Das Pop-Tagebuch

Das schöne Scheitern der Flaming Lips oder Warum Platten mit Sternzeichensongtiteln besser auf der dunklen Mondseite überwintern sollten

Wer mit fast vierzig Jahren noch eine „Lieblingsband“ hat, der hat vermutlich auch ein Problem. Ein weitaus größeres übrigens als ein Vierzigjähriger, der noch über eine „Lieblingskneipe“ oder einen „Lieblingsclub“ verfügt. Ein vermutlich kleineres jedoch als ein Vierzigjähriger, der regelmäßig ein „Lieblingsrauschgift“ konsumiert. Jetzt hat meine Lieblingsband eine neue Platte gemacht. Sie ist nicht gut. Damit heißt es umzugehen, es stellt Anforderungen an die sittliche Reife, und das ist nicht ohne Reiz.

Meine Lieblingsband, nein, besser: die Band meines Lebens heißt The Flaming Lips. Seit 1990, als sie ihr verbeultes Acid-Punk-Album „In A Priest Driven Ambulance“ veröffentlichte, begleitet diese Band all mein Fühlen, Denken und Handeln. Wie sonst höchstens noch mein anderer musikalischer Held, der Songschreiber Robyn Hitchcock, haben mich die Flaming Lips in allen entscheidenden Phasen des Weltwunderns begleitet, weil sie dem Staunen und der Irritation über das, was man gemeinhin als „Leben und Tod“ bezeichnet, musikalisch Ausdruck verliehen haben.
Natürlich liebe ich die Flaming Lips vor allem wegen ihrer Musik. Wegen Songs wie dem metaphysischen Bubblegum-Pop „Talkin‘ Bout The Smiling Deathporn Immortality Blues (Everyone Wants To Live Forever)“. Oder dem explodierenden Apokalypse-Hit „Psychiatric Explorations Of The Fetus With Needles“. Sie sind mir aber auch darum so wichtig, weil sie für eine Utopie stehen: Mich ergreift es sehr, daß ein Haufen nichtsnutziger, handwerklich allenfalls mitteltalentierter Post-Punks aus Oklahoma zu solch großer Kunst fähig ist.

Die künstlerische Antwort der Flaming Lips auf unsere absurde Existenz auf Erden – die sich bekanntlich niemand selbst ausgesucht hat und die, gerade wenn man auf den Geschmack gekommen ist, zu Ende geht – lautet verkürzt ausgedrückt „Irrsinn“. Sie feiern diesen Irrsinn in ihrer Musik. Es ist fast unmöglich, in einem Text über die Band nicht ihre große Endlichkeits-Hymne „Do you realize??“ zu zitieren, diesen überstrahlten Beach Boys-im-Weltall-Song, der gerne auf Hochzeiten – und Beerdigungen – gespielt wird und der im letzten Jahr zur offiziellen Hymne des Lips-Heimatstaates Oklahoma gewählt wurde:

„Do you realize/That you have the most beautiful face?“, heißt es dort eingangs. Und dann später: „Do you realize/That everyone you know someday will die?/And instead of saying all of your good-byes/Let them know you realize that life goes fast/It’s hard to make the good things last/You realize the sun doesn’t go down/It’s just an illusion caused by the world spinning round“.

Ich hatte einige Male das große Vergnügen, Wayne Coyne, den Sänger der Band, beruflich zu treffen. Popstar-Interviews gehören – ohne falsche Koketterie – nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, da die meisten Musiker ohne umhängendes Instrument schlagartig an Strahlkraft verlieren; aber die Zeit an der Seite dieses freundlichen Bekloppten war ein einziges Jucheisassa: „Nehmen wir mal an“, sagte er beim letzten Interview vor drei Jahren zu mir, „während unseres Interviews käme ein intergalaktischer Schwertkämpfer zur Tür rein und würde dich enthaupten. Das wäre zweifelsohne schrecklich für dich – aber ich könnte einen neuen tollen Song darüber schreiben.“
Dazu fuchtelt er ständig um sich, spricht mit krächzender, sich unentwegt überschlagender Stimme und fixiert sein gegenüber mit durchdringendem Blick. Im einen Moment wirkt Coyne in seinem Dandy-Anzug wie in psychedelischer Sektenführer aus einem T.C. Boyle-Roman, im nächsten erinnert er an den komischen Onkel, der den Kindern beim Familienfest sehr zum Missfallen der übrigen Erwachsenen blutrünstige Abenteuergeschichten erzählt. Meistens aber wirkt Wayne Coyne wie ein wahnsinnig angenehmer, bodenständiger Typ – allerdings ein bodenständiger Typ vom Mars.

Los ging es mit den Flaming Lips  im hässlichen Oklahoma der frühen Achtziger. Die Band war aus einer draufgängerischen Jugendgang – einem „violent cult“ wie  Coyne es ausdrückt -, den „Fearless Freaks“ hervorgegangen, der mit großer Begeisterung Drogen, Sport und Schlägereien zu einer wüsten Freizeitgestaltungsform zusammenführte. In ihren Anfangsjahren begeisterten die Lips noch als lauteste und dilettantischste Post-Punk-Band Amerikas: Ihre Songs hießen „Jesus Shootin‘ Heroin“ oder „Drug Machine In Heaven“, und sie klangen auch so. Bei den pyrotechnisch ambitionierten Konzerten fingen auch schon mal die Haare des Bassisten Feuer, derweil sich Coyne  – inspiriert von „The Exorzist“ – als vom Teufel besessenes Mädchen verkleidete; ein anderes Mal schlossen sie ein Motorrad an die Anlage an und übertrugen das infernalische Knattern zu Stroboskopgeflacker in den Saal.
Danach wurde es zunehmend exzentrisch: Die Flaming Lips führten akustische Experimente mit einem Orchester aus Kassettenrekordern durch, ließen ein Streicherensemble „Brazil“ spielen, nur um dies auf einem Album rückwärts abzuspielen; sie nahmen den Soundtrack für einen Dokumentarfilm über eine bizarre, mit der bloßen Hand praktizierte Art des Fischfangs, das „Ookie Noodling“, auf und veröffentlichten vier CDs, die – mit zutiefst desorientierendem Ergebnis – auf vier CD-Playern gleichzeitig abzuspielen waren. Bei ihren Konzerten tanzen heute Weihnachtsmänner und Außerirdische auf der Bühne, Handpuppen singen metaphysische Popsongs, Konfetti und Kunstblut finden verschwenderische Verwendung, und Sänger Wayne Coyne rollt in einer gigantischen Plastikkugel – der „space bubble“ – über die Köpfe des Publikums hinweg. Zuletzt veröffentlichte die Band einen Lo-Fi-Science Fiction-Spielfilm namens „Christmas On Mars“, der über Jahre hinweg in Coynes Hinterhof entstand und von einem selbstmörderischen Weihnachtsmann und der ersten menschlich besiedelten Mars-Kolonie handelt.
Im Grunde haben die Flaming Lips schon alles gemacht. Nur eins gab es von ihnen noch nicht: ein schlechtes Album. Bis jetzt.

„The Sound Of Failure“ hieß ein Song des letzten Lips-Albums von 2006 – eine Hymne aufs Scheitern. Auf „Embryonic“, nun wird dieser „Sound Of Failure“ geradezu zelebriert: „Embryonic“ ist ein akustisches Monument des Scheiterns. Eine große musikalische Panne. Ein Bauchklatscher auf allerhöchstem Niveau. Beinah bin ich geneigt, mich zu freuen, daß dieser tollen Band auch mal ein Album misslungen ist.
„Embryonic“ markiert für die Band einen dringend erforderlichen Neuanfang. Alleine deshalb, weil die Flaming Lips seit jeher mehr Abenteurerbande als Rockband sind und das Zulassen des Neuen, Ungeahnten ihnen tief eingeritzt ist. Die Platte – als Doppelalbum konzipiert – basiert überwiegend auf Improvisationen und Jam-Sessions. Grundsätzlich ist eine solche Veränderung in Zeiten allgemeinen Sicherheitsrocks und Besänftigungspops ja hocherfreulich. Doch radikale Künstler, die sie sind, gehen die Flaming Lips einen entscheidenden Schritt zu weit: Sie treiben die musikalische Erneuerung in derart abstrakte Dimensionen, daß etwas Entscheidendes auf der Strecke bleibt: der Song. Es gibt keine einzige griffige Melodie auf der Platte; die Stücke haben allesamt das Niveau von Outtakes und B-Seiten.

„Convinced Of The Hex“, der Auftaktsong ist noch halbwegs brauchbar: Ein paar Computer laufen Amok, dann setzt das hämmernde Schlagzeug ein, es folgt Coynes zunehmend zerschlissene Stimme. Der Song klingt in etwa, als hätten CAN in ihrer „Tago Mago“-Phase den Soundtrack für einen deprimierenden  tschechischen Science Fiction-Film aufgenommen. Beim zweiten Stück wird dasselbe Prinzip wiederholt; danach verdaddelt die Platte zunehmend zwischen düsterem Prog-Gewölk und Hanfpflanzenbestrahlungsmusik. Auch das ist ein Problem: Die Flaming Lips lassen auf „Embryonic“ ganz massiv die Artrock-Pfeife kreisen. Das Ergebnis ist verstörender, aufwühlender und fordernder als alles, was unter diesem Banner je produziert wurde, doch das reicht bei einer so großen Band natürlich nicht. Was dabei – neben guten Songs – auf der Strecke bleibt, ist die beseelte Ansprache der Band: Die Flaming Lips kommunizieren auf „Embryonic“ nicht. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß Coynes einst stolz  und mutig über allem thronende Stimme, nunmehr tief im Mix versunken ist. Da hilft es auch nichts, daß er noch mal sein Lieblingsthema, die Dialektik von Gut und Böse, variiert. Schön, daß er überhaupt über diese Dinge singt – aber früher hat er das deutlich zwingender getan.

Man verstehe mich nicht falsch: Nicht die Veränderung ist das Problem, lediglich die Art der Veränderung. Dem Experiment ist lautstark zu applaudieren, ebenso der Risikobereitschaft. Ein paar Songs hätten sie trotzdem schreiben können. Denn gerade weil die Band auf „Embryonic“ intuitiver zu Werke geht, erreicht sie mein Herz nicht mehr. Ja, das ist vielleicht der größte Schock: Ich kann diese Platte anerkennen, aber zum ersten Mal berühren die Flaming Lips mich nicht.

Natürlich gibt es lichte Momente: Mit der Kunstpop-Sirene Karen O spielt die Band eine Art Ode auf die unzähligen Optionen menschlichen Daseins, und ganz am Ende der überlangen Platte gelingt ihnen – ebenfalls unter Mithilfe von Karen O – mit „Watching The Planets“ der griffigste Song. Trotzdem: Diese Highlights wären früher Ausschussware gewesen. Spätestens ab der Mitte dudelt das großartig scheppernd produzierte Album in ein akustisches Weltall, das sich anhört, als hätten es sich zwei bekiffte Comicsammler und ein umstrittener Quantenphysiker auf noch unerforschten Cyberdrogen ausgedacht. Beim in der Mitte platzierten Anti-Song „Powerless“ ist Nomen leider Omen.

Eins ist nicht unwichtig: Wayne Coyne weiß, daß er mit „Embryonic“ womöglich gescheitert ist. Er nimmt es in Kauf, und das macht ihn großartig. Es ist so ähnlich wie mit seiner Stimme. Der englischen Zeitschrift „The Word“ sagt er in einem aktuellen Interview: „I’m not a singer, but people root for me. They like me to try for that unreachable note, and maybe fail in an interesting way“. Das interessante Scheitern – darum ging es stets bei den Flaming Lips. Und darum geht es – zumindest ein bisschen – ja auch im Leben.

Insofern ist „Embryonic“  – und das ist kein Kritikergefasel – eine große Platte. Es ist die Platte einer fantastischen Band, die alles wagt – und die unerreichbare Note nicht trifft. Die Flaming Lips haben eines ihrer zentralen Themen, das Scheitern daran, etwas Großes zu wagen, nun, nachdem es lange Gegenstand ihrer Songs war, auch zum Gegenstand ihrer Musik gemacht. Daß ihnen das Nichtgelingen dieser Platte nichts anhaben wird, liegt an der ihnen eigenen Würde des Wahnsinns. „Früher waren wir eine bekloppte Band, die Monstermusik macht, heute sind wir ein Monster, das bekloppte Musik macht“, sagte Coyne einmal.

Linderung des Irrsinns ist übrigens nicht in Sicht, denn das nächste Projekt steht schon fest: Die Flaming Lips haben – gemeinsam mit Wayne Coynes Neffen und dessen Band und mithilfe von Peaches und Henry Rollins – für itunes die komplette Pink Floyd-Schwarte „Dark Side Of The Moon“ neu eingespielt. Der Wahnsinn geht weiter. Bitte jeder nur einen beträufelten Zuckerwürfel!

Anhang
Die besten Flaming Lips-Platten für Einsteiger:

„In A Priest Driven Ambulance“
„Transmissions From The Satellite Heart“
„Clouds Taste Metallic“
(die drei Meisterwerke der Noise-Pop-Phase)

„The Soft Bulletin“
(Der Konsens-Meilenstein)

„The Fearless Freaks“
(die anrührende und zur Bandgründung anstachelnde Doku von 2005)

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