Das Pop-Tagebuch

Das Pop-Tagebuch

Popmusik, so ist verstärkt zu hören, ist ein von der totalen Entwertung bedrohtes Kulturgut. Und wie fast alles, was keinen Wert mehr hat, ist auch

Mit den Sternen in die Radarfalle des Daseins

Diesmal: anstrengende Musik an unanstrengendem Orte. Metal-Veteranen, die zu Tränensäcken rühren. Jeff Bridges als Country-Depardieu. Und eine deutsche Band, die das, was Madonna kann, schon lange kann – nur nicht mit den Haaren.

Am Wochenende fand ich mich in hedonistischer Pose bei freundlichen Freunden auf deren Sofa wieder. Das angeregte Gespräch hatte gerade das Themenfeld „HBO-Serien“ zurückgelassen und sich dem Humor Will Ferrells zugewendet, da erklangen plötzlich aus dem Nebenzimmer, von wo eben noch wohlfeile Musik herübergeweht kam, fiese Störgeräusche aus den Boxen der Musikanlage. Ein penetrantes „Deng-deng-deng-deng-deng-deng-deng“ war zu vernehmen, und Unwohlsein kam auf. „Da ist wohl irgendein Störgeräusch auf dem illegalen Download“, raunte jemand kennerisch. Niemals werde ich jedoch den Ausspruch des Gastgebers vergessen, der anlässlich dieses Mißstandes zwar aufstand, um nach dem Rechten zu sehen, dabei jedoch, ohne eine Miene zu verziehen, zu bedenken gab: „Es könnten aber auch die Fuck Buttons sein“.
Mit anderen Worten: Es gibt eine Band – namentlich die Fuck Buttons -, deren Musik klingt wie ein kaputter oder gezielt mit Störgeräuschen versehener illegaler Download. Oder noch anders: Menschen erwerben tatsächlich freiwillig Musik, die an defekte Downloads gemahnt. Und zwar um diese auf Mix-Dateien zu packen, die bei Rumhängeabenden im Hintergrund laufen. Ich finde das faszinierend. Aber auch beruhigend: Es möge bitte nie wieder jemand behaupten, Avantgarde fände nur in Berliner Kellerkatakomben oder im Umfeld verrückt gewordener Modedesigner statt.
Es war übrigens wirklich etwas kaputt, es waren nicht die Fuck Buttons. Die Musik eben dieser Band wurde den sich nunmehr in Staunlaune befindlichen Gästen dann aber sogleich vorgespielt, und es muss gesagt sein: Die Fuck Buttons klingen überhaupt nicht wie ein kaputtes Gerät. Trotzdem möchte ich ihre Musik erst wieder hören, wenn ich mal wieder eine David Lynch-Ausstellung besuche.

Genau dies tat ich vor einigen Wochen. Im Max Ernst-Museum zu Brühl sind nämlich derzeit äußerst unterschiedliche Arbeiten des anbetungswürdig frisierten Regisseurs zu sehen. Vieles ist genau jene Sorte Industrial-Düster-Käse, mit dem man mich mein Leben lang wird jagen können. Ich werde mich immer wieder an der nächstbesten Schlager-Jukebox festhalten und „Freio!“ brüllen. Manches war aber auch sehr schön: etwa die Schneemänner, die Lynch vor amerikanischen Häusern fotografierte. Die ganze Ausstellung ist übrigens – und dies rechtfertigt ihre Erwähnung an dieser Stelle – mit einer Art Akustik-Teppich unterlegt, den der umherstreunende Besucher an diversen Stationen beeinflussen kann. Immer wieder kann man auf Knöpfe drücken, und zu dem sonoren Grundbrummen gesellt sich ein eigenhändig angetriggertes Geräusch. Nicht auszudenken, dachte ich, wie es wäre, wenn man dasselbe Prinzip in einer Klang-Installation anwenden würde, die sich auf den harmonischen und rhythmischen Strukturen der Popmusik gründet. Bestimmt hat irgendjemand solches aber schon mal gemacht. Alles, was mir einfällt, hat schon mal jemand gemacht.

Wer aber unbedingt mal eine ganz neue Erfahrung machen möchte, für den habe ich etwas:
Wann haben Sie zuletzt anlässlich eines Dokumentarfilms über eine kanadische Heavy Metal-Band weinend auf dem Sofa gesessen? Ich hatte vor wenigen Tagen das Vergnügen, diese Erfahrung machen zu dürfen, als ich mir den Film „Anvil!“ ansah. Der Film (Kinostart: 11.03.) erzählt die Geschichte der seit 1984  notorisch erfolglosen gleichnamigen Band, die trotz massiver Rückschläge ihren Traum von der Rockstarkarriere nicht aufgeben will. Hielt ich die beiden Ur-Mitglieder Steve „Lips“ Kudlow und Robb Reiner zu Anfang des Films noch für zwei von Haarausfall und Bierbauch bedrohte Rockclowns in ihren Fünfzigern, war ich schon bald zutiefst gerührt von der Leidenschaft und dem Idealismus der beiden Röhrenhosenträger. Ich war gar so ergriffen von dem Film, daß ich mir darauf gleich auf der Homepage der Band das letzte Album bestellte. Wann genau ich das hören soll, ist mir zwar nicht klar – vielleicht beim Anfertigen meiner Steuererklärung? – , aber ich werde schon noch die sittliche Reife für diese Musik erlangen. Ein toller Film über Leidenschaft, Freundschaft, Treue und zwei, drei andere Dinge, auf die es im Leben ankommt. Man sollte mögliche Metal-Aversionen der Besichtigung dieses großartigen Werkes nicht im Wege herumstehen lassen.

Bei anderen Platten weiß ich durchaus, wann ich sie hören soll. Letzte Woche erschien das neue Album von Die Sterne, jener sympathischen ewigen Schülerband, über die ich hier mal in Anlehnung an unzählige Madonna-Ehrerbietungsartikel behaupten möchte, sie habe sich mit eben dieser neuen Platte „neu erfunden“. Normalerweise behauptet man ja in der Regel immer dann von Menschen, daß sie sich neu erfunden hätten, wenn diese komische neue Haare haben. Bei den Sternen ist das anders. Um Haare geht es hier nur am Rande (wobei es ja immer irgendwie um Haare geht). „24/7″ ist eine großartige Ü-40-Discoparty für Menschen, die zu cool und zu deprimiert für Indierock oder ähnlichen Quatsch sind. Der Bass tänzelt zwar in bewährter Sixties-Beat-Manier, aber die Beats – wie wir Jugendlichen es nennen -, darunter sind, Produzent Mathias Modica sei Dank, diesmal wirklich von einigem Karacho. Das Beste, was ich seit Ewigkeiten zum lästigen Thema „Rockband macht Clubmusik“ gehört habe. „Wohin zur Hölle/mit den Depressionen/Ich gehe in die Disco/Ich will da wohnen“ singt Frank Spilker in „Depressionen aus der Hölle“. Die perfekte Musik, um dazu auf der Rückfahrt vom Psychiater mit überhöhter Geschwindigkeit geblitzt zu werden. Mit dem Mofa.

Fahren Jugendliche eigentlich noch Mofa? Oder ist das heute ein reines Fensterreiniger-Fortbewegungsmittel geworden? Während ich darauf warte, daß mir selbst eine Antwort auf diese Frage einfällt, empfehle ich schnell noch einen weiteren Film mit Musik-Bezug: Jeff Bridges‘ Part als angeschlagener Country-Sänger in „Crazy Heart“ (Start: 04.03.) ist tatsächlich genau die „Rolle seines Lebens“, als die sie überall bezeichnet wird. Und das bei einer Karriere, die nicht eben arm an Lebensrollen war. Jeff Bridges singt und spielt (die teilweise vom großen T-Bone Burnett geschriebenen) Songs selbst. Gelegentlich erinnert der Film stark an eine amerikanistische Variante des famosen Depardieu-Streifens „Chanson D’Amour“: Hier wie dort wird für die Musik gelebt, aber im Leben böse abgeschmiert. Die größte Leistung von „Crazy Heart“ aber besteht wohl darin, daß er das heutige Country-Milieu nicht als total dämlich darstellt, sondern bei aller Freude an Übertreibungen Platz für Feinheiten lässt. Dies geschieht sehr schön in der Rolle, die Colin Farrell in dem Film bekleidet. Farell spielt den erfolgreichen, glatten Gegenpart zu Bridges. Wenn Ersterer Kris Kristofferson ist, so ist Letzterer vielleicht Dwight Yoakam. Doch diese Glätte bedeutet nicht, daß Farrells Charakter im Film (er trägt Pferdeschwanz und einen baumelnden Ohrschmuck) als Clown entlarvt würde. „Crazy Heart“ begeht nicht den Fehler, urwüchsigen pseudo-authentischen Säufer-Country gegen die slicke Variante auszuspielen und zeigt stattdessen: Glatter Nashville-Country hat nichts „Unauthentisches“. Nein, glatter Nashville-Country ist famose Musik, um damit David Lynch-Ausstellungen zu untermalen. Letzteres wollte ich nur denken, nicht schreiben, aber jetzt ist es passiert.

Aber das ist mein Problem. Ihnen, lieber Leser, wünsche ich einstweilen viel Spaß mit Jeff Bridges und seinen Freunden – und hüten Sie sich vor Menschen, die Sie fragen: „Ist das eine Fuck Buttons-CD auf Ihrem Mofa-Gepäckträger oder freuen Sie sich nur mich zu sehen?“.