Viele hundert Menschen – Kinder, Erwachsene und Greise – kommen täglich in meine popkulturelle Ambulanz-Praxis, um Rat zu suchen.
Eine Frage, die ich hier in den letzten Jahren immer wieder gehört habe, lautet: „Welche Musik kann ich noch hören, um mein Umfeld zu provozieren?“
Ich antworte dann immer: „Das kommt auf Ihr Umfeld an, aber Deutschrock und Popmusik mit Mundarttexten findet eigentlich jeder schlimm“. Daraufhin statte ich die Menschen mit CDs von Wolf Maahn und der Spider Murphy Gang aus, und alles Weitere fügt sich. Es ist noch nie jemand zweimal gekommen.
Mich selbst könnte man übrigens provozieren mit: Björk, Radiohead, La Roux oder auch Mika. Bonnie Tyler dagegen finde ich ganz OK, vor allem wegen „It’s Heartache“.
Aber mit Musik kommt man heute ja à la longue nicht mehr weit, wenn man die Verhältnisse einmal so richtig tüchtig durchrütteln will. Um meine Eltern zu provozieren, bin ich daher vergangene Woche in die SPD eingetreten. Jetzt bin ich das erste SPD-Mitglied, das weder Björk und Radiohead, noch La Roux und Mika ertragen kann, gleichzeitig Bonnie Tyler OK findet, dazu Nirvana für maßlos überschätzt hält und zudem bezweifelt, daß es sich noch mal ernsthaft für Van Morrison oder Tom Waits interessieren wird. Vielleicht kann ich ja, falls Tocotronic je ein Zurück-zu-den-Anfängen-Album aufnehmen sollten, für dieses Werk den Song „Ich weiß nicht, ob ich mich noch mal ernsthaft für Van Morrison oder Tom Waits interessieren werde“ schreiben, aber dieser Zusammenarbeit steht jetzt sicher meine SPD-Mitgliedschaft im Weg herum.
Was geschah sonst?
Am Sonntag vor meiner aufrührerischen Mitgliedswerdung war ich zum Essen bei geistreichen Freunden eingeladen. Nachdem alle Teller geleert waren und man ausgiebig abendverlängernden Getränken zugesprochen hatte, kam die Frage auf, was denn nun bitte als nächstes mit dem angebrochenen Abend anzufangen sei. Da man Sonntagabends irgendwie nicht auf die Straße gehen kann, um Autos umzustürzen oder aufrührerische Parolen an die Häuser zu sprühen, verfielen wir auf die Idee, am Küchentisch ein paar Runden „Personenraten“ zu spielen oder wie auch immer das Spiel heißt, bei dem man einander Zettel mit den Namen fremder Personen auf die Stirn klebt, die es für den jeweiligen Zettelträger zu erraten gilt. Kurze Frage in die Runde: Sind Stirnzettel-Personenratespiele am Küchentisch schon gleichzusetzen mit dem „Rückzug ins Private“? Ich bitte um Zwischenrufe.
Zwischenrufer: „Das weiß ich nicht. Aber ich finde von diesem Boden darf nach Tarantinos „Inglorious Basterd’s“ nie wieder ein Stirnzettel-Personenraten ausgehen!“
Anderer Zwischenrufer: „Blöder Nerd-Zwischenruf, wie man ihn in dieser selbstverliebten Abgeschmacktheit echt nicht mehr hören will!“
Erster Zwischenrufer: „Das zeigt mal wieder typisch, wie es um die Debattenkultur in Deutschland bestellt ist. Bestimmte Zwischenrufe gelten von vornherein als abgeschmackt und verboten. Das bringt uns nur weiter in den Hirn-Knast und führt zu keinerlei AUFARBEITUNG!“
Das hat man davon, wenn man die Leute fragt: Alle pöbeln durcheinander und nennen es Debatte. Ignorieren wir das pseudodiskursive Geplärre und fahren fort. Bald klebten Zettel an allen Stirnen, und ein kurzweiliges Spiel nahm seinen Lauf. Ich war einmal der Kafka-Protagonist Herr K., ein anderes Mal Herbert Feuerstein. Ich erriet nur einen der beiden, welchen sage ich nicht. Lediglich ein einziger Popstar-Name kam auf eines Mitspielers Stirn zum Prangen. Es war der Name „Pia Zadora“, und jene Beklebung der tischnachbarlichen Stirn ging auf mich zurück. Warum ich ausgerechnet auf Pia Zadora kam, weiß ich nicht mehr. Ich kenne Frau Zadora lediglich aufgrund des gemeinsam mit Jermaine Jackson zum Vortrag gebrachten Duetts „And When The Rain Begins To Fall“. Ich habe gerade noch mal im Internet nachgeschaut, was sie sonst so getrieben hat – und siehe da: Eigentlich ist sie ja Schauspielerin. Wir hätten also allesamt auf die Frage „Bin ich eine Schauspielerin?“ mit „Ja“ antworten müssen, denn Antworten wie „Joah“, „Auch“, „Mehr so nebenbei“ oder „Mal so, mal so“ weisen den Antwortenden als spielregelunkundigen Plauderonkel aus, der nicht die Disziplin besitzt, nur mit „Ja“ oder „Nein“ zu antworten. Hätte jemand zum Beispiel „Nick Cave“ auf der Stirn kleben gehabt und nach Bejahung der Frage, ob er ein Künstler sei, die Frage „Bin ich ein Schriftsteller?`“ gestellt, so hätten wir auch hier – trotz des Verhältnisses von nur zwei Romanen zu vierzehn Platten als Solokünstler – bejahen müssen und es dem Ratenden auf diese Weise massiv erschwert, zur Lösung zu kommen.
Kürzlich ist Nick Caves neuer Roman „Der Tod des Bunny Munro“ erschienen. Der erste Satz dieses Romans lautet:
„„Ich bin verdammt“, denkt Bunny Munro in jenem plötzlichen klaren Moment, der denen vorbehalten ist, die bald sterben werden.“
Ein guter erster Satz. Nicht so gut wie etwa der erste Satz im „Zauberberg“, aber trotzdem. Der beste Satz im „Zauberberg“ steht allerdings nicht am Anfang, sondern mittendrin. Er bezieht sich auf den polternden Sophisten Naphta und lautet:
„Naphta lachte kurz, mit einer vom Schnupfen sordinierten Stimme, die beim Sprechen an den Klang eines gesprungenen Tellers erinnerte, an den man mit dem Knöchel klopft.“
Vor allem für Musikkritiker ist dies ein faszinierender Satz, seit ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht darüber meditiere, welcher bekannte Sänger wohl so singt wie Naphta spricht. Tom Waits? Nein, da ist der Teller ja schon mehrfach geleimt, wobei es zu bedenken gilt, daß dieses Urteil vom Komponisten des Songs „ Ich weiß nicht, ob ich mich noch mal ernsthaft für Van Morrison oder Tom Waits interessieren werde“ stammt. Wie auch immer: eine tolle Formulierung, vielleicht klaue ich sie ja auch für meinen nächsten Text über Pia Zadora in der Stimmenfachzeitschrift „Voices“.
Eine eigene Formulierung, die ich seit Wochen unterbringen möchte – auch wenn ich in der Schublade herumfliegende Formulierungen, die irgendwann gezückt werden, eigentlich missbillige – lautet: „…klingt wie das „heute journal“ des ZDF aussieht.“ Da ich aber nicht vorhabe, in nächster Zeit etwas über Moby zu schreiben, wird die Formulierung weiter nutzlos herumliegen.
Ebenfalls nutzlos herumliegen muss wohl auch die Vorfreude auf eine besonders bildungsbürgerliche Partie Personenraten, bei der ein Mitspieler, der den Namen „Naphta“ auf der Stirn kleben hat, als letzte Vergewisserung vor dem Sieg fragen könnte: „Habe ich eine vom Schnupfen sordinierte Stimme, die beim Sprechen an den Klang eines gesprungenen Tellers erinnert, an den man mit dem Knöchel klopft?“.
Und so will ich langsam zum Ende kommen, denn vor meiner Praxis wartet ein Heer von Menschen, um sich gegen das Ich & Ich-Album, das Euro-Dance-Revival und das Winter-Konzeptalbum von Sting impfen zu lassen. Eine erfreuliche Entwicklung, denn gerade die Gefahr des Winter-Konzeptalbums von Sting wird unterschätzt. Angeblich will zwar niemand die Platte aus eigenem Interesse kaufen, zu Weihnachten wird das Ding dann aber doch wieder – vermutlich sogar in Kombination mit Konzertkarten – allerhand Müttern unter den Baum gelegt werden. Besser also jetzt schon an die Sting-Winter-Impfung denken, als sich demnächst zu wundern, wer eigentlich diese durchgeödete Ü-50-Musik kauft, die an den Klang eines gesprungenen Knöchels erinnert, an den man mit dem Teller klopft.