„There’s nothing wrong with nostalgia as long as it doesn’t get confused with history“
Francis Wheen, Autor „Strange Days Indeed“
Draußen vor der Tür steht das Neunziger-Revival. Es klopft und will hereingebeten werden. Ich schiebe die Gardinen beiseite, vorsichtig. Nichts Gutes ist zu sehen: Das Neunziger Revival sieht ziemlich armselig aus – wie das nun mal so ist mit Neunziger-Revivals. Es trägt kurze Hosen, ist arg gepierct und mit ästhetisch diskutablen Tätowierungen versehen. Das Haar hängt ihm länglich bis lang und in dezenter Verfilzung herab, zudem gebietet es über einen geflochtenen Kinnbart. Was will es bloß von mir? Hier gibt es weder ein vermatschtes Rockfestival, noch Neues von Rage Against The Machine. Das Neunziger-Revival soll anderswo hingehen – zu den nervigen Nachbarn zum Beispiel. Da kann es dann mit seinen verschlammten Doc Martens munter auf dem Teppich herumspringen und Rockzeichen mit der rechten Hand machen. Hier kommt es jedenfalls nicht rein. Soll es doch ruhig weiterklopfen. Hier ist nämlich Schluss mit Gestern. Zumindest was den heutigen Eintrag angeht.
Wer sich von den grellen Verheißungen der Zukunft aber noch zu sehr geblendet fühlt, der kann sich ja mit ein paar Einheiten guter, alter Gegenwart beschäftigen. Zugegeben: Die Gegenwart ist anstrengend. Sich das Knie böse an einem Tisch zu stoßen ist schlimmer, als sich vorgestern böse das Knie an einem Tisch gestoßen zu haben. Dennoch kann man angesichts der Gegenwart heutzutage ruhig mal gefühlsüberschwappt ausrufen: „Meine Güte, wie das Jahr schon wieder losgeht! Diese Vehemenz – toll!“.
Zumindest mit Popmusik befasste Menschen sind seit Silvester aus dem Feiern gar nicht mehr rausgekommen. Zuerst wurde Elvis Presleys 75. Geburtstag begangen. Was war da nicht alles los: Vor lauter Paraden, Galas, Museumseinweihungen, Straßensperrungen und Denkmal-Enthüllungen ist seine Plattenfirma gar nicht zur Veröffentlichung einer weiteren Best Of-Zusammenstellung gekommen. Komisch. Auch Minister zu Guttenberg und/oder Christian Neureuther/Rosi Mittermaier haben sich meines Wissens nicht zum Wiegenfeste des berühmten Tupeloniten geäußert. Auch das scheint mir seltsam. Alle anderen waren aber völlig aus dem Häuschen.
Getoppt wurden die Feierlichkeiten zu Elvis‘ 75. Geburtstag bereits am darauf folgenden Wochenende, als Herbert Grönemeyer, der Erfinder des Ruhrgebiets, zur Ehrung eben jener Region sein neues Lied zum Besten gab. Kurze Zwischenfrage an dieser Stelle: Warum ist der Grönemeyer-Ruhrgebiet-Ehrerbietungs-Song vor seiner Erstaufführung nicht wie zahllose andere unveröffentlichte Stücke auch als illegaler Download im Internet aufgetaucht? Einfache Antwort: Weil Herbert Grönemeyer-Fans Wichtigeres zu tun haben, als nicht so besonders gute neue Lieder ihres Helden vorab und kostenlos abzugreifen, wie wir Jugendlichen es auszudrücken pflegen. Herbert Grönemeyer-Fans haben zu tun, die kommen nicht zum illegalen Laden.
Aber zurück zum Lied: Im Grönemeyers Songtext gibt es Passagen, die ich mir am liebsten in meine heimische Braunkohlesammlung ritzen möchte: „Wie ein rauhes Wort dich trägt, weil dich hier kein Schaum erschlägt / Wo man nicht dem Schein erliegt, weil man nur auf Sein was gibt“.
Damit meint Grönemeyer wohl im Wesentlichen, daß man sich in einer Trinkhalle bei Duisburg besser nicht über den allzu sackigen Schaum auf seinem Latte Macchiato beschweren sollte, sofern man sich nicht im Zentrum eines zünftigen Backpfeifenkonzerts wiederfinden möchte.
Man könnte argumentieren, daß man sich als Sänger einer Ruhr-Hymne statt des gesunden Menschenverstehers und Wahl-Londoners Grönemeyer doch vielleicht besser Wolfgang Petry, das famose Duo Eisenpimmel oder irgendeine Tätowier-Rock-Band aus Castrop-Rauxel hätte besorgen sollen. Andererseits kann man Grönemeyer immerhin eines nicht vorwerfen: daß er „authentisch“ wäre. Dies führt mich zu einem Wunsch: Ich wäre eine Nano-Einheit glücklicher, wenn im hereinbrechenden Jahrzehnt das Wort „authentisch“ nicht mehr so oft benutzt würde. Vor allem nicht in Texten über Musik, die voll des Lobes von „authentischen Texten“ sprechen. Was soll das sein, ein „authentischer Text“? Meine Vorwürfe gegen das Wort sind vielfältig. Abgesehen davon, daß die Formulierung unsinnig ist (sollen das „glaubwürdige Texte“ sein? Autobiografische Texte? Texte, die den Eindruck erwecken, ihr Autor sei ein irrsinnig bodenständiger Typ, der eins zu eins und ungeschönt von seinem letzten Termin beim Urologen zu berichten weiß?) wünsche ich mir von Popmusik-Texten alles, nur nicht, daß sie „authentisch“ sind. Ich wünsche mir von Popmusiktexten das ziemliche Gegenteil: Ich wünsche mir stilvollen Blödsinn und ausgedachten Unfug, der sich anhört, als sei er ein bisschen mehr: „Papa’s got a brand new bag“. „Are we human or are we dancer?“. „Sing this corrosion to me“. So etwas.
Und wo ich schon einen Wunsch geäußert habe – ich hätte da noch ein paar für das kommende Jahrzehnt:
Daß Liam Gallagher noch mal über den Bandnamen Oasis 2.0 nachdenkt.
Daß nicht mehr so viel in allen Magazinen über Megan Fox berichtet wird, von der ich immer noch nicht genau weiß, was sie eigentlich kann.
Daß englischsprachige Musikzeitschriften aufhören, dem eigentlichen Blatt öde CDs mit tausendfach gehörten Northern Soul-Stücken beizulegen. Oder noch schlimmer: CDs der Marke „The Songs that influenced Bob Dylan“ oder „The Songs that influenced The Beatles“ oder „The Songs that influenced The Rolling Stones“: Es sind im Kern dieselben fünfzehn Songs, und meistens ist Chuck Berry dabei.
Daß Musikjournalisten aufhören im Zusammenhang mit Plattenproduzenten die Phrase „saß auch schon bei XY an den Reglern“ zu verwenden.
Daß folgende Bands eine möglichst lange Pause einlegen: Franz Ferdinand, The Gossip, Razorlight, Keane, Snow Patrol. Bis auf den Fall der Erstgenannten hätte ich auch nichts dagegen, wenn sich die Bands statt nur eine Pause zu machen sogleich brausetablettenartig auflösten.
Daß Outkast mal wieder eine Platte machen.
Daß die Spex sich wieder traut, echte Kritiken zu veröffentlichen.
Daß David Bowie ein tolles Spätwerk hinlegt (von mir aus mit Rick Rubin, der ja auch schon bei Johnny Cash „an den Reglern saß“; es dürfen gerne auch „authentische Texte“ auf der Platte sein).
Vor allem aber wünsche ich mir, daß das blöde Neunziger-Revival endlich aufhört zu klopfen. Bei dem Krach ist es völlig unmöglich, sich auf wichtigere Dinge zu konzentrieren. Das Ruhrgebiet zum Beispiel. Oder Chuck Berry. Oder die Gegenwart.