkerband aus Upstate New York. Seit diesem Abend ist mir klar: Gäbe es diese Band nicht schon, ich müsste sie wohl eigenhändig gründen. Es ist ein stolperndes Rumpeln, Bellen, Drängen und Eiern, das die Gruppe (drei Brüder, ein Typ namens Christmas und ein Geiger und Waschbrettspieler) produziert und das mal nach dem musikalischen Äquivalent zu einem überschwappendem Bierhumpen klingt – und mal wie das Flennen am Tag danach. Besagter Waschbrettgeiger ist auch der Blickfang der Band. Man muss es tatsächlich gesehen haben: Der Mann ist sichtlich dem HipHop von der Schippe gesprungen, hat aber keine Hemmungen, seine kulturellen Codes innerhalb dieser scheinbar völlig anders gearteten Musik auszuleben. Will sagen: Er tanzt HipHop auf Roots-Rock, was famos aussieht und hiermit dringend zur Nachahmung empfohlen sei.
Eins führt zu Verdutzung: Die Bandmitglieder sind alle sehr jung, das Publikum aber besteht aus rüstigen Ü-40-Konzertgängern, wie sie meistens bei Americana-Konzerten anzutreffen sind. Ich bezweifle hier mal lautstark, wenn auch ohne Beweismacht, daß das im Heimatland dieser Musik auch so ist. Aber vielleicht werde ich ja auch überwiegend von Sechzigjährigen gelesen, die mich für einen Mann im Geiste Frank Laufenbergs und Manfred Sexauers halten (was ich natürlich auch bin). Gegen 23 Uhr falle ich auf die Straße und denke mir: Wenn jede so genannte Americana-Band klänge wie die Felice Brothers, ich würde dieses Genre abonnieren.
Schon am Tag zuvor galt es, die Ausgehgarderobe überzustülpen: Sehr gefreut habe ich mich über die Bekanntgabe des Pop-Nobelpreises am vergangenen Dienstag, der in diesem Jahr nicht an einen millionenschweren Rockstar, sondern an den dänischen Musikkritiker Soren Petersen gehen wird. Petersen, ein zurückgezogen lebender Dandy, hatte die Güte mich zur spontanen Feier dieser Ehrung auf sein Hausboot bei Esbjerg einzuladen, über dem ich mich gegen Abend von dem Musikjournalisten-Hubschrauber abseilte, den ich mir mit zwei anderen Pop-Kritikern für Auslandseinsätze teile. Petersen und ich kennen uns noch aus den Neunzigern von einer Schlägerei, bei der unsere zutiefst unterschiedliche Meinung über das Spätwerk von Prince seinen leidenschaftlichen Ausdruck fand (1999 ahnte man freilich noch nichts von dem tatsächlichen Spätwerk von Prince). Bei meinem Eintreffen auf Petersens Boot herrschte dort bereits eine Stimmung, die mit dem Wort „enthemmt“ nur unzureichend beschrieben ist: Petersen Lieblingsband, das dänische Slowmetal-Oktett The Ø ((, spielte, und der illustren Gästeschar rann der pure Alkohol aus den Mundwinkeln.
Petersen, so die Begründung der Nobelpreisverleiher, sei alleine deswegen zu ehren, weil er in seinen berühmten nur aus einem oder zwei Wörtern bestehenden Kurzkritiken für den Kopenhagener Boten die letzte Muse-Platte als „Dreck“, die letzte Coldplay-Platte als „sämigen Mumpitz“, Rammstein als „Karnevalsband“ bezeichnet und anlässlich der neuen Editors-Platte nur lautstark „Aufhören!“ gefordert hatte. „In einer Zeit, in der Musikkritik nur noch als Werbemaßnahme für die der Nicht-Existenz entgegenschlitternde Phonoindustrie zu dienen scheint“, so die offizielle Begründung, seien Petersens Kritiken „wahre Backpfeifenkonzerte für eine bessere Welt“. Ich finde die Begründung persönlich eher mittelmäßig gelungen, aber wahrscheinlich wurde sie recht schnell geschrieben. Gegen 2 Uhr früh verließ ich die fröhliche Party in mir nicht näher bekannter weiblicher Begleitung. Als der Helikopter mich wieder aufnahm, winkte mir von unten der The Ø ((-Sänger mit seiner einem mittelalterlichen Fallbeil nachempfundenen Gitarre hinterher.
Den vorangegangenen Montag nutzte ich zu mußevollen Betrachtungen.
Woran erkennt man eigentlich, daß man als Popfan in die Jahre kommt? So fragte ich mich, als ich an ebenjenem Tag mal wieder meine prunkvolle Sammlung von Status Quo-Jeansjackenaufnähern sortierte. Seit dem darauf folgenden Abend nun habe ich eine Antwort auf diese Frage, die sicherlich auch anderen alternden Gläubigen am Altar des Pop gelegentlich in den Sinn kommt. Die Antwort offenbarte sich auf einer Geburtstagsfeier.Halbwegs lustlos wurde dort Musik aufgelegt, von rhythmischem Leibeszucken war weit und breit nichts zu sehen. Um dies zu ändern machte ich einen Vorschlag.
Ich sei kürzlich auf einem Konzert des berühmten Animationskünstlers Jan Delay gewesen, berichtete ich. Dieser, so erklärte ich weiter, habe zur allgemeinen Erheiterung von gut 4000 Zuschauern irgendwann lustige Stopptanz-Spiele veranstaltet, bei denen Band und Publikum, sobald die Musik aufhörte, zu Tanz-Skulpturen einfroren. „Au ja! Das machen wir hier auch!“, riefen lauter begeisterte Gesines, Steffis, Ollis und Bernhards durcheinander. Der Gastgeber überlegte kurz, welche Platte er denn zur Untermalung unserer Stopptanz-Sause wohl auflegen könnte. Seine Wahl fiel auf das neue Jochen Distelmeyer-Album, was zunächst zu kieksendem „Jochen!“-Gequietsche der weiblichen Gäste und dann zur Umsetzung des Spieles führte.
Was soll ich sagen: Bald krümmten sich zum besinnlichen Liedgut Distelmeyers lauter Um-die-40-Jährige zwischen umherkrabbelnden Kindern auf dem blanken Laminat einer mittelgroßen linksbürgerlichen Stadtwohnung. Seither weiß ich, woran man erkennt, daß man als Popfan in die Jahre kommt. An Stopptanz zu Distelmeyer. Was Soren Petersen wohl dazu gesagt hätte?? Gut, daß bald darauf die Felice Brothers in die Stadt kamen.