Eigentlich wollte ich im dieswöchigen Eintrag ja die Geschichte von dem Augenarzt erzählen, der in seiner Freizeit solch außerordentliche Freude an deutschem Mittelalter-Folkrock fand, daß er eines Tages jeglicher Konvention entsagte und das an seiner Praxistür prangende „AUGENARZT“-Schild durch eines mit der Aufschrift „OUGENARZT“ ersetzte. Es sollte ein Text werden, der zum Integrieren der persönlichen popmusikalischen Vorlieben in den Berufsalltag ermutigen sollte. Aber dann machte die Tagesaktualität mir einen Strich durch die Rechnung. Und zwar in Form von Nena.
Nena ist, wie alle Menschen, die auch nur gelegentlich den Boulevard des Boulevards beschreiten, wissen dürften, in der letzten Woche scheinbar zur Oma der Nation gewählt geworden. Mit 49. Seither recken sich der quirligen Hagenerin allerorts Mikrofone entgegen, in die sie doch bitte etwas zu den Themen „Alter“ und/oder „Oma“ hineinquirlen möge. Nena tut das auch sehr gerne, denn sie ist eine überzeugte Überallmitmischerin. Zudem ist sie eine Jugendversteherin.
Meine Oma war da anders.
Sie besaß die Gabe, alle ihr entgegenwehenden Anzeichen von jugendlicher Andersartigkeit mit äußerst knappen Kommentaren in Frage zu stellen. So pflegte sie zu jener Zeit, als ich pubertätsprall auf dem Sektor der „provozierenden Kleidung pseudo-subkultureller Prägung“ dilettierte und mir im Zuge dessen die Hosen zerriss, tagsüber Schlafanzugoberteile trug und mir zahllose Tücher an die Gürtelschlaufen knotete, stets zu fragen: „Sag mal, was willst du damit eigentlich aussagen?“. Damit hatte sie die alles entscheidende Frage gestellt. Denn natürlich wollte ich mit meinem aus unzähligen einander widersprechenden Klamotten-Codes zusammengeflickten Outfit etwas sagen. Bloß was? Ich konnte zwar befriedigt zur Kenntnis nehmen, daß mir mit meiner Gewandung eine gewisse Provokation gelungen war (ich erreichte damals in meinem Heimatdorf mit meiner albernen Garderobe eine beträchtliche Popularität), allerdings hätte ich nicht sagen können, was ich damit auszudrücken trachtete. Zumindest damals nicht.
Meine Kleidung war aber auch ein ziemlich zusammengebastelter Quatsch. Ich trug Paisley-Hemden (oder besser: Paisley-Schlafanzugoberteile), die meine grundsätzliche Begeisterung für psychedelische Musik und die mit ihr einhergehenden Freizeitgestaltungsoptionen zum Ausdruck bringen sollten. Allerdings sahen meine Haare gar nicht nach den Sechzigern aus, sondern vielmehr, als seien sie in einem technisch äußerst unversierten Fachsalon für Test-Frisuren, die eine Schnittmenge zwischen „punkig“ und „wavig“ bilden sollten, zusammenfrisiert worden: Ich hörte damals eben auch die Einstürzenden Neubauten. Meine Hosen wiederum erinnerten an etwas, was man häufig im Umfeld von Altkleidercontainern vorfinden kann. Wer mich sah, musste sich wohl denken: „Oje, wie sieht der denn aus? Der muss wohl mal zum Ougenarzt!“.
Heute weiß ich natürlich, was ich damals mit meiner Klamotte sagen wollte. Ich wollte in etwa dasselbe sagen, was die meisten Menschen wohl sagen wollten, die sich je auf provinziellem Grund abseits fühlten. Ich wollte sagen: „Welt, du sonderbarer Ort mit all deinem Quatsch! Sieh her! Hier ist einer, der fühlst sich so ausgestoßen, daß er in Klamotten herumläuft, die überhaupt nicht zusammen passen!“.
„Das hat doch gar nichts mit Musik zu tun!“, höre ich einige Leser grummeln. Doch das hat es sehr wohl. Es hat sogar deutlich mehr mit Musik zu tun als manche Musik. Gestern zum Beispiel hörte ich beim Umherfahren in meinem kleinen roten Zahnarzthelferinnenauto die Gruppe Fettes Brot. Die Gruppe Fettes Brot ist ja durchaus typisch für Deutschland: Die Musik klingt immer nach Kindergeburtstagsanimation, aber die Menschen hinter den Stücken sind „irre sympathisch, wenn man sie mal kennenlernt“. Gleiches lässt sich vermutlich auch über Silbermond sagen. Ich will aber erstens gar nicht alle deutschen Bands kennenlernen, um festzustellen, daß sie „irre sympathisch“ oder „total nett“ sind. Ich habe gar keine Zeit für so etwas und halte das Kennenlernen von Musikern für die Beurteilung ihrer Musik ohnehin für völlig unerheblich. Zudem scheint mir, daß in anderen Ländern weniger Wert darauf gelegt wird, wie sympathisch ein Musiker ist. Britische Helmfrisurenträger wie der ehemalige Stone Roses-Mann Ian Brown oder auch die Gebrüder Gallagher sind nach landläufiger Vorstellung sicher keineswegs „sympathisch“ oder „total nett“. Ich glaube, Ian Brown wäre durchaus dazu in der Lage, einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern den Parkplatz wegzuschnappen. Nicht, daß ich das belegen könnte! Nachher steht morgen in irgendeinem Helmfrisurenträger-Fanzine „Blogger Pfeil rügt Ian Brown für mangelndes Sozialverhalten“. Oder noch schlimmer: „Blogger Pfeil hat Termin mit Ian Browns Faust nach verleumderischem Text“. Ich kann das mit Ian Brown wirklich nicht belegen, ich halte es nur für möglich.
Die rappenden Parkplatzsensibilisten Fettes Brot jedenfalls haben ihren alten Hit „Jein“ – in meinen Ohren eines der wenigen anständigen Pop-Rap-Stücke der Neunziger, das zudem noch in Würde gealtert ist – einer Neubearbeitung unterzogen und als „Jein 2010″ herausgebracht. Blöd ist bloß, daß das Stück in der „Jein 2010″-Fassung aber eben gar nicht nach 2010 klingt. Vielmehr tönt der hübsche Neunziger-Song plötzlich wie genau die fiese Neunziger-Gruselmusik, zu der er einst eine halbwegs angenehme Alternative bot. Ist das noch postmodern oder einfach nur Unfug? Mehr dazu demnächst in meinem Vortrag „Nena, Fettes Brot, die Postmoderne und der Unfug“.
Nena habe ich übrigens mal im Zusammenhang eines Interviews getroffen. Sie war damals keinesfalls nett im Sinne der gängigen deutschen Definition des Wortes. Ich fand das aber nicht schlimm. Ihr hätte ich eher anderes vorzuwerfen, aber es gibt Wichtigeres als sich über Nena oder Fettes Brot zu ärgern. Zum Beispiel die schönen neuen Alben von Beach House, Eels, Tindersticks und Robert Rotifer. Oh, letztere CD, so sehe ich eben beim dritten Hingucken, erscheint erst im März. Pardon. Ich muss wohl zum Ougenarzt. Ich komme aber nicht weg: Ian Brown hat mich zugeparkt. Und nicht etwa, weil ich ihm schlechte Parkplatz-Manieren unterstellt habe, sondern wegen der Bezeichnung „Helmfrisurträger“.
Ich habe übrigens keineswegs Interesse daran, aus Gründen der Popularitätssteigerung Streit mit einem prominenten Rockstar zu haben. Es ist nicht schön, einen Menschen, den man jahrelang auf Fotos gesehen hat und dessen Werk man womöglich einigermaßen schätzt, plötzlich ausrasten zu sehen. Ich habe das zum Glück nur einmal erlebt. Vor vielen Jahren war ich zugegen, als der berühmte Oberkörperherzeiger Iggy Pop einen Ausraster bekam. Ich kann nur sagen: Man will nicht dabei sein, wenn Iggy Pop einen Ausraster bekommt. Der Mann ist strenger als meine Oma! Aber erstens will ich hier nicht den Anekdotenonkel geben und zweitens führte das jetzt ohnehin zu weit. Der Text war nämlich eigentlich längst zu Ende. Spätestens oben beim Wort „Helmfrisurenträger“.