Das Pop-Tagebuch

Das Pop-Tagebuch

Popmusik, so ist verstärkt zu hören, ist ein von der totalen Entwertung bedrohtes Kulturgut. Und wie fast alles, was keinen Wert mehr hat, ist auch

Das schönste „Sie ist weg“ des Jahres – Zwischen Wolfgang Welt und „Heile Welt“

Thema diesmal: Turner Cody, Wolfgang Welt, Phillip Goodhand-Tait und die Abgründe des Achtzigerjahre-Nachwuchs-Journalismus

Es war im Jahr 1982, ich war kaum zwölf Jahre alt, da las ich in einer Musikzeitschrift einen Artikel des Autors Wolfgang Welt. Welt schilderte darin seinen Besuch bei drei Vertretern der so genannten Neuen Deutschen Welle. Mag sein, daß er damals für den Artikel dem Taschenlampen-Markus begegnete, vielleicht war er auch daheim bei der Band UKW, ganz sicher bin ich mir nur noch, daß er Hubert Kah traf – und diesen als ziemlichen Wichtigtuer und Popanz entlarvte. Ich verschlang den Artikel mit Begeisterung. Noch nie hatte ich etwas so Kaltschnäuziges und dennoch Beseeltes gelesen. Seither stand für mich fest, daß ich über Musik schreiben wollte. Manchmal frage ich mich, ob es nicht ein wenig sonderbar ist, daß ich tatsächlich den Berufswunsch meiner Kindheit verwirklicht habe. Vielleicht würde ich das anders sehen, wenn ich schon immer Stuntman, militanter Pflanzenschützer oder Schauwerbegestalter hätte werden wollen.

Meinen ersten Versuch schreiberisch tätig zu werden, unternahm ich jedoch schon früher, vor meiner Begegnung mit Wolfgang Welt. Mit etwa zehn  Jahren gab ich für kurze Zeit ein von mir selbst zusammengetackertes Blättchen heraus, das überwiegend aus Artikeln bestand, die ich aus der Hörzu ausgeschnitten und mit eigenen Filzstift-Ergänzungen versehen hatte. Der Titel der Publikation, die eine Auflagenstärke von je einem Heft hatte und deren einzige Abnehmer meine Eltern waren, lautete „Heile Welt“. Zwischen „Heile Welt“ und Wolfgang Welt liegen zwar durchaus, nun ja: Welten, und auch ich weiß inzwischen, daß eine heile Welt wohl nicht existiert, aber mit zehn Jahren (kurz vor meiner finalen popmusikalischen Erweckung) ging es mir publizistisch wohl noch um das Stabilisieren einer ebensolchen. Ich besitze die beiden einzigen Ausgaben noch heute, sie legen neben meiner Tastatur, während ich diese Zeilen schreibe.
Es fanden sich in „Heile Welt“ neben dem ausgeschnipselten Material aber auch von mir selbst erstellte redaktionelle Beiträge, so zum Beispiel ein Lili Palmer-Preisausschreiben (!) , eine Gesundheitsseite mit dem Titel „Wie halte ich mich dünn?“ (Tipp: „Morgens und abends VIEL turnen.“) und ein Mode-Special über Damen-Badebekleidung. Höhepunkt meiner frühen journalistischen Betätigung war jedoch wohl der Psychotest „Sind Sie misstrauisch?“. Dieser bestand aus einem kenntnisreich entwickelten Fragenkatalog, dessen zwingenden Scharfsinn ich anhand des folgenden Auszugs dokumentieren will:

Wenn Sie einen Mann vor der Tür stehen sehen, der etwas verkaufen will – was tun Sie dann?

A)    Ich lehne sofort ab – 0 Punkte
B)    Ich teste es – 4 Punkte

Wenn Sie eine Schallplatte kaufen – was tun Sie?

A)    Ich schaue mir die Lieder auf der Rückseite an. Haben sie einen guten Ausdruck, so kaufe ich sie – 2 Punkte
B)    Ich höre mir die Lieder an – O Punkte

Mir gefällt besonders die Stelle mit dem „guten Ausdruck“. Ich sollte die Formulierung mal wieder irgendwo benutzen: Vampire Weekend haben einen guten Ausdruck, man mag das Ohr kaum abwenden. So in der Art.
Den völlig einmaligen Ausdruck Wolfgang Welts wiederum konnte ich am vergangenen Donnerstag im Rahmen einer Autorenlesung mal wieder bestaunen. Welt las Altes (etwa seinen wüsten Heinz Rudolf Kunze-Artikel, in dem er diesen als „eine Art singenden Erhard Eppler“ bezeichnet), aber auch neuere Texte, die aus der Zeit nach seinem ersten Psychiatrie-Aufenthalt stammen. Da nämlich kann einen die Musikschreiberei hinbringen, zumindest wenn man Welts wikipedia-Eintrag Glauben schenken darf, der besagt, daß der Autor in seinen Texten seinen „Weg durch die Musikszene der 1980er-Jahre“ beschreibt, „der ihn schließlich in die Psychiatrie führte“. Heute arbeitet Welt als Pförtner am Schauspielhaus Bochum.

Begleitet wurde Welt an besagtem Abend von seinem guten Freund, dem englischen Songschreiber Phillip Goodhand-Tait, von dem ich bis dato schändlicherweise noch nie gehört hatte. Goodhand-Tait, 65, hat in den Siebzigern einige Platten veröffentlicht, die klingen wie Elton John trifft Rod McKuen mit einer Extraportion Schulterzucken. Seine Alben „Oceans Away“ und „Teaching An Old Dog New Tricks“ sind üppig instrumentiert und erinnern manchmal gar an die Werke Jimmy Webbs. An besagtem Abend saß Goodhand-Tait, weißaarig und mit einem selten freundlichen Kindergesicht, hinter einer Begleitautomatik-Orgel und spielte, sobald Welt einer Pause bedurfte, eigene Songs, aber auch Fremdmaterial wie den Buddy Holly-Hit „Heartbeat“. Niemals hätte ich gedacht, daß man mit einem Begleitautomatik-Keyboard und einer brüchigen hohen Stimme so berührende Musik herstellen kann. Ich kaufte mir nach Ende der Lesung gleich zwei Goodhand-Tait-CDs, und seit ich nun täglich „Oceans Away“ oder „Gabrielle“ höre, ist mein Leben noch freudvoller geworden, auch mein „Ausdruck“ ist besser.

Einen wunderbaren Ausdruck hat auch mein Lieblings-Brooklyner Turner Cody, dessen neues Album „Gangbusters“ endlich erschienen ist. Bislang hatte ich auf Codys Alben immer nur höchstens ein, zwei Songs gefunden, die mir sehr gefielen, aber diesmal ist ihm wirklich ein komplettes rundes Album gelungen. Cody nähert sich dem zuletzt vielbeackerten Genre Folk-Pop mit dem Gestus des Troubadours. Ähnlich wie seine Freunde von Herman Dune, aber poetisch noch virtuoser. Mir wurde das Album bereits im letzten Jahr zugespielt, und diese wunderbar fließenden Songs voll faszinierender, tröpfelnder Reime, vorgetragen in einer Art New Yorker Off-Bühnen-Belcanto, haben meinen letzten Frühling so ausgiebig beschallt, daß mir vor Begeisterung täglich mehrere Beatnik-Bärte wuchsen. Es seien als Beispiel für die nonchalanten, dabei aber immer berührenden Texte Codys die ersten zwei Strophen des herzzerquetschend schönen, von einem exquisiten Streicher-Arrangement gekrönten „Lost As Lost Can Be“ zitiert:

I don’t want no calls or company
I walk the halls and find the key
I fall asleep and sleep til three
I am as lost as lost can be

She’s gone for good, she’s gone from me
And in her place there is a breeze
It sings her name and knocks my knees
I am as lost as lost can be

Mit Leichtigkeit der „She’s gone“-Song des Jahres.
Sollten Sie sich in diesem Jahr nur eine Songschreiber-Platte kaufen wollen, lassen Sie es diese sein. Ansonsten kaufen Sie mir bitte die alten „Heile Welt“-Ausgaben zum Sammlerwert von 70 Euro ab, damit ich mir wiederum möglichst viele Produkte von Wolfgang Welt und Phillip Goodhand-Tatit kaufen kann. Schauen Sie sich bitte außerdem möglichst viele Coverrückseiten an (geht nicht bei Itunes oder der Alles-umsonst-Laderampe), studieren Sie die Songtitel und finden Sie heraus, ob diese einen „guten Ausdruck“ haben!

PS: Weite Teile dieses Blogs habe ich bei Helene Hegemann abgeschrieben. Fürs nächste Mal kündige ich aus kommerziellen Erwägungen und um meinen Ruf als Günther Wallraff der Popkritik zu festigen eine knallharte Erlebnisreportage aus der Techno-Szene an. Ich werde hierfür incognito in Berliner Clubs recherchieren, die Namen wie „Fürstenbrunn“ oder „Gräfenbroich“ haben.