Das Pop-Tagebuch

Das Pop-Tagebuch

Popmusik, so ist verstärkt zu hören, ist ein von der totalen Entwertung bedrohtes Kulturgut. Und wie fast alles, was keinen Wert mehr hat, ist auch

Der Junge, der nicht Tocotronic war oder Eine Geschichte aus den Neunziger Jahren

Im Angesicht eines neuen Jahrzehnts erinnert sich Eric Pfeil in seinem Pop-Tagebuch an eine Zeit, die gemeinhin als die Neunziger Jahre bezeichnet wird.

Ich bin eine Jahresanfangsmemme.
In meinen Augen ist der Jahresanfang ein Spielverderber.
Er ist der Kompaniefeldwebel unter den Jahreszeiten.
Ein selbstgefälliger Mistkerl, der mich aus dem wohligen und gütigen Endjahresdümpeln herausreißt und „Aufstehen!“ brüllt. Ein Sadist, der mich unter unentwegtem Knuffen und Schubsen unter die kalte Dusche manövriert und dazu so stumpf und ahnungsarm von „Neuanfang!“ krakeelt, daß ich desertieren möchte.
Doch wie – und vor allem: wohin? Natürlich könnte ich bockig die Arme verschränken und behaupten: „Zeit ist doch nur eine Erfindung von Menschen, die Angst vor zuviel Raum haben“. Aber wer die Zeit leugnet, setzt sich der Gefahr aus, kauzig und weltfremd zu erscheinen. Und so will auch ich mich der allgemeinen Lesart anschließen, Neugierde und Aufgewecktheit vortäuschen, das Gesicht zu einem Mahnmal des Tatendrangs ballen und unter lebensfrohem Auf- und Abhüpfen ausrufen: „Jucheisassa! 2010! Ein neues Jahr! Ein neues Jahrzehnt! Alles geht wieder los!“

Die beiden ersten Meldungen des neuen Jahres, die mich erreichen, sind allerdings wirklich eher finsterer Natur: Erst wird vom Tod Rowland S. Howards berichtet, der mir circa 1988 mit seiner Band These Immortal Souls mal einen tollen Konzertabend beschert hat. Und dann kündigen auch noch die öden Soundgarden ihre Wiedervereinigung an.
Es gibt aber auch Grund zur Freude. Am 22. Januar erscheint ein neues Album der Wunderband Tocotronic, die uns nun schon seit vielen Jahren auf mutmachende Weise vormusiziert, daß man Anders- und Gegendenken in Deutschland äußerst dandy-esk und rätselfreudig praktizieren kann – als coole Verstörtheit, als stilvolle Genervtheit, als eleganten Ekel. Auch auf dem neuen Album. Alleine schon die vorab veröffentlichte Single „Macht es nicht selbst“ lässt mir sturzbachartig die Freudentränen in die Tastatur rinnen.

Wann immer Tocotronic irgendwo auftauchen, muss ich aber auch an eine äußerst unrühmliche Episode meines Daseins denken, die in unmittelbarer Verbindung zu dieser Band steht.
Es muss etwa im Herbst 1994 gewesen sein. Kurt Cobain war ein paar Monate tot, und alle Welt hielt „Pulp Fiction“ für einen tollen Film. Ich spielte damals Schlagzeug in einer so leidenschaftlichen wie erfolglosen Kölner Band, deren Wirken sich darin erschöpfte, selten zu proben, viel Bier zu trinken und oft in den einschlägigen vier Kölner Clubs aufzutreten. Heute weiß ich: Wir hätten mehr proben und weniger auftreten sollen. Das mit dem Biertrinken war, glaube ich, in Ordnung. Aber wir fanden es cool, unambitioniert zu sein. Man war so in den Neunzigern. Unter heutigen Power-Facebookern, frühagilen Netzwerkern und Kampfsport-Twitterern wären wir mit dieser Attitüde vermutlich längst unten durch gewesen, damals aber hielten uns etwa drei Menschen für coole Typen. Das hat natürlich nicht gereicht. Ebenfalls weiß ich heute, daß unser vermeintlich visionärer Ansatz, das musikalische Wirken der Band Pavement mit dem musikalischen Wirken des Ostpop-Sängers und Schauspielers Manfred Krug zu verbinden, zum Scheitern verurteilt sein musste.

Eines Tages jedoch schien unsere Stunde geschlagen zu haben. Eine Freundin hatte uns von der Band ihres Ex-Freundes erzählt. Das Trio mit dem diffus nach elektronischer Schlaumeiermusik klingenden Namen Tocotronic sollte demnächst in Köln spielen, und wir könnten das Vorprogramm bestreiten. Das klang mehr als verführerisch: Endlich durften wir im damals als cooler Laden gehandelten „Underground“ auftreten, und das – da die Hauptband in Hamburg bereits heiß gehandelt wurde und auf einem Mini-Label schon eine Vinyl-Single veröffentlicht hatte – noch dazu endlich mal vor einem Publikum, das mehrheitlich aus Auskennergestalten der lokalen Szene, statt wie sonst nur aus unseren Freunden bestand. Und noch etwas lockte uns: Irgendjemand hatte uns zugeraunt, daß Diedrich Diederichsen, prominentester Redakteur und Herausgeber der Spex, beim Konzert anwesend sein würde, um Tocotronic zu begutachten. Diederichsen war für uns damals so etwas wie der deutsche Lester Bangs. Konzerte in Köln, so schien es uns, fingen grundsätzlich erst an, nachdem er den Laden betreten hatte. Manchmal stand man zwei Meter von ihm entfernt an irgendeiner Theke herum, angesprochen hätten wir ihn jedoch nie – wir fürchteten wohl, er würde uns in ein Gespräch über Kulturtheorie verwickeln, wo wir doch allenfalls mit Kompetenz auf den Gebieten Pavement, Manfred Krug oder Bier hätten punkten können . Doch jetzt, so dachten wir, könnten wir ihn vielleicht mit unserer Kunst überzeugen. Unsere Vorstellungen liefen Amok: Würde Diederichsen uns spielen sehen und – nicht auszudenken – sogar mögen, wir könnten Kölns erste Spex-geadelte Indie-Gitarrenband werden.

Als wir die Tocotronic-Jungs dann beim Soundcheck trafen, stellten sie sich als extrem nette Typen mit guten Frisuren und noch besserem Humor heraus. Ob sie unsere Verstärker mitbenutzen könnten, fragten sie. Wir waren ein bisschen erstaunt über soviel Unpräpariertheit; normalerweise bittet doch eher die Vorband demütig um Mitbenutzung des Instrumentariums. Aber gerne doch, natürlich. Allerdings, so fügten wir hinzu, handele es sich um alte Fender-Röhrenverstärker, ob sie damit wohl klarkämen? „Och, das können wir sowieso nicht auseinanderhalten“, kam die Antwort.

So sympathisch die Jungs waren, so sehr glaubten wir doch, hier eine ziemliche Gurkentruppe vor uns zu haben. Keine Ahnung von Verstärkern – tz, so was! Hängertum – schön und gut, aber das war dann wohl doch ein bisschen zu viel des Egalen. Auch der Soundcheck der Drei deutete eher auf beherzten Dilettantismus hin, so daß wir uns aufgrund solch schwacher Konkurrenz bald – ohne jeden bösen Willen – sicher waren, einen triumphalen Abend in unserer Bandgeschichte vor uns zu haben. Diederichsen, so er denn rechtzeitig käme, würde uns sehen und anderntags in der Redaktion verkünden: „Ganz nett, diese Jungs aus Hamburg, flotte Frisuren. Aber die Vorband: unfassbar! Ich habe die Zukunft des Rock’n’Roll gesehen!“.

Dann kam der Abend – und unser Auftritt. Siegessicher betraten wir die Bühne und spielten drauflos. Und tatsächlich: Vorne, in der ersten Reihe stand mit verschränkten Armen Diederichsen und lauschte. Doch dann geschah das Unfassbare: Beim vierten Song schüttelte der Starkritiker deutlich sichtbar den Kopf, drehte sich um und verließ den Saal. Wir waren fassungslos. Entgeisterte Blicke wurden getauscht. Was war schiefgelaufen? Wir hatten doch drei unserer epochalsten Songs an den Anfang gestellt! Von nun an entglitt uns alles: Wir verpassten Einsätze, vergeigten Song-Enden, und bald plätscherte uns nur noch höflicher Applaus entgegen. An diesem Abend lernten wir, was Demut heißt.

Und wir sahen den Auftritt von Tocotronic. Ein Konzert, das ich vermutlich nie im Leben vergessen werde. Tüchtig betrunken eierten die Drei über die Bühne, der Sänger stand fast ununterbrochen nur auf einem Bein – und die Songs waren so eingängig wie ruppig. „Meine Freundin und ihr Freund“, „Jungs, hier kommt der Masterplan“ oder „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“ hießen diese polternden ungestümen Hits- und sie klangen auch so: wie die Zukunft der Rockmusik. Sogar eine alberne Udo Lindenberg-Coverversion konnten Tocotronic sich leisten. Obwohl wir höchstens zwei, drei Jahre älter waren, kamen wir uns vor wie bierbäuchige Altrocker kurz vor der Balsamierung.

Und jetzt, 2010, im achtzehnten Jahr ihres Bestehens und mit ihrer neuen Single sind Tocotronic immer noch so viel jünger als all die öden Bauspar-Bands, die in den letzten Jahren mit deutschsprachigem Gesang zu quälen vermochten. Ich bin ihnen für so vieles dankbar. Das Beste aber ist: Mit dieser Band lassen sich sogar Jahreszeiten aushalten, die sich als Kompaniefeldwebel verkleidet haben und mit der Wiedervereinigung von Soundgarden drohen.